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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dichterhain, Bände 5 bis 8

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Montag, 16. November 2015

Buchbesprechung: Putins Welt von Katja Gloger

Katja Gloger
Putins Welt
Das neue Russland, die Ukraine und der Westen
356 Seiten, Klappenbroschur.
€18 ,00 [D]

"Ob man will oder nicht: Die Zukunft der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wird sich an der Ukraine und ihrer künftigen Position in Europa entscheiden." Katja Gloger

Der Krieg ist wieder einmal nach Europa zurückgekehrt. Tausende Menschen sind bisher in der Ukraine gestorben, unzählige haben ihr Zuhause verloren und mussten fliehen. Soldaten ohne Abzeichen, die Krim ist russisch, Nationalisten und Faschisten kämpfen mitunter auf beiden Seiten. Mit der sogenannten Ukrainekrise hat 25 Jahre nach dem Fall der Mauer ein neuer Ost-West-Konflikt begonnen, womöglich sogar ein neuer Kälter Krieg, in dem Wladimir Putins Russland nach alter Weltmachtstellung strebt. Die renommierte Ukraine- und Russland-Expertin Katja Gloger hat sich für „Putins Welt" auf eine Expedition in das neue Russland begeben und zeichnet in ihrer Analyse das Bild eines stolzen, gekränkten und zornigen Landes, in dem Wladimir Putin und seine Mitstreiter mit viel Patriotismus, religiösen Bekundungen und Sowjetnostalgie ein autoritäres Regime etabliert haben, in dem demokratische Errungenschaften zunehmend auf der Strecke bleiben, Kritiker gefährlich leben und ein „Kapitalismus für Freunde" einige wenige zu nahezu unendlichem Reichtum gebracht hat, während große Teile der Bevölkerung schlechter und perspektivloser als in der Sowjetunion leben. Die Autorin beschreibt sehr detailliert, wer als Mitglied im System Putin funktioniert, ein Anhänger des Putinismus ist, einen reichen Lohn erhält, der weit über normale Managergehälter hinausgeht. Das System ist im Grunde korrupt, scheinbar fortschrittlich, vor allem stark mediengetragen und rechtskonservativ.

Katja Gloger hat den Aufstieg Wladimir Putins erlebt, als erste Journalistin aus dem Westen konnte sie ihn zu seinem Amtsantritt über Monate begleiten. Sie erklärt nun das „System Putin", das komplizierte Machtgeflecht im Kreml, das auf absolute Loyalität fußt und in der der Präsident die strategischen Entscheidungen trifft. Und sie wirft einen Blick auf die Biografie Putins, der als drittes und einzig überlebendes Kind sehr armer Eltern früh lernte sich mit den Fäusten Achtung zu verschaffen. Er scheint nach allem, was man so hört über seine Schulzeit, ein ADHS-Kind gewesen zu sein, das sich häufig prügelte und sehr unruhig und unstet war.

Sie beschreibt die Interessen der Oligarchien und des Geheimdienstes und analysiert die imperiale Ideologie des „russischen Weges" ebenso wie die strategischen Fehler des Westens. Sie schildert die endlose Propaganda, die im neuen Russland wieder gänzlich den Alltag prägt und sich auch via Satellit, Internet und rechten Unterstützern in der Welt verbreitet. Sie schreibt über das gefährliche Leben der Kreml-Kritiker, die furchtlos für ein anderes Russland kämpfen, und den mühsamen Alltag der einfachen Menschen, ihre Sicht auf Europa und den Westen. Wirtschaftlich schwach, vollkommen abhängig von Rohstoffexporten, nationalistisch aufgestachelt und militärisch hochgerüstet, erscheint das größte Land der Erde immer mehr als ein taumelnder Koloss auf tönernen Füßen.

Gibt es überhaupt noch Chancen, neues Vertrauen zwischen dem Wester und Russland aufzubauen und die Spirale der Gewalt und Drohungen zu durchbrechen, gar Gemeinsamkeiten zu finden? Und welche Rolle kann Deutschland in diesem Konflikt, in dem sich Putins Russland als Ordnungsmacht auf dem eurasischen Kontinent und als moralischer und politischer Gegenpol vom Westen sieht — jenseits von zweifelhaften Aufsichtsratsposten und Russlandsympathisanten in der Neuen Rechten — spielen?

Katja Glogers Buch ist eine kritische Analyse und zugleich ein Plädoyer für rhetorische Abrüstung, das von der Sympathie für die Menschen in Russland und der Ukraine getragen ist, die sich dem nationalistischen Furor widersetzen und trotz Gefahr für Leib und Leben nicht müde werden, sich für Frieden und Freiheit einzusetzen. Denn wahr bleibt: Frieden kann es nur mit Russland geben.


Die Autorin:
Katja Gloger, geboren 1960 in Koblenz, beschäftigt sich seit über 25 Jahren mit Russland. Sie studierte Russische Geschichte, Politik und Slawistik in Hamburg und Moskau und ging Anfang der neunziger Jahre als Korrespondentin für den Stern nach Moskau. Dort erlebte sie den Zusammenbruch der Sowjetunion. Sie interviewte Michail Gorbatschow ebenso wie Boris Jelzin und Wladimir Putin. Sie war Stern-Korrespondentin in den USA, arbeitet heute als Autorin des Stern mit den Schwerpunkten Russland, Internationale Politik und Sicherheitspolitik. 2010 erhielt sie den Henri-Nannen-Preis, 2014 wurde sie als „Journalistin des Jahres" ausgezeichnet. Katja Gloger lebt in Hamburg.

Dienstag, 12. Mai 2015

Buchbesprechung: Politische Gewalt in Deutschland

Ziel dieses Bandes 42 der Reihe  "Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte" (Hg. im Auftrag des Minerva Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv von Galili Shahar) ist die staatliche und gesellschaftliche Formen der Gewalt in Deutschland in den letzten beiden Jahrhunderten zu analysieren. Und dies gelingt auch auf hohem Niveau.

Gewalt und Militarismus werden immer von gesellschaftlichen Konzepten getragen, die zur Erreichung bestimmter Ziele erstellt werden. Von Staats- als auch Bürgerseite. So wie die Bundeswehr heute seit wenigen Jahren völlig neu konstruiert wird, gleichzeitig aber politische Einzelimpulse aus CDU/CSU und SPD auftauchen, die tatsächlich diskutieren, die Bundeswehr unabhängig von Bundestagsmandaten eigenständig - quasi als eigene Kraft im Staat - agieren zu lassen. Für eine Demokratie sollte das eigentlich gar nicht erwägenswert sein. Gleichzeitig denken Bürger darüber nach, warum sie sich von einem Ansiedlungssog von Ausländern in ihrem Lebens- und Arbeitskonzept verdrängen lassen sollen. Auch hier bedeutet der Einsatz von Gewalt ein Stück Identitätssuche. Die propagierte Willkommenskultur kollidiert mit einer wahrgenommenen Missachtungskultur.


In zwölf Fallstudien wird das Konstrukt politische Gewalt/Militär seit 1800 betrachtet. Wir lesen über den Zeitraum II. Reich nach 1848/49, den Wilhelminismus, die Weimarer Republik, das III. Reich bis 1945 und der Nachkriegsgeschichte BRD/DDR, bis hin zur "Violent Underside of the "Peaceful" East German Revolution of 1989" und den Antizionismus wie Verteidigung des Nationalsozialismus der RAF 1970 bis 1998. Interessant u.a. Thomas Pegelow Kaplans Analyse der sprachlichen Seite von Diktatur, Begriffsregelungen, die die Ein- oder Ausgliederung von Menschen z.B. durch die Entjudung von Sprache regulierten, wie sie der Deutsche Sprachverein und seine Fortsetzung unter anderem Vorzeichen nach 1945 die Gesellschaft für Deutsche Sprache festlegten. Was in ist und out, links oder rechts, hip, cool, mellow, behindert und sonstwas wird über die Sprache geleitet. Dieses Phänomen begegnet uns in allen Kulturen und Nationen, nur in Diktaturen wird das Aussprechen bestimmter Begriffe mit Strafe oder Tod belegt, das ist ein wesentlicher Unterschied.

Eines der Ziele des Bandes ist es, aus verschiedenen Perspektiven die Sprachmuster, die der Legitimierung von politischer Gewalt dienen, zu überdenken. In der Akzentuierung ihrer kulturellen Verankerung wird deutlich, dass politische Gewalt als integraler Teil innerhalb der Kultur angesiedelt ist, in der sie ausgeübt wird und die sie zugleich auch bedroht.

Weiteres aus dem Inhalt:
Doron Avraham, Ramat Gan: Gewalt und militärische Praxis in der deutschen Zivilgesellschaft des 19. Jahrhunderts
Shulamit Volkov, Tel Aviv: The Weimar Republic: On the Primacy of Political Assassination
Joana Seiffert, Bochum: »… die letzten Schlacken marxistischer Verhetzung zu lösen« - Der Ruhrkampf und die Rote Ruhrarmee in der nationalsozialistischen Erinnerungskultur
Sven Reichardt, Konstanz: Konsens und Gewalt im Nationalsozialismus
Thomas Ebbrecht, Potsdam: Kampfplatz Kino - Filme als Gegenstand politischer Gewalt


256 S., brosch., 14,5 x 22,2, € 34,00 (D) | € 35,00 (A) |  Wallstein  

Sonntag, 23. November 2014

Buchbesprechung: DIE TIERE VON PICASSO beim Prestel Verlag



Pablo Picasso überall - unzählige Ausstellungen, Bücher, Museen widmen sich seinem kreativen Schaffen. Einer der größten und wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts war sehr tierlieb und sehr interessiert an Tieren. Kein Wunder, Picasso ist damit aufgewachsen: Sein Vater war Tiermaler. Seine besondere Beziehung zum Dackel Lump oder dem Afghanen Kabul und den Tauben in seinem Atelier wurde immer wieder betrachtet oder von Fotografen festgehalten. 

