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Donnerstag, 27. Oktober 2016

TERRE DES FEMMES: Grauenhafte Unterdrückung von Mädchen und Frauen durch die Radikalen in Syrien

Syrische Frauen

Alle fünf Minuten eine Rakete über dem Kopf

Gespräch von Manon Glathe mit TERRE DES FEMMES-Referentin Dr. Abir Alhaj Mawas - Referentin im "Referat Flucht und Frauenrechte"


Der Bürgerkrieg in Syrien hat sich in den letzten fünf Jahren zu einer unmenschlichen Belastung für die Menschen vor Ort entwickelt. Dr. Mawas erlebte die vergangenen fünf Jahre in Aleppo und kam Anfang Oktober nach Deutschland, um bei TERRE DES FEMMES für das Referat Flucht und Frauenrechte zu arbeiten.

„Drei Jahre ohne Strom, drei Jahre ohne Internet, Monate lange ohne Wasser, alle fünf Minuten eine Rakete über dem Kopf. Das ist Terror“, berichtet sie und fügt hinzu, dass die IS-Kämpfer für die Strom- und Wasserunterbrechungen in ihrem Stadtteil verantwortlich seien. Viele Menschen seien unvorstellbaren Grausamkeiten ausgesetzt. „Vor allem in den Gebieten der radikalen Islamisten sind die Frauen stark belastet. Sie werden diskriminiert, unter Druck gesetzt und müssen sich komplett verschleiern. Selbst kleine Mädchen dürfen nicht ohne Kopftuch auf die Straße gehen.“ Unter der Terrorherrschaft des IS sei ein selbstbestimmtes Leben unmöglich. Mädchen und Frauen dürften weder zur Schule noch zur Arbeit gehen.

Wo Stillen zum Todesurteil wird
„In den Gebieten um die Stadt Al-rakha sind die Umstände besonders schlimm und die Frauenrechte werden dort besonders missachtet. Die radikalen Islamisten behandeln Frauen mit unmenschlicher Gewalt.“ Besonders ein Beispiel aus Abirs Erzählungen verschlägt einem die Sprache. Eine IS-Kämpferin, die so genannte Djihad Nikah, habe einer Frau auf offener Straße mit zwei scharfen Klingen zwischen den Zähnen die Brustwarzen abgeschnitten, da diese ihr Baby stillte. „Sie war sofort tot“, sagt Abir, die mit eindringlicher Stimme von dem Vorfall berichtet. Ein solch barbarisches Verhalten ist für uns schwer vorstellbar, doch Abir betont immer wieder „das ist dort Realität“.

Familien wollen sich durch Frühehen schützen
Die ausländischen IS-Kämpfer aus Algerien, Marokko, Saudi Arabien, Afghanistan Pakistan oder Tschetschenien genießen einen besonderen Status in den radikalisierten syrischen Gebieten. „Im Krieg haben IS-Kämpfer Anspruch auf alle Frauen, die sich im Kriegsgebiet befinden“ erzählt Abir. Viele syrischen Mädchen und Frauen würden vergewaltigt und für Kurz-Ehen missbraucht. Väter, die sich beschützend vor ihre Töchter stellten würden sofort getötet. Die brutale Vorgehensweise der IS-Kämpfer werde daher hingenommen. „Kämpfer haben Macht und Anspruch über alles.“

Abir Mawas, die während der letzten Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität in Aleppo gearbeitet hatte, engagierte sich ehrenamtlich beim UNFPA, dem United Nations Population Fund. Dort traf sie syrische Mädchen und Frauen die Opfer von Gewalt wurden. „Ich kann nachvollziehen, warum viele Familien ihre Töchter schon früh verheiraten“, sagt sie. „Ein Ehemann dient den Mädchen und Frauen als eine Art Schutz“. Auch wenn ein Ehemann seine Frau im Ernstfall nicht beschützen kann, ist es, laut Abir, dennoch wahrscheinlicher, dass sich ein IS-Kämpfer für ein unverheiratetes Mädchen entscheidet.

Integration ist nicht nur Lesen und Schreiben lernen
Nach ihrer Promotion in Sozialwissenschaft studierte Abir Alhaj Mawas in Deutschland an der Technischen Universität in Chemnitz. Das Leben in Europa lehrte sie vor allem die Unterschiede zwischen den Kulturen. Oft seien die Europäer nicht mit den kulturell bedingten Gewohnheiten des arabischen Raumes vertraut und entwickelten daher keine wirkungsvollen Integrationsstrategien. Das Lebensmodell der selbstständigen Europäerin habe bei vielen arabischen Frauen keine Vorbildfunktion, da die gesellschaftlichen Rollenbilder vollkommen anders angelegt seien. Laut Abir sind frontale Integrationskurse kein guter Ansatz. „Die Leute sollten in offener Runde miteinander diskutieren können oder eine Party, Feste feiern“. Nur so könnten gesellschaftliche Werte langfristig übermittelt werden. Außerdem spricht sie über das Potential von Migrantinnen, die bereits erfolgreich integriert sind, und den neu angekommenen Frauen als Vorbild dienen könnten. „Das lebende Beispiel – sie kam nach Deutschland ohne Ausbildung und hat es geschafft- ist wesentlich wirkungsvoller als der Ansatz des Frontalunterrichts im Klassenzimmer“, meint Abir.

