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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Sonntag, 18. August 2013

Dichterhain: WÄSCHELEINEN von Kerstin Seidel

(c) pürüdo


Wäscheleinen


Wir stehen im Wind
wir erreichen sie nicht
stoffverbrämt eingebunden, voller Verlangen
nach Wortbruch, voller Sehnsucht nach Stürmen
die allein das Präsens verschonen - also uns

am Rand der Wiese sind sie aufgespannt
Gewebe aller Art Geschichten -
in denen Blut trocknet so wie Tränen, Ruß
und Geduld der Faden riss und neu gewebt
so mürbe, dass er hält, was du mir nie versprachst

dahinter die Häuser Landschaften von morgen
am Rand der Wiese sind sie aufgespannt
spazierten wir so Arm in Arm (in meiner Fantasie)
träfen wir auf sie, die windgesäumten
Geschichten und Gewebe aller Art.

(c) Kerstin Seidel

Dienstag, 16. Juli 2013

Geschichten: IST LIEBE ABWASCHBAR? von Karin Michaeli



Ist Liebe abwaschbar ?

Maria wusch drei Wochen ihre Bettwäsche nicht. Sie hatte über mehrere Wochen darinnen gelegen mit ihrem Geliebten. Der Geliebte war ein komischer Mann. Immer wenn sie kochte, leckte er die Teller mit der Zunge ab, wie ein kleiner Hund. Man brauchte die Teller danach gar nicht mehr spülen – so blank waren sie. Natürlich leckte auch Maria ihren Teller ab, um es ihm gleichzutun. Sie lachten über die blitzblanken Teller und lachten am meisten über sich selbst.

Wenn sie morgens wach wurden, erzählten sie sich ihre Träume und lachten. Wie sehr musste der Geliebte lachen, wenn sie morgens Träume erfand, in denen er vorkam in den unmöglichsten Situationen. „Geliebter“, sagte sie am frühen Morgen „mir träumte, Du hättest im Hauptbahnhof Fußball gespielt mit den Brötchen der Bäckerei Kamps und alle standen um Dich herum und applaudierten Dir !“ Das freute ihn sehr, weil er die Brötchen der Bäckerei Kamps nicht mochte. Er liebte die Brötchen von Terbeuyken.

Manchmal brauchte sie auch nichts zu erfinden, weil seine Umarmung ihr das Gehirn verschloss und das war noch schöner, als die Erinnerung an die nächtlichen Träume.

Er war ein lustiger Mann, der Geliebte. Wenn sie sich abends nach der Arbeit trafen, strahlte er sie an und küsste sie und freute sich immer wieder aufs Neue, sie zu überraschen. Mal hatte er eine besonders schöne Musik für sie aufgelegt, mal hatte er ein delikates Mahl zubereitet – manchmal stand eine besonders gute Flasche Wein auf dem Tisch und überhaupt brannte immer am späten Abend eine Kerze im Wohnzimmer, wenn er anfing, sie zu umarmen und zu küssen. Dann sang er kleine Lieder für sie, trug sie ins Bett, zog sie aus und machte das, was Geliebte mit ihren Geliebten so gerne tun. Er schaltete das Fernsehgerät an und sie genossen eng aneinander liegend einen Tatort, bevor die Erotik ihren Mantel der Nacht über sie warf.

Nun war er weg. Eine Reise nach Schottland musste er unternehmen, weil er dort ein kleines Haus in Besitz nehmen sollte, welches ihm vererbt wurde von seinem Onkel. Vielleicht würde für immer dort bleiben. Er wollte das Haus inspizieren, es renovieren und sich dort niederlassen. Sie sollte ihm in den Ferien folgen und mit ihm den schottischen Sommer genießen.

Danach würde sie wieder nach Berlin fahren in ihre Heimat, weil sie noch berufliche Verpflichtungen hatte. Bis zur Rente würde sie noch ein paar Jahre dort leben müssen. Der Geliebte hingegen war ein Lebenskünstler – und Lebenskünstler müssen nicht arbeiten. Wenn die ein Haus in Schottland erben, sind sie glücklich und leben dort ihr Leben. Wenn es sein muss, auch alleine.

