Tatjana
und Vassili leben schon lange in Deutschland. Sie kamen aus Sibirien,
ganz weit im Osten, und lebten sehr, sehr einfach und keineswegs
anerkannt in der Nähe von W. Kärglicher Lohn, große Armut und
immer ziemlich stark Ausländer. So wie heute auch als
deutschstämmige Ausländer in Deutschland. Wir zwei bei den Kartoffeln, sagen sie sich oft. Die Russen nennen Deutsche Kartoffeln, so wie die Amerikaner sie Krauts getauft haben. Sie haben sich über
EverDarling kennen gelernt und verabredeten sich spontan zum Fasching an
der Mosel. Der Rosenmontagszug in Nittel wurde ihnen empfohlen und so
trafen sie sich um 10 Uhr am Bahnhof in Trier, um den letzten Weg
gemeinsam zu fahren. Sie freuten sich sehr, sich zu sehen.
Vassili
hatte sich als rosaroter Panther, in einem 100%-Polyester-Gewand
steckend, verkleidet, was bei den Temperaturen nicht verkehrt war,
aber doch ziemlich warm, weil es an der Mosel ja bekanntermaßen
drunter und drüber geht. Tatjana war eine liebreizende Ballerina...
Was er zu viel anhatte, fehlte bei ihr deutlich... Sie konnte zwar
Bein zeigen, das war nicht das Problem... Schöne wohlgeformte Beine
mit einer Faschingsstrumpfhose verziert, die sich nach oben in einer
weichen Hüfte verloren, darüber ein zartviolettes Ballettkleidchen
mit Rüschenrand. Ihre schwarzen Haare und blauen Augen verliehen ihr
einen seltenen Reiz. Das Kleid war zu dünn. Was auch immer sie
drunter trug, es konnte nicht viel sein, denn auch der Oberkörper
zeigte eine natürliche Schlankheit, der Busen war echt... nein,
nicht ausgestopft. In der Hand hielt sie ein kleines
Silberlurextäschchen, in dem alles war, was sie heute noch brauchte:
Zigaretten, Flaschenöffner, Feuerzeug, drei Kondome,
Papiertaschentücher und Kleingeld. Vassili hatte sich in seinem
Kostüm vorne eine Tasche eingenäht, in der er – ja, was für ein
Zufall! - seine Zigaretten, Flaschenöffner, Feuerzeug, drei Kondome
und Papiertaschentücher lagerte... Kleingeld auch ein wenig … Er
selbst hatte seine roten Jeans an und ein dickes Fleeceshirt.
In
Trier suchten sie den Zug nach Saarbrücken, der sie in Nittel
absetzen sollte. Sie stiegen ein und fuhren die wundervolle Strecke
die Mosel entlang nach Nittel. Nicht sonderlich groß, 1900 Einwohner
mit den eingemeindeten Ortsteilen Köllig und Rehlingen, die das nie
wollten, denn Rehlinger sind Rehlinger, und Kölliger Kölliger. Hier
leben viele Winzerfamilien, das Dorf sieht aus wie ein Wanderschuh,
der sich den Berg hinauf in die Weinberge erstreckt. Die reizvolle
Landschaft wird mit hohen Dolomit- und Kalkfelsen am oberen Rand des
eindrucksvollen Panoramas umrahmt. Wie eine Steinkrone sitzen die
Felsen auf den Gipfeln der Hänge. Vom Fuß der Felsen ragen die
Weinberge bis zur Mosel und zum Dorf hinab.
Nittel
veranstaltet wie jedes Jahr einen Rosenmontagsumzug, der fast einen
Kilometer lang ist. Er schlängelt sich so langsam und behäbig wie
eine Python den Berg herunter, ist ordentlich bunt und dröhnt und
scheppert. Die vielen herumwuselnden Arme der Schlange verteilen
Wein, Sekt, Glühwein, Chips und Popcorn, Schnittchen, Bonbons,
Narrenkappen und einiges mehr ... Und sie tauchen alles in Konfettis.