„Es hängt nicht immer nur am Mann – auch die Frau muss Initiative zeigen und sich bewegen“
Viele geflüchtete Frauen kennen nach Einschätzung von Dr. Abir ihre Möglichkeiten in Deutschland, doch sie sind oft in ihren traditionellen Strukturen gefangen. „Die Frauen wissen, dass sie einen Anspruch auf Bildung haben.“ Laut Abir tragen sie Mitverantwortung an ihrer Rolle und ihrer gesellschaftlichen Stellung.

„Wir wollen nicht, dass unsere Töchter wie die deutschen Frauen leben“
Die kulturellen Wertvorstellungen des Heimatlandes spielen in vielen arabischen Familien in Deutschland eine große Rolle. Da die deutsche Rechtslage den Mädchen viel mehr Freiheiten gewährt als die syrische, sähen sich viele Familien in der Pflicht, ihre eigenen Regeln aufzustellen. „Deswegen werden die Mädchen hier in Deutschland viel extremer kontrolliert als in Syrien“, erklärt Abir, deren Familie selbst noch in Syrien lebt. Hier fällt vor allem die ungleiche Behandlung zwischen Mädchen und Jungen auf. Junge Männer erführen meist keine Reglementierungen in ihrem Privatleben. „Viele Familien sagen: ‘Wir wollen nicht, dass unsere Töchter wie die deutschen Frauen leben‘, da das zum Beispiel das Recht auf Sex vor der Ehe einschließen würde“, erklärt Abir.

Hoher Bildungsstandard bei syrischen Frauen
„Frauen in Syrien kann man nicht mit Frauen in anderen Ländern im arabischen Raum vergleichen. Der Bildungsstandard ist wirklich sehr hoch“ betont Abir. Vor dem Krieg seien die meisten Frauen in sozialen Berufen oder in der Verwaltung tätig gewesen, doch jetzt, während des Kriegs, gingen viele Frauen einer Arbeit nach, die unter ihrem Ausbildungsniveau liege. „Armut und Krieg machen alles kaputt, weshalb sie alles tun müssen um Geld zu verdienen“, erklärt Abir.

Donnerstag, 9. Juli 2015

Warum die Einhaltung der Menschenrechte der wichtigste Schritt zur Demokratie ist

(Beirut, Human Rights Watch) - Regierungen begehen einen großen Fehler, wenn sie beim Vorgehen gegen ernste Sicherheitsgefahren die Menschenrechte vernachlässigen, so Human Rights Watch bei der Veröffentlichung des jährlichen World Reports.

In dem 656-seitigen World Report, der 25. Ausgabe, dokumentiert Human Rights Watch die Menschenrechtslage in mehr als 90 Ländern weltweit. In der Einleitung macht Kenneth Roth, Executive Director, auf die Wagenburgmentalität aufmerksam, wenn es um Menschenrechte geht – diese kontraproduktive Haltung haben viele Regierungen in den vergangenen von Aufruhr geprägten Jahren vertreten.

„Menschenrechtsverletzungen spielten eine große Rolle, wenn es um die Entstehung und Verschärfung der heutigen Krisen geht“, sagte Roth. „Die Menschenrechte zu schützen und demokratische Verantwortlichkeit sicherzustellen, sind der Schlüssel zur Lösung dieser Krisen.“

Der Aufstieg der extremistischen Gruppe „Islamischer Staat“ (auch als ISIS bekannt) ist eine der globalen Herausforderungen, die eine Unterordnung von Menschenrechten hervorgerufen haben, so Human Rights Watch. Aber ISIS ist nicht aus dem Nichts entstanden. Neben dem Sicherheitsvakuum, das die US-Invasion im Irak zurückgelassen hat, waren auch die sektiererische und von Menschenrechtsverletzungen geprägte Politik der irakischen und syrischen Regierungen und die internationale Gleichgültigkeit darüber wichtige Faktoren, die zum Aufstieg von ISIS beigetragen haben.

Während der irakische Premierminister Haider-al-Abadi zugesichert hat, alle gesellschaftlichen Gruppen besser integrieren zu wollen, stützt sich die Regierung immer noch hauptsächlich auf schiitische Milizen, die straffrei sunnitische Zivilisten ermorden und ethnische Säuberungen durchführen. Auch Regierungstruppen greifen Zivilisten und Wohngebiete an. Das korrupte und von Missbrauch gepägte Rechtssytem zu reformieren und die sektiererischen Regierungsweise aufzuheben, dies ist in Syrien mindestens eben so wichtig wie Militäreinsätze, um die Gräueltaten von ISIS zu beenden. Bisher ist es al-Abadi nicht gelungen, erforderliche Reformen umzusetzen.