Picassos Welt der Tiere hat die Kunstgeschichte auch einen gebührlichen Platz eingeräumt. Es ist seine besondere Art, sie darzustellen, teilweise vermenschlicht, teilweise karikierend, teilweise exponierend. Picassos Zeichnungen, Gemälde, Plastiken und Keramiken zeugen von seiner innigen Verbindung zu Vögeln, Fischen, Hunden, Ziegen und anderen Vierbeinern. Ein Tiermotiv aus dem Jahr 1949 wurde gar zum bis heute weltweit gültigen Antikriegssymbol: die Friedenstaube. Für Spanier kein Paradoxon: Er liebte auch den Stierkampf und die Stiere. So werden Stiere immer wieder dargestellt, auch bei seinen spektakulären Lichtmalereien, bei denen er mit elektrischem Licht in der Dunkelheit blitzschnell den Zuschauern ein Motiv anbot, das mit bloßem Auge fast nicht erkennbar war. Auf Fotografien jedoch hoch abstrahierte Kunst zeigten. Auch im Jahr 1949 z.B. zeigte sich für Bruchteile von Sekunden ein wundervoller Picassostier auf die Dunkelheit als Leinwand gebannt.

Beim Prestel Verlag ist ein Buch zu diesem Thema erschienen. Boris Friedewald betrachtet ausführlich DIE TIERE VON PICASSO. Das Vorwort stammt von dem Fotograf David Douglas Duncan, der Picasso auch fotografierte.
Die jeweils einem Tier gewidmeten Kapitel führen persönliche Geschichten, heitere Anekdoten und herrliche Kunstwerke zum Tier und Motiv zusammen. Tauben, Katzen, Hunde, Affen, Pferde, Eulen, Ziegen, Fische und Stiere heißt die Motivleiter, es kommen Lebensstationen von Picasso dazu, Literatur- und Abbildungsverzeichnis. Die Schrift ist sehr klein und fast zu hell. Für Senioren nicht gerade ein Vergnügen. Aber mit Lesebrille wird alles leichter. Ein schönes Verschenkbuch für Kunstinteressierte.

Für knapp 17 EUR gibt es Hardcover, 144 S. im Format 14 x 18,5 cm, 50 farbige Abbildungen, 20 Schwarzweißabbildungen.

Donnerstag, 2. Oktober 2014

Buchbesprechung: ANGELIKA OVERATH, Sie dreht sich um

Angelika Overath
Sie dreht sich um
Roman
Luchterhand-Verlag bei Random House, München 2014. 288 S., 19,99 €

Mitten im ganz normalen Alltag geschieht es: Nach dem Konzertbesuch teilt ein Mann seiner Frau in der Küche mit, dass er nicht alleine in Triest gewesen sei und mit der Freundin ein Kind haben will. Alle Strukturen, Gewohnheiten, Ansichten, Einsichten und Handlungen werden irreal, von jetzt auf nachher. Der Mann, ein Lehrer und Altphilologe, hat sich einer jüngeren Kollegin zugewendet. Die Ehe ist kaputt. Diese Gewissheit versetzt Anna, eine 50-jährige Journalistin in eine Art reflektierende Trance. Sie lässt alles an sich vorüberlaufen, unendliche Gedankenketten, die immer wieder am Beziehungsende neue Nahrung finden. Sie beginnt blindlings zu verreisen und wird von Museen und Gemälden angezogen, die ihr helfen, ihre Lage zu reflektieren, ihr sogar Gesprächspartner werden in diesem Schmerz der Verletzung und Missachtung. Sie dienen ihr auch als Ratgeber zur Neuorientierung im Leben. Vor allem die Rückansichten von Frauen beschäftigen sie, die Abgewendete ...

Der Zufall führt sie von München nach Edinburg in die Schottische Nationalgalerie. Paul Gauguins bretonische Frauen, die in «Jakobs Kampf mit dem Engel oder Vision nach der Predigt» vorwiegend von hinten zu sehen sind, lässt sie eine Weltreise mit Kreditkarte beginnen. Sie sucht nebenbei den Grund der Trennung. Ihr Verhalten? Seines? Eine der Frauen aus Gauguins Gemälde wird ihr zum Gesprächspartner, dreht sich um und erzählt, wie es den jungen Frauen erging, als sie Modell standen. Anna imaginiert einen Dialog und wird auch auf ihrer weiteren Reise mit Frauen sprechen, die sich aus den Bildern, ihrer eingefangenen Vergangenheit an sie wenden und die Möglichkeit zur Reflexion der eigenen Vergangenheit bieten.

Eduard Hoppers Gemälde von seiner Frau Jo beleuchtet die Konflikte an der Seite des Mannes, das eintönige und stille Leben. Die Reise führt über Kopenhagen nach Boston (eine szenische Rekonstruktion der Bostoner Tea Party von 1773, Aufbegehren gegen staatliche Zölle und Steuern, fasziniert sie) und nach St. Moritz, wo Segantinis «Frühmesse» eine Schlüsselrolle einnimmt. Die Vergangenheit verdeckt und übermalt - in der Vorfassung war ein schwangeres Mädchen zu sehen. Auch der Louvre und das Hôtel Turgot in Paris sowie Skagen in Dänemark spielen eine Rolle.

Ein sehr interessanter Roman mit einem ungewöhnlichen Einfall zur Handlungskonstruktion - ohne große Spannungsmomente, aber im Fluss der Gedanken, ein großes Angebot an Verarbeitung für Leser. Dabei verknüpft mit einem Ausflug in die Kunst.

SWR Mediathek

Angelika Overath "Sie dreht sich um"

16.8.2014 | 14.05 Uhr | 11:10 min

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Buchbesprechung: ICH BIN EINE NOMADIN von Ayaan Hirsi ALi

ICH BIN EINE NOMADIN, Piper, 2010, 325 S.

Ayaan Hirsi Ali, geboren 1969 in Somalia, floh 1992 in die Niederlande. Sie ist Abgeordnete im niederländischen Parlament und Autorin ('Submission'). Trotz ständiger Todesdrohungen islamistischer Fanatiker kehrte die 'meistgefährdete Person der Niederlande' Anfang 2005 aus ihrem Versteck in die Öffentlichkeit zurück, um weiter für ihre Sache einzutreten.

Sie weiß, dass ihr Kampf lebensgefährlich ist, aber sie gibt nicht auf. Ayaan Hirsi Alis Engagement gilt dem Schicksal der muslimischen Frauen, und sie ruft diese dazu auf, die Fesseln der unterdrückerischen Tradition abzustreifen, damit sie endlich selbst  bestimmen können, wie sie leben wollen. Die Texte dieses Buches brechen Tabus, verändern unseren Blick und zeigen, wie notwendig Ayaan Hirsi Alis Kampf für die unterdrückten islamischen Frauen ist.

Ein unglaubliches Leben der Autorin Ayaan Hirsi Ali und ein unermüdlicher Kampf für die Rechte der Frau und der Kinder, gerade im Islam, machen mir diese Frau sehr sympathisch. Wer die Stationen ihres Lebens liest, erschrickt. Ein Leben voll mit Flucht, im Zeichen der väterlichen politischen Widerstandtätigkeit durch Afrika und Arabien, schließlich landet sie in Holland und schafft es, eines der 28 Mandate der rechtsliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie zu bekommen, die sie abgeworben hatte. Sie wird Abgeordnete, obwohl sie vorher noch für die Amsterdamer Arbeiterpartei gekämpft hatte.  
Sie klagt die Rechtlosigkeit der Frau im Islam, die brutale Behandlung und depersonalisierende Beschneidung von Frauen und Jungen nach dem islamischen Recht an. Sie klagt an die von der Religion verordnete Hochzeit von Männern mit 8-jährigen Mädchen, die nichts anderes ist als erlaubte Pädophilie im Zeichen der Religion. Ayaan Hirsi Ali wird bekämpft und bekriegt. Bereits seit 2000 schützt man sie mit Bodyguards, da die Morddrohungen zunehmen. Sie schrieb das Drehbuch für einen Kurzfilm mit dem Titel »Submission« (Unterwerfung). Zusammen mit dem Regisseur Theo van Gogh realisierte sie den Film, der am 29. August 2004 im holländischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Bereits im November 2004 wird van Gogh in Amsterdam ermordet. Ein in den Niederlanden geborener und aufgewachsener Marokkaner, namens Mohammed Bouyeri, schoss van Gogh vom Fahrrad und schnitt dem wehrlosen Regisseur die Kehle durch. Mit dem blutigen Messer spießte Bouyeri einen fünfseitigen Bekennerbrief mit einer an Ayaan Hirsi Ali gerichteten Morddrohung in die Brust des Toten. Der Film bricht Tabus, deckt auf und klagt an. Er zeigt eine nackte Frau mit dem islamischen Schleier. Arme Fanatiker halten das nicht aus und werden blutrünstig. Hirsi Ali musste wochenlang versteckt und bewacht werden. Sie bekam eine Räumungsklage, weil die Nachbarn die Sicherheitskräfte nicht mehr ab konnten. Die Integrationsministerin hatte nichts anderes im Sinn als ihr die niederländische Staatsbürgerschaft abzuerkennen, weil sie angeblich bei der Einbürgerung falsche Angaben gemacht hatte. Widerliches politisches Taktieren, Hirsi Lai legte ihr Mandat nieder, es kam zu Parlamentsdebatten, die damalige Regierung Balkenende zerbrach. 2005 kehrte sie kämpfend in die Öffentlichkeit zurück.

