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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Freitag, 10. September 2010

Nachlese: Kehlmann - Die Vermessung der Welt

Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt
Reinbek 2005, 304 Seiten, Taschenbuch,
9,95 €, Rowohlt (rororo)

„Warum er traurig war? ... Weil die Welt sich so enttäuschend ausnahm, sobald man erkannte, wie dünn ihr Gewebe war, wie grob gestrickt die Illusion, wie laienhaft vernäht ihre Rückseite. Weil nur Geheimnis und Vergessen es erträglich machten. Weil man es ohne Schlaf, der einen täglich aus der Wirklichkeit riß, nicht aushielt.“

(Leipzig/UA) Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machen sich zwei junge Deutsche auf, um die Welt zu vermessen. Der eine, Alexander von Humboldt, kämpft sich durch Urwald und Steppe, befährt den Orinoko, erprobt Gifte im Selbstversuch, zählt Kopfläuse von Eingeborenen, kriecht in Erdlöcher, Höhlen und Stollen, besteigt Vulkane, begegnet Seeungeheuern und Menschenfressern, belädt mit Leichen sein Boot, lässt sich an den Bug von Segelschiffen binden und gefährdet mehr als einmal das Leben des ihn ständig begleitenden Botanikers Bonpland und eines ihm treu ergebenen Hundes.

„Nach einigen Stunden entdeckte Humboldt, daß sich Flöhe in die Haut seiner Zehen gegraben hatten. Sie mußten die Fahrt unterbrechen; Bonpland ordnete Pflanzen, Humboldt saß im Klappstuhl, die Füße in einer Essigwanne, und zeichnete Karten des Stromverlaufs. Pulex penetrans, der gewöhnliche Sandfloh. Er werde ihn beschreiben, aber nicht einmal im Tagebuch werde er andeuten, daß er selbst von ihm befallen worden sei. Daran sei doch nichts Schlimmes, sagte Bonpland. Er habe, sagte Humboldt, viel über die Regeln des Ruhmes nachgedacht. Einen Mann, von dem bekannt sei, daß unter seinen Zehennägeln Flöhe gelebt hätten, nehme keiner mehr ernst. Ganz gleich, was er sonst geleistet habe. ...Manchmal bezweifle er, sagte Bonpland, ob er je heimkommen werde. Das sei nur realistisch, antwortete Humboldt und überprüfte, ob die Uhren beschädigt waren.“


Der andere der beiden, Mathematiker und Astronom, Carl Friedrich Gauß, der sein Leben mit Zahnschmerzen verbringen muss und mit Frauen verbringen will, springt dann sogar noch in der Hochzeitsnacht aus dem Bett, um eine Formel zu notieren. Er beweist im heimischen Göttingen, dass der Raum sich krümmt.

„Sie krachten in das Holzgestell eines Heustapels, ein Seil riß, der Korb kippte, Gauß rollte in eine Lehmpfütze, Pilatre fiel unglücklich, verstauchte sich den Arm und stieß, als er den Riß in der Pergamenthaut sah, so unselige Flüche aus, daß der von seinem Haus herbeilaufende Bauer stehenblieb und drohend seinen Spaten aufhob. Atemlos kamen die Assistenten und falteten den zerknitterten Ballon zusammen. Pilatre hielt sich den Arm und gab Gauß einen schmerzhaft festen Klaps.
Er wisse es jetzt, sagte Gauß.
Na, was denn?
Daß alle parallelen Linien einander berührten.
Fein, sagte Pilatres.
Sein Herz raste. Er überlegte, ob er dem Mann erklären sollte, daß er nur ein geschwungenes Ruder am Korb anbringen mußte, um den Luftstrom umzulenken und den Ballon in eine bestimmte Richtung zu zwingen. Aber dann schwieg er. Er war nicht gefragt worden, und es war nicht höflich, den Leuten Ideen aufzudrängen. Es lag so nahe, daß es bald einem anderen einfallen würde. Jetzt aber wollte der Mann ein dankbares Kind sehen. Mit Mühe brachte Gauß ein Lächeln auf sein Gesicht, breitete die Arme aus und verneigte sich...“


Alt, berühmt und schon ein wenig sonderlich geworden, treffen sich Humboldt und Gauß 1828 in Berlin und stellen fest, daß sie gar nicht so unterschiedlich in ihren Gedanken und Lebensweisen sind, auch wenn der Erste die Welt bereiste und der Zweite kaum seine Heimatstadt verließ.
Doch kaum sitzt Gauß in der Kutsche, in die er nur widerwillig einstieg, sind beide Wissenschaftler plötzlich tief verstrickt in die politischen Wirren Deutschlands nach dem Sturz Napoleons.
Mit hintergründigem Humor, den es zwischen den Zeilen zu entdecken gilt, beschreibt Daniel Kehlmann das Leben zweier Genies, ihre Sehnsüchte und Schwächen, ihre Gratwanderung zwischen Lächerlichkeit und Größe, Scheitern und Erfolg, die Zeit, in die sie geboren wurden und die Zukunft, die sie vorausdachten.
Dem Autor gelang ein Roman, aus dem der Leser viel lernen kann und der gleichzeitig auf köstliche Art und Weise unterhält.

Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren und lebt in Wien. Für seine Romane und Erzählungen, die in viele Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Candide-Preis 2005. Sein Roman „Ich und Kaminski“ wurde international zu einem großen Erfolg.
Zu seinen früheren Veröffentlichungen zählen: „Beerholms Vorstellung“ (1997), „Unter der Sonne“ (1998), „Mahlers Zeit“ (1999), „Der fernste Ort“ (2001), „Ich und Kaminski“ (2003), „Wo ist Carlos Montufar“ (2005).