In Syrien haben die Truppen von Präsident Bashar al-Assad vorsätzlich und brutal Zivilisten in Gebieten angegriffen, die von der Opposition kontrolliert wurden. Der Einsatz von willkürlich tötenden Waffen - meist die gefürchteten Fassbomben - hat das Leben für Zivilisten nahezu unerträglich gemacht.

Doch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat weitgehend tatenlos zugesehen, da Russland und China ihr Veto eingelegten haben, wodurch ein gemeinsames Vorgehen gegen das wahllose Töten verhindert wurde. Die USA und ihre Verbündeten haben es zugelassen, dass ihre Militäreinsätze gegen ISIS die Anstrengungen in den Hintergrund gerückt haben, Damaskus zu einem Ende der Menschenrechtsverletzungen zu drängen. Durch dieses selektive Vorgehen kann ISIS bei der Rekrutierung potentieller Unterstützer darauf verweisen, dass ISIS die einzige Kraft sei, die gegen Assads Gräueltaten vorgehe.

Eine ähnliche Dynamik spielt sich in Nigeria ab, wo Menschenrechtsverletzungen eine zentrale Rolle in dem Konflikt einnehmen. Die militante islamistische Gruppierung Boko Haram greift sowohl Zivilisten als auch nigerianischen Sicherheitskräfte an, bombardiert Märkte, Moscheen und Schulen und entführt Hunderte Mädchen und junge Frauen. Nigerias Armee hat oft mit Menschenrechtsverletzungen darauf geantwortet: Hunderte Männer und Jungen wurden unter dem Verdacht, Boko Haram zu unterstützen, zusammengetrieben, verhaftet, misshandelt und sogar getötet. Aber um die „Herzen und Köpfe“ der Bürger zu gewinnen, muss die Regierung die mutmaßlichen Menschenrechtsveretzungen durch die Armee transparent untersuchen und die Täter bestrafen.

Dass Menschenrechte aus Gründen der Sicherheit ignoriert werden, dies ist ein Problem, das in den letzen Jahren auch in den USA aufgetreten ist. Ein Ausschuss des US-Senats hat einen belastenden Bericht über Folter durch die CIA herausgegeben. Während Präsident Barack Obama Folter unter seiner Führung eine Absage erteilte, hat er es abgelehnt, die Rolle derjenigen zu untersuchen, die die Folter angeordnet haben, die in dem Senatsbericht detailliert beschrieben wird – von einer strafrechtlichen Verfolgung ganz zu schweigen. Dadurch dass diesen rechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen wird, wird es wahrscheinlicher, dass zukünftige Präsidenten Folter als politische Option anstatt als Straftat betrachten. Dies schwächt auch sehr die Möglichkeit der US-Regierung, andere Länder zur Verfolgung ihrer eigenen Folterer zu drängen.

In zu vielen Ländern, etwa in Kenia, Ägypten und China, haben Regierungen und Sicherheitskräfte auf realen oder mutmaßlichen Terrorismus mit Menschenrechtsverletzungen reagiert, die die Krise letztlich angeheizt haben. In Ägypten vermittelt die Zerschlagung der Muslimbruderschaft durch die Regierung die zutiefst kontraproduktive Botschaft, dass wenn politische Islamisten die Macht durch Wahlen erlangen, sie ohne Protest wieder abgesetzt werden. Das könnte weitere Gewalt begünstigen. In Frankreich besteht die Gefahr, dass die Antwort der Regierung auf die Angriffe gegen „Charlie Hebdo“ die Meinungsfreiheit beeinträchtigen könnte. Mit Antiterrorgesetzen könnte gegen Aussagen vorgegangen werden, die nicht zu Gewalt aufrufen. Dadurch könnten auch andere Regierungen ermutigt werden, solche Gesetze zu verwenden, um Kritiker zum Schweigen zu bringen.

Gefahren für die Sicherheit kann nur dann erfolgreich begegnet werden, wenn nicht nur gegen bestimmte gefährliche Einzelpersonen vorgegangen wird. Auch muss die moralische Grundlage wieder geschaffen werden, welche die soziale und politische Ordnung begründet.

„Einige Regierungen begehen den Fehler, Menschenrechte als ein Luxusgut für bessere Zeiten zu halten. Sie sind jedoch ein wichtiger Kompass für politisches Handeln,“ sagte Roth. „Statt die Menschenrechte als lästige Einschränkung zu betrachten, sollen die politischen Entscheidungsträger sie als moralischen Wegweiser anerkennen, der einen Weg aus Krisen und Chaos bietet.“