Montag, 26. November 2012

Buchbesprechung: DIE UNVOLLENDETEN von Reinhard Jirgl

Reinhard Jirgl 
Die Unvollendeten
dtv

»30 Minuten Zeit – mit höchstens 8 Kilo Gepäck pro Person – am Bahnhof sich einzufinden – diejenigen, die gegen diesen Befehl verstoßen, werden nach den Kriegsgesetzen bestraft.« 

Sommerende 1945. Die tschechischen Behörden nehmen ihre Vertreibungen vor, und die deutsche Minderheit flieht aus dem Sudetenland. Vier Frauen – die einzigen Mitglieder einer großen Familie, die den Krieg überlebt haben – stehen im Mittelpunkt: Johanna, deren Töchter Hanna und Maria sowie die siebzehnjährige Enkelin Anna. Ihre Geschichte der Vertreibung, der Verlust der Heimat, die Entwurzelung und das neue Leben in der Fremde – in einem kleinen ostdeutschen Dorf nahe der Zonengrenze – bis in die Gegenwart des Jahres 2002 in Berlin lässt Jirgl auch den Urenkel erzählen. Er trägt zusammen, was ihm Mutter, Großmutter, Großtante und Urgroßmutter erzählt haben, um endlich auch sich selbst 
zu verstehen.


Reinhard Jirgl, der große Chronist deutscher Vergangenheit und Gegenwart, erzählt die Geschichte von vier Frauen aus der Kleinstadt Komotau, die nach dem Zweiten Weltkrieg übrig geblieben sind: die siebzigjährige Johanna, deren Töchter Hanna und Maria und die siebzehnjährige Enkelin Anna. Eine Familiensaga von Heimatlosen, die der Verlust bis heute 

nicht los lässt.
Jirgl hat 2010 den Georg-Büchner-Preis bekommen. Er habe in einem Romanwerk "von epischer Fülle und sinnlicher Anschaulichkeit ein eindringliches, oft verstörend suggestives Panorama der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert entfaltet", heißt es in der Begründung. Dabei lasse er die historischen Umbrüche aus unterschiedlichsten Perspektiven alltäglichen Erlebens gegenwärtig werden und mache so zuletzt in den großen Romanen "Die Unvollendeten" und "Die Stille" die Stimmen der Vergessenen und Verschütteten wieder hörbar.

(c) ddp: Reinhard Jirgl
Reinhard Jirgl wurde am 16. Januar 1953 in Berlin (Ost) geboren. Nach einer Lehre als Elektromechaniker studierte er ab 1971 Elektronik an der Berliner Humboldt-Universität. Als er 1985 sein erstes, umfangreiches Manuskript »Mutter Vater Roman« beim Berliner Aufbau-Verlag einreichte, wurde ihm eine »nichtmarxistische Geschichtsauffassung« vorgeworfen und die Veröffentlichung des Romans verweigert. Jirgl jedoch setzte das Schreiben fort. Bis zur Wende 1989 lagen sechs fertige Manuskripte vor - ohne dass ein einziges Buch von ihm veröffentlicht worden wäre. Erst 1990 konnte »Mutter Vater Roman« bei Aufbau erscheinen. 
1996 gab Jirgl die Tätigkeit als Techniker an der Berliner Volksbühne auf und arbeitet seitdem als freier Schriftsteller in Berlin. Seit 2009 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Neben dem Alfred-Döblin-Preis wurde sein Werk mit zahlreichen anderen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Preis (1990), der Johannes-Bobrowski-Medaille (1998), dem Josef-Breitbach-Preis (1999), dem Kranichsteiner Literaturpreis (2003), dem Rheingau Literaturpreis (2003), dem Dedalus-Preis für Neue Literatur (2004), der Eugen Viehof Ehrengabe der Deutschen Schillergesellschaft von 1859 (2004), dem Bremer Literaturpreis (2006), dem Lion-Feuchtwanger-Preis (2009), dem Grimmelshausen-Literaturpreis (2009) und zuletzt mit dem Georg-Büchner-Preis (2010). 2007 war er Stadtschreiber von Bergen-Enkheim.

Mittwoch, 24. Oktober 2012

Besprechung: DIE SIRENEN VON BAGDAD von Jasmina Khadra



Jasmina Khadra
Die Sirenen von Bagdad

Yasmina Khadra ist das Pseudonym von Mohammed Moulessehoul. Der 1955 geborene Autor war hoher Offizier in der algerischen Armee. Wegen der strengen Zensurbestimmungen veröffentlichte er seine beliebten Kriminalromane mit Kommissar Llob unter dem Namen einer Frau. Erst nachdem er im Dezember 2000 mit seiner Familie nach Frankreich ins Exil gegangen war, konnte er das Geheimnis um seine Identität lüften. Yasmina Khadra ist eine der wichtigsten Stimmen der arabischen Welt, seine Romane sind in 17 Sprachen übersetzt. In seinem jüngsten Roman, der nun auch auf Deutsch vorliegt, schließt Yasmina Khadra seine Trilogie über die Situation im Nahen und Mittleren Osten und schildert den Irakkrieg aus der Sicht eines arabischen Schriftstellers.

Algerien während des Bürgerkriegs in den neunziger Jahren, Afghanistan unter den Taliban und der Nahe Osten mit dem Palästina-Konflikt sind die hauptsächlichen Schauplätze der bisherigen Romane von Yasmina Khadra. Mit «Die Sirenen von Bagdad» kommt ein weiterer Brennpunkt des internationalen Kriegsgeschehens dazu: der Irak. Der Roman arbeitet mit einem namenlosen Icherzähler, der am Ende des Romans kurz davor steht, ein Attentat in London zu begehen, das die Zerstörungen bisheriger Anschläge bei weitem übertrifft. Der Erzähler, dessen Laufbahn zum Selbstmordattentäter wir während des Buches verfolgen, erweist sich zunächst als sensibler junger Mann, der auf jede Gewaltanwendung mit einem Schock und mit körperlicher Erschütterung reagiert. Islamismus spielt gar keine Rolle.

Aufgewachsen ist dieser Erzähler in Kafr Karam, einem Beduinendorf in der irakischen Wüste. Als Einziger weit und breit besucht er die Schulen, danach schreibt er sich für ein Literaturstudium an der Universität von Bagdad ein. Der Einmarsch der alliierten Truppen im Irak beendet jäh diese Phase seines Lebens, die ihm anfänglich noch neue Horizonte eröffnete. Zurück im Dorf bleibt ihm nichts als ein tristes Leben. Seine Abneigung gegen jegliche Gewalt führt ihn in schwere Krisen, als der Krieg auch diese armselige Wüstenregion erreicht. Und als eine Gruppe von GIs auf der Suche nach Waffen und Terroristen (ohne jegliches Verständnis für die Mentalität dieser Beduinen) das Dorf durchkämmt und dabei den Vater des Erzählers zutiefst demütigt, verlässt dieser das Dorf - nach beduinischer Tradition kann er diese Schande nur mit dem Blut der Feinde reinwaschen ...

dtv, 320 S., 9,90 €

Samstag, 18. Dezember 2010

Nachlese: Schulze - Die Beste aller Welten

Gerhard Schulze
Die Beste aller Welten - Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?
München 2003, 369 Seiten, Hardcover, 24,90 €, Hanser Verlag