Jeder Zuschauer zahlt einen kleinen Beitrag und bekommt alles gratis
… So auch Vassili und Tatjana, die sich kaum in den Zug eingekauft
mittels „Trinkobolus“ voll in die Lebensfreude stürzten und den
köstlichen Elbling in großen Mengen zu trinken begannen. Elbling
gibt es an der Mosel schon 2000 Jahre, weil schon die Römer diese
uralte Rebsorte anbauten und pflegten und sich an ihrem vergorenen
Saft stärkten. Elbling schmeckt nach Mosel, Weinberg, Muschelkalk,
Liebe: lebendig, rassig, anregend und dabei leicht bekömmlich für
einen unbeschwerten Genuss. Gerne trinkt man ihn über den Genuss zum
Durst hin und zurück in vielen Schüben.
Vassili und Tatjana
begannen immer mehr zu schunkeln, zu tanzen, sich neue Beute aus dem
Zug zu besorgen, liefen um die Umzugswagen herum und sammelten auf
oder nahmen entgegen, was ging. Das Tröten nahm überhand, sie
stürzten die Becher, jubelten und ließen sich das goldige Nass über
die Lippen und das Gesicht laufen. Die Küsse wurden immer heißer,
die Blicke glühender, der Wein immer besser. Zu allem Überfluss kam
noch ein Luxemburger Sektwagen vorbei. Gezogen von einem riesigen
Traktor in der Preisklasse bis 500.000 EUR. Es gab Crémant bis zum
Abwinken. Die beiden hängten sich ein und stürmten dem Wagen
entgegen. Doch kaum war der Crémant ausgeschenkt, versaute eine
Konfettiwerferin in giftigem Grün den Genuss durch eine Handvoll
Konfettis in Vassilis Becher. Enttäuscht besorgten sich die
Trunkenen eine neue Füllung und schon wieder wurde das Trinken
verwehrt – Konfettis, dieses Mal weiße, landeten in dem edlen
Getränk. Auch der dritte Becher wurde das Opfer der verrückt
herumwirbelnden Faschingsgeister, die nur noch Konfettis auszuspucken
schienen. Erst als der Gesandte des Großherzogs – ein riesiger
Fendt 900 csi in edlem Schwarz mit Silberlackierung und Chromteilen -
davon rollte, kehrte wieder Ruhe ein. Den vierten Becher konnten sie
schließlich ganz in die Menge retten, um ihn dort gierig zu
leeren... Die Welt in Deutschland war plötzlich schön, es machte so
Spaß mit den Zuschauern zu toben und zu tanzen, zu trinken und sich
in die Arme zu fallen... Als das Ende des Zuges nahte, nicht ohne
vorher noch drei Becher Elbling getrunken zu haben, sahen Tatjana und
Vassili, wie die Menge eine Straße ins Dorf hinunterströmte. Sie
folgten den Menschen und sahen, dass sie unten die Möglichkeit
hatten, noch mal den halben Zug mitzuerleben und noch einmal
ungestörte Genießer des Luxemburger Crémants zu werden... Der Tag
bekam eine gewaltige Biegsamkeit, die Beine tanzten alleine, und
Vassili küsste und umarmte seine Tatjana immer heftiger. Sie
erwiderte seine Liebe mit langanhaltenden Küssen ...
Als
auch das zweite Elbling-Tsunami die beiden Liebenden überspült
hatte, war den beiden, als ob sie ein riesiges Strohlager bräuchten
zum Ausruhen vor ihrem heldenhaften Sturm auf die nicht mehr
vorhandene Bastille des anderen. Sie wankten an die Mosel und legten
sich ans Ufer. Die Kälte machte ihnen schon lange nichts mehr. Schön
war es hier, die Flussreiher und tutenden Frachter, der Rosenmontag,
die sich verlaufende Menge, die zumeist im Gasthof oder dem
Bürgersaal weiterfeierte ... die Hand des anderen umfassend... Als
es zu kalt wurde, schlug Vassili vor, Tatjana solle zu ihm in den
Panther kriechen. Tatjana konnte nicht mehr darüber nachdenken und
sie wollte es auch schon lange nicht mehr. Sie verschwand hinter dem
Reißverschluss, bis nichts mehr von ihr zu sehen war. Ob an diesem
kalten, aber wohl glückseligen Abend noch irgend etwas Großes
zwischen ihnen passierte und wo sie gelandet sind, wissen nur die Flussreiher, die mit klassischer Formation und heftigem Flügelschlag sehr dicht über dem Wasser an ihnen vorbeizogen...