(Leipzig/UA) Jahrzehnte meinten wir zu wissen, wie es weitergeht: Autos werden schneller, Computer leistungsfähiger, Medien aufregender und Einkommen höher.
Wirtschaftskrisen sind Durchgangsstadien zur nächsten Hochkonjunktur, sogar soziale und ökologische Probleme bringen Wachstumsindustrien und -messen hervor.
Doch das moderne Leben besteht zunehmend aus Episoden, wir denken in Skalen.
Aus der Suche nach der Besten aller Welten ist ein Steigerungsspiel geworden, deren Vorläufer der Fortschrittsgedanke war: schneller, besser, mehr, feiner, spezieller, jünger, klüger, lustiger... Zahlreiche unscharfe Begriffe tragen diese Steigerungslogik in sich: Wachstum, neu, Preisknüller, Verbesserung, Erschließung, Auto, Computer, Werbeblock, Fernsehen, Entwicklungsland ... Wer mit offenen Augen durch den Alltag geht, wird viel mehr finden. Es kommt zunehmend zur Häufung von Produkten, deren Brauchbarkeit kaum noch einzusehen ist, zu Funktionen, die niemand mehr in Anspruch nimmt -  zu einer Umkehrung des Suchens.
Für dieses Steigerungsspiel ist nichts auf der Welt so, wie es sein könnte, Dinge und Menschen scheinen noch verbesserungsfähig, egal wie weit man schon gekommen sein mag. Die Kultur der Steigerung macht sich selbst zum Gegenstand dieser Steigerung. Sie ähnelt einem Hochleistungssportler. Konsum eröffnet Beschäftigungsmöglichkeiten, schon allein das Mustern von Beständen strukturiert die Zeit und entlastet vorübergehend von der Frage, was man mit seinem Leben anfangen soll. Im bloßen „Weitermachen“ lässt sich die Sehnsucht an tieferen Sinnerlebnissen vergessen.
In der Welt der Steigerung geht es vor allem um „Sachen“. Doch schnell unterstellt man dem Partner, dem Freund, dem Kollegen Gesetzmäßigkeiten, legt ihn auf einen bestimmten Typus fest, versucht ihn ständig zu formen und umzugestalten und meist im Dienst der eigenen Interessen. Soziales Miteinander verkommt zur „Episode“, der die nächste Steigerung folgt. Doch z.B. die Beziehung zwischen Mann und Frau ist wesentlich komplizierter als eine Datenbank, ein Auto, die Konstruktion eines Hochhauses. Es gibt keine Routinefertigkeiten, die ein halbwegs begabter Mensch im Abendstudium erwerben könnte, um eine Beziehung aufzubauen oder zu reparieren.
Dazu kommt das Vermehrungsspiel, besonders das der Medien.
In seinsgerichteten Projekten spielen hingegen Variation, Metamorphose, Konversion und Improvisation die entscheidende Rolle. Wer jedes Jahr ans Meer fährt, immer an den gleichen Ort, wird es je nach Wetter, Jahreszeit und eigener Stimmung doch immer wieder anders erleben. Es ist immer derselbe Ort, aber jedes Mal anders.
Mit der zunehmenden Routine des Wandels spüren wir die Vorboten einer grundlegenden Veränderung. Die Fortsetzung des Steigerungsspiels führt zur wachsenden Ratlosigkeit und Absurdität. Es taucht nach Erichs Fromms „Haben und Sein“ eine neue Leitvorstellung von der Besten aller Welten auf. Neben das Können tritt das Sein, neben das Prinzip der Steigerung tritt die Idee der Ankunft. Je mehr wir können, um so wichtiger wird die Frage, wer wir sind und was wir wollen.
Doch es gibt noch etwas anders als Steigerung, Vermehrung und Episoden: Liebe, gute Gespräche, tiefgehende Begegnungen, die wichtiger sind als kratzfeste Badewannen, schnurlose Telefone oder das überall verkaufte Buch.
Dieses verständliche und interessante Buch von Gerhard Schulze wird für reichlich Gesprächsstoff sorgen.

Gerhard Schulze wurde 1944 geboren, arbeitet als Professor für Soziologie in Bamberg. Einem breiten Publikum wurde er bereits durch sein Buch „Die Erlebnisgesellschaft“ (1992) bekannt. 1999 erschien „Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur“.

Mittwoch, 1. Dezember 2010

Buchvorstellung: Architecture Now! 7






Architecture Now! 7
Philip Jodidio
Flexicover, 19.6 x 24.9 cm, 480 Seiten
€ 29.99
ISBN: 978-3-8365-1736-2
Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch

Durchblättern!
Nach dem Fall – Architektur in einem neuen wirtschaftlichen Klima

TASCHEN's Architecture Now! 7 bietet einen breit angelegten Überblick über die Architektur unserer Zeit, von modernen Klassikern bis hin zu radikal avantgardistischen Entwürfen. Wie schon die Vorgängerbände dieser Reihe, präsentiert Architecture Now! 7 ein breites Spektrum verschiedenster Projekte aus aller Welt. Hinzu kommen ausgewählte Kunstprojekte mit direktem Architekturbezug, darunter Arbeiten von Giacomo Costa oder Shinro Ohtake. Schließlich setzt sich der vorliegende Band mit den Folgen der jüngsten Wirtschaftskrise auseinander, etwa der sinkenden Anzahl von Großprojekten, jedoch auch der gesteigerten Kreativität, die Architekten trotz finanzieller Einschränkungen innovativ arbeiten lässt. Zu den in diesem Band gezeigten baulichen Großprojekten zählen der futuristisch anmutende CCTV Tower in Peking (OMA) oder der Burj Khalifa (SOM), das bisher höchste Gebäude der Welt und zugleich Herzstück des prestigeträchtigsten Stadtentwicklungsprojekts der Golfregion.

Für alle, die sich für geistige Strömungen und architektonische Tendenzen im 21. Jahrhundert interessieren, ist Architecture Now! 7 ein grundlegendes Nachschlagewerk. Übersichtliche, alphabetisch geordnete Einträge präsentieren aktuelle und unlängst realisierte Projekte sowie Biografien, Kontaktdaten und Webseiten der Architekten und Künstler.

Vorgestellte Architekten, Künstler und Firmen: 
Ambasz, Aravena, Architektur und Landschaft, Asymptote, Atelier-Den/Inahara, Balmond, Barclay, Barkow Leibinger, Baumschlager Eberle, BIG, Boeri, Byoung-soo Cho, Calatrava, Costa, Elliott, Endo, France-Lanord, François, Fujimori, Fujimoto, Gustafson Porter, Hadid, Herreros, Herzog & de Meuron, HHF, Holl, Information Based Architecture, International Polar Foundation, IROJE KHM, Ishigami, Ito, James Corner Field Operations/DS+R, Jensen & Skodvin, Kalhöfer-Korschildgen, KHR, LAAC, López Mónica Rivera, Greg Lynn FORM, Made in Sàrl, Maki, Morphosis, Moss, Nobis, NOX, Ohtake, OMA*AMO, Paredes Pedrosa, Perrault, Piano, Plasma Studio, Ricciotti, Rich Rotor, Sambuichi, SANAA, del Sol, SOM, Splitterwerk, Sugimoto, Supersudaka, Takasaki, Tokujin, de vylder vinck taillieu 

Montag, 29. November 2010

Buch und CD: Witziges und nachdenkliches Jugend-/Erwachsenenbuch "Eduard Kratzfuss" und CD "Herztöne" von E.P. Hilbert:

EDUARD KRATZFUSS
Geschichte eines Maulwurfs

Eine Parabel von Erwin P. Hilbert
Illustrationen von  Manuel Nordus
Vorwort von Prof. (Univ. dubna) Barbara Maasche
Kisslegg 2010, Hardcover, mit farbigen Illustrationen,
14,80 €, www.himmelscafe.de
Für Leseratten von 12 bis 112!
„Vor Eduard Kratzfuß zieh ich meinen Hut“ Udo Lindenberg


e.p. hilbert
herztöne


CD, Kisslegg 2010, fe medienverlag, Kisslegg, 07563-92006, 14,80 €, Bestellungslink im „Himmelscafé“
Alle Titel produziert von E.P. Hilbert, Florian Olszewski & Sebastian Winkler





Samstag, 13. November 2010

Buchbesprechung: Der Pilot in der Libelle beim Wallstein Verlag (Unabhängige Verlage in Deutschland)

Hendrik Rost
Der Pilot in der Libelle
Gedichte
Göttingen 2010, 112 Seiten, Hardcover
18 €, Wallstein Verlag

Der Autor ist Jahrgang 1969, hat bislang vier Gedichtbände und eine Übersetzung aus dem Niederländischen vorgelegt und veröffenlicht Lyrik und Essays in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Neuen Zürcher Zeitung, Jahrbuch der Lyrik, ndl und Sprache im technischen Zeitalter. Der studierte Philosoph und Literaturwissenschaftler hat bereits acht Literaturpreise erhalten, so zuletzt den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für Literatur 2004 (mehr siehe bei Wikipedia).
In sieben Schritten gruppiert Hendrik Rost seine Gedichte, die Einblicke und Interpretationen seiner und fremder Lebenssituationen geben, mitunter eine strenge Brisanz bekommen wie "400-Euro-Job", und seine Tochter und ihr/sein Welterleben thematisieren.
Der erste Schritt heißt "Mnemosyne", das gleichnamige Gedicht darin der Besuch bei der Großmutter im Rollstuhl, umgeben von Erinnerungen, Dinge und Sachen des Lebens, "Gesammelt, gestapelt und faulend". Das Absterben als ein Vergeben, Vergessen der Erlebnisse, der Modergeruch als Auflösung ... Oder ein Bild aus Hamburg-Altona, eine Plastiktüte im Unwetter wie eine Qualle im Wasser vor den Fenstern im 2. Stock im Regen tanzend ...


Aquatisches Altona


Eine Scheibe im Hausflur fällt dem Sturm zum Opfer.
Eine schwarze Plane, gegen Regen im Fensterrahmen,
schlagt im Wind wie Segel eines Havaristen.

Wenn das Wetter der nächsten Tage so wird
wie der hektische Ansager bei der Vorhersage,
werden wir untergehen.

Oder wir sind es längst. Vorm Schlafzimmerfenster

im zweiten Stock treibt eine Plastiktüte, Qualle im Strom.
Wolken brechen am Riff der Mietshäuser gegenüber.

In Gruppe 2 "Recherche" das Ergründen des Gewesenen, das Vergangene als ein inhaltsarmes und sinnentleertes Leben im Zeichen des verlorenen Arbeitsplatzes, den Kopf jedoch voll damit. In "Fraktur" das Erlebnisses eines Unfalls, ein Kieferbruch lähmt, vieles vergessen aus dieser Zeit, ein Verlust. Die Fraktur machte handlungsunfähig, Halt gab nur der Anblick eines gesunden OP-Schwestern-Kinns... Später Vermissen, Hingezogensein, immer dieses Bild und die nachfolgende Schwärze der Narkose, die alles ausblendete. "Die Libelle" als ein Vergleich mit der persönlichen Entwicklung, die Notizen aus der Larvenzeit, tausend Seiten vernichtet, verbrannt, als nichtig erklärt, bevor der Flug begann. Hier weiß der Pilot genau, dass er das zukünftige Leben steuert ...
"Aus alten Heften" thematisiert im nächsten Schritt die Liebe, den Liebestaumel, den Zeitausschalter (oder den Zeitvertreiber?), im sich wiederholenden Ritual des Davonfließens den anderen als Quelle wahrnehmen, ihn nutzen: "Sei Dieb, damit die Dinge endlich Wert bekommen, zur Quelle bringt man leere Gefäße mit."
In der Gruppe "Meditation" scheint mir das Eindringen der Außenwelt in verschiedenen Perspektiven thematisiert. Laut und eindringlich, einen Bruch mit den Ideen und Empfindungen hervorrufend, eher zu einem Rückzug veranlassend. Hier singende Kegelschwestern, die allzu zotig, zu derb, etwas ansprechen, das so nicht bei jedem funktioniert ...
"Für Solostimmen. Schuhmann-Korrespondenz" fokussieren das Gefangensein im Begehren und Zurückstoßen der Geliebten aus Pflichtbewusstsein, Schutzangebot für den anderen, hier eingefangen im Krankheitsbild des syphillitischen Robert Schumann, der aus Schaffensdrang in der Endphase seiner Lebenszeit Städtenamen aus dem Atlas abschrieb ...
Die "Blindbewerbung" eine ungewöhnliche, eine menschliche Bewerbung auf eine Stelle, die noch nicht ausgeschrieben ist. Man liest nichts über das Prahlen mit Fertigkeiten und Wissen, sondern nur über das Menschsein an sich. Sie bekommen einen Menschen, mit allen Vorzügen und ... sterblich. Und ganz überraschend in "Gebrechen": Demenz ist überall und die höchste Form davon die Liebe. Das Vergessen, das Versiegen von Sprache, das Ende?
In der letzten Gruppe dann der Namensgeber "Deutschlandradio". Ein Aufruf, auszusteigen, wenn "der Wagen liegen geblieben ist." In Mut zu investieren und große Gedanken zu pflegen, um Gewinne machen zu können, denn alles kann immer "noch billiger" angeboten werden. Qualität eher selten.
Im "400-Euro-Job" gekonnt eingefangen die Betrachtung des langzeitarbeitslosen Geisteswissenschaftler durch Arbeitskollegen im Minijob-Milieu... "Was ihr könnt, will keiner wissen oder haben." Was bleibt ist Literatur schaffen, Gedichte schreiben, die sich mehr oder weniger leicht verkaufen ...


4oo-Euro-Job

Wer "wird denn jetzt Millionär? Und kannst du
Heckeschneiden? Das Problem mit euch
Studierten ist, man muss euch alles erklären.
Was ihr könnt, will keiner wissen oder haben.
Ein Pfund Versuchen wird ein Gramm Gelingen.
Sommer, unter den Silberlinden verhungern
die Hummeln an Nektar ohne jeden Nährwert.
Warst du so klug, wärst du gar nicht hier,
oder willst du nichts erreichen? Zwei Tage
halten die meisten aus, dann sind sie weg.
Willst du nicht reich werden? Die paar Fragen.
Du sitzt doch den ganzen Tag über Büchern.
Davon vergreist du auch nur oder du willst
auswandern oder wirst auf der Stelle depressiv.
Krieg ich was ab von deiner Million? Hol mal
Mettbrötchcn. Überall diese krepierten Bienen.


Ein Gedichtband, den man mehrmals lesen will, Deutungen suchen und immer wieder neue Aspekte hinzufügen. Hendrik Rost hat uns vieles zu sagen, den nächsten Band erwartet man mit großer Neugierde.

Drei Gedichte von ihm selbst vorgetragen.

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Sonntag, 7. November 2010

Nachlese: Verlagsmarketing oder der Verlust der Individualität

André Schiffrin
Verlage ohne Verleger
Über die Zukunft der Bücher
Mit einem Nachwort von Klaus Wagenbach
Berlin 2000, 125 Seiten, Paperback,
8,90 €, Wagenbach

Der Autor, ein wichtiger Vertreter des internationalen Verlagswesens, dessen Eltern schon in schwierigen Zeiten dieses Business betrieben, wurde in Paris geboren und lebt heute in New York. Er leitete lange den Pantheon Verlag, heute The New Press und verschwor sich nie der Krankheit des modernen Verlags- und Buchhandelswesens, die nichts anderes als eine Krankheit zum Tod der Individualität bedeutet, wären da nicht die tapferen und selbstbewussten Versuche jener Verlage, die sich der Individualität, Presse- und Meinungsfreiheit und Denkweisen von Andersdenkenden annehmen. Würden Kafka, Brecht, Tucholsky, Alfred Adler, C.G. Jung usw. heute noch verlegt? Das ist die entscheidende Frage. Kafkas erstes Buch erschien mit 800 Exemplaren, Brechts Werke und die der anderen kamen anfangs auch nicht über diese Hürde. Autoren dieser Individualität nehmen sich heute nur noch die unabhängigen Verlage an - so lange sie es (noch) können.
Das Dilemma und die Krankheit der Verlagswelt heißen heute Großkonzerne und überzogene Gewinnerwartungen. Bereits in den 70er-Jahren hat diese Entwicklung in den USA begonnen und ergriff spätestens in den 90er-Jahren die deutsche Verlagswelt. Wichtiger Änderungspunkt: die Übernahme von Random House durch den Bertelsmannkonzern 1998, der gleich darauf auch noch Barnes & Nobles, den Riesenbuchversender nach Amazon, kaufte. Nach 2000 machte sich die Aufkaufbewegung rasant durch weitere Übernahmen deutscher Verlage unter dem Hauptlabel Random House deutlich bemerkbar. Dutzende Verlage verloren ihre Eigenständigkeit.
Random House selbst wurde vor dem Verkauf an Bertelsmann von einem Jahresumsatz von 60 Millionen $ in 15 Jahren durch Gewinnerwartungen von 15 bis 30 % und systematische Zukäufe auf einen Umsatzwert von 1 Milliarde $ hochgezwungen, wobei Legionen von interessanten und seltenen Büchern, Vielfalt, ganze Abteilungen, Verlage und unzählige Lektoren auf der Strecke blieben. Die Gewinnberechnungen und -erwartungen werden einfach von gut gehenden Industrieprodukten (z.B. Pkw) auf die Buchwelt übertragen. Da der neue Einheitstyp "Erfolgsmodell nach Lesererwartung" kaum noch Bearbeiter erfordert, sondern ein reines Reißbrettprojekt mit Planung durch Marketingfachleute und anschließender Herstellungsbetreuung ist, beliebig kopier- und veränderbar, mit immergleichem zielgruppenangepasstem Inhalt (!), bedeutet dies eine Veränderung der Pluralität ins Immergleiche. Folge dieser Entwicklung: Das jahrzehntealte Programm mit wichtigen Werken, von Anhängern der Literaturgeschichte und von Literaturliebhabern gefragten Titeln, verändert sich hin zu Aktualität. Seltenes, Grundlegendes, nur für manche Wichtiges verschwindet aus dem Verzeichnis der lieferbaren Bücher. Vielleicht noch auf dem Markt der gebrauchten Bücher zu finden, eher aber untergegangen. Bei Ratgebern, Sachbüchern und anderen Büchern, die von der Aktualität leben, ist das dagegen Natur der Sache. Diese Verlage haben jedoch wieder gegen die Geschwindigkeit der Information im Netz anzukämpfen.
Der Sog und die Kreisbewegung der unerbittlichen Gewinnmaximierung zerdeppert auch das Jahrhunderte gewachsene Gefüge der Buchlandschaft, die zwar nicht weltbewegend viel im Vergleich zu BP und Co. erwirtschaftete, immerhin jedoch 3 bis 5 % Gewinn pro Jahr, aber mit dieser Erwartung plus Buchpreisbindung stabil wachsend operieren konnte! Die Masseneinheitsprodukte überlagerten in den letzten Jahrzehnten alles, wurden häufiger gekauft, weil preiswert und wegen des Imitationscharakters: "Jeder hat so was, ich brauch das auch". Erfolgreiche Verkaufspychologie des "Me too". Massenprodukte führen jedoch lediglich zur McDonald- und Coca-Colaisierung, Qualitätsverlust und langfristiger Versteppung und Verödung des Geistes. Erosion ganz im Sinne der Erfinder? Klar, die Zielgruppe kauft immer wieder dasselbe!
Der Wettbewerb wird immer unerbittlicher, das 250. Buch zur Wellness-Therapie zu Hause mit noch mehr Farbfotos, noch ansprechenderen Models, noch ungewöhnlicheren Anwendungen, das 20. Buch zum gekonnten Ändern der individuellen Lebensbestellungen beim Universum (mit Musterformularen auf CD zum Ausdrucken) ... Der Lyriker mit ansprechenden Gedichten verhungert noch mehr als früher, glückliche Hartzbezieher  ... Die Romane vom Experimentator von einer Handvoll Lesern gelesen ... Das Karussell dreht sich schneller und schneller ... und braucht fast keine Mitarbeiter mehr ... Lounge-, House- und Technoeinerlei aus dem Computer forever! Total postmodern der eilige und unaufhaltsame Übergang zum Geklonten (siehe hierzu auch "Das Lachen der Pandora").

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Mittwoch, 3. November 2010

Buchbesprechung: Das Lachen der Pandora (Unabhängige Verlage in Deutschland)

Magdalene Pennarz
Das Lachen der Pandora
Dresden 2009, 236 Seiten, 
Hardcover, A5, 17,90 €, Dresdner Buchverlag


In einer Zeit zunehmenden Interesses an kontroversen psychologischen und sozialkritischen Themen wendet sich dieses auffallende und sehr ungewöhnliche Werk an eine zeitkritische und ganz am Puls des Zeitgeistes orientierte Leserschaft. Nicht nur die Betrachtung von ungewöhnlichen, oft durch Manipulation geprägten Beziehungen zwischen Menschen, sondern in erster Linie Einblicke in die skurril, surrealistisch anmutende Alltagswelt der einzelnen Protagonisten verschaffen dem Leser den Eindruck, es mit einer unnatürlichen, fremden Gesetzen gehorchenden Romanwelt im Reich der irrealen Phantasmen zu tun zu haben.
Der Roman bewegt sich auf verschiedenen Erzähl- und Zeitebenen. Größtenteils wird die Handlung jedoch aus der Perspektive der Hauptprotagonistin Anna vorangetrieben. Dabei ist die Rahmenhandlung scheinbar linear und teleologisch auf ein Ziel ausgerichtet, weil alles in gewisser Weise voranschreitet. Die Handlung kommt jedoch nirgends an, oder anders gesagt, sie mündet in eine unaufhaltsame Kreisbewegung fast schon des Universums. Die große Schlussmetapher ist das Karussell, dessen Kreisbewegung zunächst mit Leierkastenmusik, dann mit Schlagern und schließlich verstärkt mit dem mechanischen, automatischen Sprechen, und noch stärker, dem immerzu auftretenden und meist deplatziertem Lachen der Anna wie in einem Wiederholungszwang untermalt und betrieben wird. 
Alles erscheint wie eine zeitlose Dauerbewegung am Beispiel einiger Betroffener. Anna, die treibende Kraft, wird gegen Ende des Romans sozusagen renoviert, runderneuert, um dem endlosen Treiben als unverbrauchte, in gewisser Weise attraktiv und sonst dominant wirkende, alles antreibende Frau beizuwohnen. In vielen ineinander verflochtenen Handlungssträngen werden Erlebnisschnipsel eingebaut, die wie kafkaeske Filmsequenzen Irrationales, Unbewusstes, Vergangenes und Mögliches zu einem skurrilen, postmodernen Puzzle zusammenfügen, in dem die einzelnen Menschen schon in der wievielten Generation isoliert, sinnentleert hausen. 
Eine Aneinanderreihung von Metaphern für den modernen bewusstseinlosen Menschen, der einem Lebenstrieb folgend in den Sog der Auflösung gerät. Als ob im Hintergrund ein immergleicher Dauerrhythmus wie von Techno- oder Housemusik abliefe, wird mit einer Stakkatosprache, die zwanghaft hängen bleibt, wiederholt, teilweise ihre ganze Struktur und alle Regeln verliert, diese sinnlose Entwicklung aufgespult. Die Leute, mit denen Anna zu tun hat, werden erzogen, trainiert, ohne Liebe behandelt. Als ob alles ein Vergnügen wäre, wächst die klassische Konditionierung und sinkt die Menschlichkeit ins Bodenlose. 
Die Romanpersonen machen zunehmend und immer stärker eine Scheinentwicklung mit, können aber wegen nicht vorhandener Persönlichkeit nur regredieren, der Überfrau und -mutter Anna folgen - ob sie wollen oder nicht. Am Ende von Annas Lachstrecke sind die Menschen wie geklont, gleich gekleidet, gleich groß, sie steigen in die Karussellfahrzeuge und auf die Karusselltiere, fahren mit, verschwinden im Kreissog, es werden immer mehr Mitfahrer, überladen dreht sich eine  ungeheure Kreisbewegung ins Nichts ... 
Thomas Bernhards sich einhämmernde Sprache der Wiederholung, wie sie in vielen seiner Werke zelebriert wird, so im Roman "Kalkwerk" oder in seinen Theaterstücken, taucht hier genauso in die Kreisbewegung des Immergleichen wie die Handlungen von Samuel Becketts Theaterstücken. "Warten auf Godot" wird mehrfach angesprochen... Das Lachen der Pandora-Anna ist wie ein nivellierendes, indifferentes Abschleifen der Individualitäten und steht daher ganz in der mythologischen Tradition von Pandoras Unheilbringern. Unheil und Schlechtes entweicht dem Mund der Anna, sobald sie anfängt zu reden und zu lachen, die Auflösung geht ihren Gang ...

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Buchbesprechung: Bis später - Ventil Verlag (Unabhängige Verlage in Deutschland)

Sabine M. Krämer
Bis später 
Roman
Mainz 2010, 138 S., Paperback, (Hardcover geplant)
14,90 €, Ventil Verlag

"Der Ventil Verlag wurde 1999 als Zusammenschluss des Verlags Jens Neumann, der Literaturzeitschrift Ventile - Texte & Bilder (amanita-media) und der Buchreihe testcard - Beiträge zur Popgeschichte gegründet. Der Verlagssitz ist in Mainz. Im Jahre 2004 kam es zum Zusammenschluss von Ventil Verlag und dem 1999 gegründeten und von Theo Bender geführten Bender Verlag." (wikipedia). Zu den Veröffentlichungen zählen Bücher über Hip-Hop, Free Jazz, Popjournalismus, Popliteratur, Punk, Hardcore Punk sowie rechte und reaktionäre Tendenzen in der Popkultur, Feminismus und Queer Studies.

In sehr eindringlicher und äußerst feinfühliger Art hat Sabine Krämer hier verschiedene Momentaufnahmen am Ende des Lebens entworfen. Innere Monologe von Todgeweihten, Greisen, Menschen, die oft noch nicht abgeschlossen haben mit ihrem Leben und nicht verstehen, warum sie jetzt im Hospiz sind, gehen sollen, oder unklare, wirre Vorgänge erleben. Sich fragen, weshalb dies und das mit ihnen passiert oder nicht passiert, mit ihnen getan wird oder unterlassen wird zu tun. 
Die Vergangenheit, die Gegenwart und die ungewisse Zukunft greifen ineinander, der Blick schwenkt zurück, in die Jetztzeit und in die Zukunft - hin und her. Die Innenschau verschiedener Menschen ist der Autorin sehr gut gelungen. Viele Senioren werden sich in ähnlicher Lage wiedererkennen oder Jüngere werden verstehen, was in einem alten Kopf vorgehen kann.
In der letzten Geschichte der Blick von der anderen Seite: Die Pflegekraft, die in verschiedene Räume geht, ganz Unterschiedliches erlebt, Patienten mit sich selbst beschäftigt sieht oder mit überraschend gestorbenen Menschen konfrontiert wird, teilweise erschreckende Situationen, weil Menschen im Todeskampf oder durch einen Unfall unnatürliche Positionen im Sterbebett einnehmen. 
In diesem kleinen Bändchen mit großer Wirkung hat Sabine Krämer die Übergänge von Leben zu Tod in der Pflegesituation erlebbar und nachfühlbar gemacht.


"Diesmal ist es wirklich der Anfang. Ich werde nicht mehr aufstehen können, meine  Knochen werden nicht mehr heilen. Es dauert nur wenige Tage, bis sich auf diesen Knochen nichts als nur noch Haut spannt. Es ist Sommer geworden. Die Mittags- und Nachmittagssonne knallt auf die Hauswand, auf die zugezogenen Fensterläden, hinter denen mein  Bett steht, die Luft dick und heiß, sie riecht nach Erde.


Ich muss aufstehen. Ich habe zu tun. Ich muss packen. Ich werde abgeholt! Meine Hände greifen nach dem  Koffer, nach den Kleidern, den Geschenken ins Leere. Meine Füße finden keinen Boden. Und dann ist da dieses Fest draußen vor meinem  Fenster. Die Musik: Wir kommen alle alle alle in den Himmel. Weil wir so lieb sind."


"Sie haben mich aus dem Haus geführt und hierher gebracht. Hier hat man mich am selben Abend in den Keller,in dieses Bett gebracht. Ich habe nur eine Nacht hier drin geschlafen und am nächsten Morgen schon habe ich nicht mehr aufstehen können. Seitdem liege ich hier. Ich komme nicht mehr raus, im Leben nicht mehr. Aber du, du kommst jetzt zu mir. Steig über das Gitter. Komm, leg dich zu mir. Ich hab hier Platz nur für dich. Ich deck dich zu mit meinem weißen Hemd.


Da drüben bist du, mein Schatz, nicht zu fassen. Steig über den Zaun. Komm zu mir in den Garten. Siehst du die kleinen roten Lichter überall, die Blumen, die Steine? Mein Häuschen so groß wie ich und du. Meine Hände sind braun, sagst du, mein Mund  ist braun. Was ich gemacht habe, fragst du. Ich bin im Garten, es ist feucht. Herbst ist, hier im  eckigen Untergeschoss. Es ist dunkel. Ich will nichts, nur dich."



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Sonntag, 24. Oktober 2010

Buchbesprechung/Autorenlesung (26./27.10.10): Kim Kwang-Kyu (Unabhängige Verlage in Deutschland)

Kim Kwang-Kyu
Botschaften vom grünen Planeten
Gedichte
Aus dem Koreanischen von Chong Heyong  und Birgit Mersmann,
Nachdichtungen  von Heinz Ludwig Arnold.
Göttingen 2010, 96 S., Hardcover mit Schutzumschlag,
18,- €, Wallstein Verlag
            
Charakteristisch für Kim Kwang-Kyus Gedichte ist die moderne unverschörkelte Sprache mit großer Nähe zur Prosa. Thematisch drehen sich seine Gedichte um Menschliches - um die Beziehungen von Menschen untereinander, von Menschen  zu Göttern und zur Natur.
In dem Titelgedicht »Botschaften vom grünen Planeten« geht es um die Vergänglichkeit des Menschen. Die Natur hingegen wird ihn überdauern: Denn so hochmütig der Mensch  ist, so blind ist er auch für seine Umgebung.
Der Autor liebt die Natur, beschreibt sie als das schneller als die Erddrehung sich entwickelnde Grün im Frühjahr - eine Metapher für die schnell vergehende Zeit des beschäftigten oder nicht mehr viel wahrnehmenden Menschen. Er verbindet Naturbilder auch mit Zerstörung, so die Wüste und der Völkermord, die Verwüstung des Menschlichen. Unter der geschickten Verwendung von ironischen und lakonischen Elementen spricht er Kritik an falschen Entwicklungen der Gesellschaft, an Unterdrückung, Leid und Erpressung aus. Hier kann Zeit bedrohlicher sein als normal, eine Todesdrohung in falschen politischen Verhältnissen, so in dem Gedicht "Unaufhaltbare Zeit".
In den Anmerkungen  finden sich Erläuterungen zu einzelnen Begriffen sowie eine Notiz
zur Vorgehensweise der Übersetzer: Heinz Ludwig Arnold hat nach Rohübersetzungen
Nachdichtungen unternommen. Eine interessante Begegnung über Ländergrenzen hinweg ...

Habenichtse
Sie besitzen nichts
nur Gummischuhe an den nackten Füßen
Jacken und Hosen Blusen und Röcke
aus Baumwolle
Aber sind sie nicht liebenswert
wie sie so dasitzen, nebeneinander
Jungen und Mädchen
auch wenn  sie nichts besitzen?
Diese Habenichtse
haben ein gutes Herz, sind kräftig
und arbeiten fleißig
Unter ihren Händen                                         
sprießen bunte Blumen aus der Erde                      
gedeihen prächtige Kürbisse auf dem Dach                 
Der frische Wind kühlt ihren Schweiß
und am  Himmel leuchten Sonne Mond und Sterne
Arm  in Arm
gehen sie als vertraute Freunde
Wange an Wange
werden sie ein zärtliches Paar
Erinnern wir uns:
Haben  unsere Eltern
mit klugem Kopf und kräftigen Händen
nicht viel erreicht
obwohl  sie nichts besaßen
als sie geboren wurden?
Da  sitzen sie nun
unsere lieben Töchter und Söhne

Unaufhaltbare Zeit                                 
Es war falsch, dass ich zur Rinderlende und zum Salat
eine ganze Flasche Rotwein getrunken habe.
Nun  sind sie gekommen.
Sie knallten mir eine Liste mit den Namen meiner noch
lebenden Schulfreunde unter die Nase und verlangten,
ich solle zehn davon ausstreichen.
Ein Zehntel meiner Schulfreunde hatte bereits die Welt
verlassen, doch sie verlangten von mir, dass ich noch
zehn streiche. Das konnte ich nicht.
Und musste es doch.
Ich strich mich selbst, weigerte mich aber, noch neun an-
dere zu streichen. Obwohl sie mich unter Druck setzten,
strich ich keinen mehr.
Die Zeit, die unaufhaltbare, rückt naher.
Für einen Augenblick wusste ich nicht, ob ich schlief
oder wachte.


Der Autor:
Kim  Kwang-Kyu,  geb. 1941, Studium der Germanistik in Seoul ab 1960; in den 1970er Jahren längere Deutschlandaufenthalte. Promotion über Günter Eich; bis 2006 Professur für Germanistik an der Hanyang-Universtität Seoul. Er ist einer der wichtigsten Kulturmittler und  Übersetzer aus dem Deutschen. Seit 1979 veröffentlichte er acht, auch international viel beachtete Gedichtbände sowie einen Band mit Prosa.

Heinz Ludwig Arnold ist seit 1995 Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen und hat sich mit etlichen Herausgeberschaften und Buchveröffentlichungen, vor allem im Zusammenhang mit Gegenwartsliteratur einen Namen gemacht. 1963 gründete er die Zeitschrift für Literatur "text + kritik", seit 1978 ist er außerdem Herausgeber des "Kritischen Lexikons zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG)" und von 1983 bis 2008 des "Kritischen Lexikons zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur (KLfG)". Von 1995 bis 2000 gab er die elfbändige Anthologie "Die deutsche Literatur seit 1945" heraus.    

+++ AKTUELL +++ AKTUELL+++AKTUELL +++ AKTUELL+++AKTUELL 

Lesung mit Kim Kwang-Kyu Moderation: Sylvia Bräsel
Termin:26.10.2010 um 11:30 Uhr
Leipzig, Gutenbergschule, Gutenbergplatz 8

Lesung mit Kim Kwang-Kyu Moderation: Sylvia Bräsel
Termin:26.10.2010 um 20:00 Uhr
Halle, Raum Hellrot, Mühlweg 22

Dialogische Lesung mit den Lyrikern Kim Kwang-Kyu und Jan Volker Röhnert Moderation und Einführung: Sylvia Bräsel und Chong Heyong
Termin:27.10.2010 um 19:00 Uhr
Jena, Schiller-Gartenhaus in Jena

Weitere Informationen finden Sie unter http://www.wallstein-verlag.de/9783835307476.html

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Freitag, 8. Oktober 2010

Buchbesprechungen: Friedensreich Hundertwasser bei Taschen

Hundertwasser
691A IRINALAND ÜBER DEM BALKAN, 1972
© 2010 Hundertwasser Archiv, Wien
Friedensreich Dunkelbunt Regentag Hundertwasser ist mehr als ein Künstler. Er ist ein Kunsterschaffer, ein Weg- und Weltgestalter, ein Naturintegrierer, ein "Assistent der Bäume", wie er es selbst ausdrückte, denn Bäume verkörperten für ihn die Natur, und ihre Naturwüchsigkeit, ihre biologische Krummheit bei gleichzeitig graziler oder mächtiger Ebenmäßigkeit, stand für Schönheit. 
Seinen bürgerlichen Namen hatte er früh abgelegt. Er ersetzte das "Sto" durch Hundert, den Friedrich durch Friedereich, Friedenreich, schließlich Friedensreich und erschuf sich mit diesem Namen Weltruhm. Es kamen noch zwei andere Vornamen dazu: Dunkelbunt und Regentag.
Er, der einen umfassenden Kunstanspruch entwickelt hatte, eingebettet in die Ökologie, die Kybernetik der Abläufe, er, der alle Bereiche des Lebens gestalten und umgestalten wollte. Hundertwasser sah sich selbst sogar - wie alle anderen Menschen auch - in erster Linie dazu bestimmt, der Natur zu dienen, sie als Vorbild zu integrieren, außerdem Humus zu produzieren und zu Humus zu werden.


 Friedensreich Hundertwasser wurde am 15.12.1928 in Wien geboren und starb am 19.02.2000 auf der "Queen Elizabeth 2" mitten im Pazifischen Ozean. Er wurde, wie er es immer wünschte, nackt in seine für Neuseeland entworfene Koru-Fahne gehüllt, 80 cm unter der Erde unter einem Tulpenbaum auf Neuseeland, seinem gelobten Land, begraben.


Ich habe mir drei sehr aussagekräftige Bücher zu Hundertwasser ausgesucht, die alle sehr geeignet sind, sich mit dem Künstler auseinanderzusetzen. Um es hier gleich vorwegzunehmen: Die reiche und sehr gute Bebilderung lässt keine Wünsche offen. Beste Aufnahmequalität, zumeist bestechende Druckqualität (obwohl Printed in China), kaum Farbverfälschungen,Goldtöne ganz rein wie vergoldet, eine Augenweide. Die Bücher stammen alle vom Taschen Verlag und sind neu von 10 € bis 30 € erhältlich. Zwei wurden und werden mit Special Price anlässlich des 25-jährigen Jubiläums von Taschen angeboten, und zwar die Darstellung von Wieland Schmied und die von Harry Rand. Die "Architektur" bewegt sich regulär um die 30 €. 

  
Wieland Schmied
Hundertwasser
1828-2000
Persönlichkeit, Leben, Werk
Köln 2009, 400 Seiten, Sonderformat, Hardcover
29,90 €, Taschen Verlag


In diesem sehr aufwändig und liebevoll im Sinne Hundertwassers gestalteten, für diesen Preis wirklich schon sehr opulenten Werk bekommt man einen fantastischen, sehr umfassenden Überblick über die Person und das Schaffen Hundertwassers. Leider ist das Schwarz als Hintergrundfarbe auf den Seiten sehr empfindlich und verkratzt sehr schnell.
Der Autor hat sehr viele Details aus dem Leben zusammengetragen, verbindet alles wunderbar mit den Schaffensperioden des Meisters, verzichtet nicht auf die  widersprüchlichen Seiten Hundertwassers. In sieben Kapiteln bringt uns Schmied Hundertwasser näher. Zunächst eine gekonnte Einleitung, die uns alles Wesentliche zum Künstler vermittelt, auch die Kehrseite des Erfolgs. Später die Anerkennung, internationaler Erfolg, der Hundertwasser nie in den Kopf stieg. Er blieb der immer schaffende Künstler, allzeit bereit mit seinem Malnotset aus Wasserfarben, Pinseln und Stiften Ideen festzuhalten.
In jedem weiteren Kapitel ein Stück mehr über den Künstler, zunächst die Anfänge, die Namensfindung, Wien, der Freund und Kollege Arnulf Rainer, der sich ganz anders entwickelte, die Naivität, Kindlichkeit im Blick, Ausdruck und in der Denkweise, die Farben und Titel der Bilder. Der Künstler im Aufbruch, auf dem Weg zu sich selbst.
Im 3. Kapitel die gesamten theoretischen Ansätze seine Grammatik des Sehens, das spektakuläre Verschimmelungsmanifest von 1958, vorgestellt in der Steiermark, München und Wuppertal. Es besagt, dass so wuchernd, sich ausbreitend und natürlich sich formend wie der Schimmelpilz unsere Architektur insgesamt, auch im Industriebereich sein soll. Keine Gerade, sondern immer das Organische und Vegetative - schöpferische Verschimmelung. Keine Diktatur und Zensur durch die Geometrie. Er ist darin ein radikaler Ökologe, der mit natürlichen Stoffen bauen möchte, Erdhäuser, Dachbegrünungen, Sonne, Licht, Wasser. Weiter die "Linie von Hamburg", 1959, wo Hundertwasser als Gastdozent an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste in Gemeinschaft mit Bazon Brock und Schuldt eine 10 km lange, spiralförmig ansteigende Linie in seinem Raum zeichnen wollte, was ihm nach 48 Stunden Laufzeit bereits untersagt wurde und zu einer Niederlegung der Gastdozentur führte. Seine "Brennesselaktion" in Paris, 1960, forderte die Zuhörer auf, als Zeichen der Solidarität mit Künstlern und Menschen  in schwieriger existenzieller Lage mit ihm eine Art Brennesselspinatsuppe zu essen, die die geforderte Autarkie von und Distanz zu Ausnutzung brächte. Berühmt wurden auch seine "Nacktreden" 1967 in München und 1968 in Wien, wo er nackt vor die Zuhörer trat und eine spontane Veränderung der Architektur durch den Wurf zweier mit Farbe gefüllter Eier an die Decke vollzog - ein Überraschungsauftritt anlässlich seiner Vernissage mit Skandalwogen in der Presse, da niemand mit Happening oder Spoantankunst vertraut war. Selbst das Polizeiverhör fehlte nicht, danach war die Aktion bei anderen Auftritten bekannt und ohne diese Auswirkung. Was wollte er damit erreichen? Es ging ihm dabei um die "dritte Haut", die Behausung des Menschen, die zweite ist die Kleidung. Er wollte damit auf die Wichtigkeit angemessener Architektur hinweisen, die wie eine dritte Haut sein soll, in der Nacktheit am besten erfahrbar - Natur in der Natur. Ebenso verwegen ist sein Schönheitsbegriff. Schöne Dinge sollen Hindernisse sein in der Wahrnehmung des allzu Glatten, Gefälligen, Fortschrittlichen. "Schönheitshindernisse sind nicht kontrollierte Unregelmäßigkeiten."    
[Anm. vom Hundertwasser Archiv für den Autor, auf Wunsch des Archivs von mir eingefügt:]   
Hunderwasser geht in mehreren Texten auf den Begriff „Schönheitshindernisse“ ein. „Fortschritt eher verhindern“ wird nicht thematisiert. Ein umfangreicheres Hundertwasser Zitat bietet eine aufschlussreiche Erklärung: „Wer kann Unregelmäßigkeiten gestalten? Der Mensch natürlich selbst, wenn er dazu fähig ist. Der Künstler. Aber am besten kann es die Natur. Es gibt keinen besseren Lehrmeister als die Natur. Nur die Natur schafft nicht reglementierte Unregelmäßigkeiten, wahrhafte Schönheitshindernisse. Man muß die Natur bewußt mitgestalten lassen an der Farbe. Das geht ganz einfach. Eine Wand braucht nur zu verwittern. Langsam verwittert sie, und es entstehen diese Bilder, die der Mensch gar nicht fähig ist, so schön und so perfekt zu gestalten.
(Hundertwasser, in: Farbe in der Architektur, 1981)“
oder
„Was wir jedoch dringend benötigen, sind Schönheitshindernisse. Diese Schönheitshindernisse bestehen aus nichtreglementierten Unregelmäßigkeiten. Und diese nichtreglementierten Unregelmäßigkeiten bestehen entweder aus Spontanvegetation oder aus der Kreativität des Einzelnen. Beides sind Schöpfungen, die sich gegenseitig ergänzen.
(Hundertwasser, in: Konkrete Utopien für die grüne Stadt, 1983)“
  
In der Folge positioniert Schmied Hundertwasser in der Tradition von Gustav Klimt, Egon Schiele, John Ruskins mit seiner Verehrung von Venedig und seiner Ornamentalik (Hundertwasser wohnte auch längere Zeit in Venedig), ferner Antoni Gaudi, Ferdinand Cheval, Rudolf Steiners Goetheanum und die Erd- wie Felsenhäuser in Nordafrika und auf Santorin. Wir erleben seine Malerei, seine Grafik, die er durch Varianten in den Auflagen individualisierte, seine Briefmarken und Nummernschilder, seine Nationalfahnen und Bibelillustration, erleben ihn als Umweltschützer. Eines seiner dringlichsten Projekte war die Humustoilette, die Bedeutung von Humusbildung = biologische Zerfallsprozesse erwähnte ich oben schon, die lediglich durch Belüftung und biologische Zersetzung funktionierte (wie man heute von unzähligen Versuchen in Ökogeländen weiß, geruchslos und zuverlässig). In Kawakawa, Neuseeland, durfte er 1999, 20 Jahre nach seinem Manifest "Scheißkultur - Die heilige Scheiße" in Pfäffikon am Zürcher See, eine öffentliche Toilette nach seinen Vorstellungen umgestalten, die heute noch Anziehungspunkt vieler Touristen ist.
Schließlich lernen wir Hundertwasser noch ausführlich als grünen und einfallsreichen landschaftsprägenden Architekten kennen. Sein Hundertwasserhaus in Wien, seine zahlreichen anderen realisierten Architekturprojekte, 23 in Deutschland und Österreich, sprechen eine so klare und angenehme Sprache, dass wir uns fragen, warum nicht verstärkt in diese Richtung gebaut wird. Alles unter dem Joch der Einsparungen, kantig, schachtelig, ungesund, ohne Grün. Bei Hundertwasser das Gegenteil. Schon seine Dachgärten sind eine Wucht, Spontanvegetation wird zu wachsender Naturlandschaft in luftiger Höhe und  verschafft den Menschen das Gefühl auf dem Land zu sein. So wollte er es immer haben, neben all den runden, farbigen und unregelmäßigen Schönheitshindernissen im Innern. Seine goldenen Kuppeln, nicht nur auf der Kirche in Bärnbach, sondern auch im Fernwärmewerk Wien oder an der Raststätte Bad Fischau, werden uns lange faszinieren. In Deutschland können wir in Plochingen, in Darmstadt, Frankfurt, Bad Soden, Essen, Uelzen (der Hundertwasser-Bahnhof wird von der Bahn gerade renoviert), Magdeburg, Wittenberg und im fränkischen Selb Meisterwerke seiner Baukunst entdecken.


Harry Rand
Hundertwasser
Köln 1993/2007, 200 Seiten, Großformat, Hardcover
9,99 €, Taschen Verlag

Einen deutlich kürzeren, aber ebenfalls sehr gelungenen Überblick über das Schaffen Hundertwassers bietet Harry Rands Darstellung. In einer gekonnten Collage aus Biografie, Stilentwicklung, Schwerpunkten, Ereignissen und Interviewteilen lernen wir Hundertwasser noch unmittelbarer kennen. Die vielen Original-Zitate erlauben uns ein authentisches Bild des Künstlers zu gewinnen. Sie lassen Hundertwasser lebendig erscheinen, geben uns Anlass, ihn neu zu betrachten und anders zu verstehen. Rands Zusammenstellung ist eine sinnvolle Ergänzung zu Schmieds Buch.


Angelika Taschen (Hrsg.)
Hundertwasser
Architektur
Für ein natur- und menschengerechteres Bauen
Köln 2006, 320 Seiten, Großformat, Hardcover
29,90 €, Taschen Verlag

Einen wiederum eigenen Zugang zum Werk verschafft diese vollständige Zusammenstellung aller architektonischen Projekte Hundertwassers. Wer nur seine Architektur genauer studieren will, findet hier sehr viele Möglichkeiten. Durch selbsterklärende Texte des Künstlers zu seinen Projekten, auch durch Reden, Anweisungen und Manifeste, lernen wir Hundertwasser als sehr engagierten  ökologischen Architekten kennen. Voller Hingabe und immer wiederkehrender Heraufbeschwörung der Natürlichkeit bettet er seine Projekte als Kleinodien in die Natur, schafft Augenfänge erster Klasse. Bei den Arbeiten zum Hundertwasserhaus in Wien ereigneten sich z.B. sehr häufig Auffahrunfälle, weil die Fahrer zu lange die Fassaden hinaufschauten. Schönheit als Hindernis, wie es Hundertwasser wünschte ... In reicher Bebilderung, aufwändiger Gestaltung und aussagekräftigen Texten erleben wir die Architektur Hundertwassers als eine hohe Kunst der fühlbaren Ästhetik der "Schönheitshindernisse".