Das erzeugte in Maria einen Konflikt. Wenn er sie doch so liebte, warum blieb er dann nicht bei ihr in Berlin ? Er könnte doch das Haus vermieten und bei ihr bleiben. „Du verstehst das nicht“, sagte er, „Es ist meine Freiheit, die ich dort erleben werde. Wir sehen uns alle paar Monate. Du kommst zu mir und ich zu dir und ansonsten ist meine Geduld so groß, das ich einen Elefanten mit den Zähnen ziehen könnte. Irgendwann bist du in Rente und dann leben wir in Schottland für immer zusammen in dem kleinen Haus“.

Maria musste bei diesen Worten stets weinen, wünschte sich doch so sehr, ihrem Geliebten immer wieder aufs Neue morgens die Träume zu erzählen und von ihm am Abend überrascht zu werden.
Keinesfalls wollte sie die kommenden Jahre in Berlin die Hälfte des Jahres alleine leben – und auch die Vorstellung, das man sich täglich schreibe und telefoniere, konnte sie nicht trösten.
„Wenn Liebe da ist, solle man sie auch leben und täglich aus ihr schöpfen können“, war ihre Devise. In ihrer Not suchte sie ihre Heilpraktikerin auf und bat um Rat.

Die Heilpraktikerin, eine erfahrene Frau, war empathisch und meinte, Maria solle diese Liebe beenden. Das sei auf die Dauer nicht gut für sie und sie habe etwas Besseres verdient.
„Aber wie soll ich das machen?“, jammerte Maria. „Wasche die Liebe einfach ab“, war der kluge Rat der erfahrenen Meisterin der Heilkunst.„Das Wasser wird dir helfen. Nutze es, wo auch immer du kannst !“

Maria befolgte den Rat und fing an zu putzen. Alle Fenster, alle Möbel, den Boden – ja sogar die Türen wusch sie ab. Es folgte das gesamte Geschirr, die Töpfe, der Backofen – es gab nichts in der Küche, was sie nicht gespült oder abgewaschen hätte. Es folgte die Bettwäsche, die Handtücher, eine Waschmaschine nach der anderen wurde in Gang gesetzt. Sie selbst lag jeden Abend über eine Stunde in der Badewanne und wurde langsam aber sicher auch innerlich sauber.

Nach zwei Monaten Putz- und Wascharbeiten war sie geheilt. Sie eilte zur Heilpraktikerin und berichtete ihren seelischen Zustand.
Nun, Sie werden es erraten. Diese Aktion des „Abwaschens der Liebe“ hatte die Liebe zu sich selbst stark gemacht. Maria hatte gelernt, mit sich selbst im „Reinen“ zu sein, hatte gelernt mit sich selbst klar zu kommen auf so wundersame Art und Weise, dass sie weit entfernt vom „Anhaften“ an den Geliebten nun wusste, das er der Richtige sei.

Sie fing an, ihre kleine Wohnung, ihre Umgebung zu lieben, war entspannt wie nie zuvor in ihrer heilen sauberen Welt, das sie voller Freude die Ferien erwartete, um zu ihrem Geliebten nach Schottland zu reisen.

Die Heilpraktikerin hatte sie gelehrt, worauf es ankommt.

(c) Karin Michaeli



Sonntag, 12. August 2012

SECHZIGTAUSEND. UND EINER. Von Annette Kallweit


Letzte Woche las ich irgendwo einen Satz, dass jedem Menschen rund sechzigtausend Gedanken täglich durch den Kopf gehen. Wow, dachte ich! Eine stattliche Zahl an kleinen und großen Gedanken, an wichtigen und unwichtigen, an inspirierenden und überflüssigen.

Solche Zahlen, die einem da so vor den Latz geknallt werden, lassen den Menschen, der ja nun viel denkt auch darüber grübeln, wo sie überhaupt herkommen, diese Zahlen als undefinierte Messgröße, die natürlich nichts über die Qualität der Gedanken an sich aussagen. Wer hat wie und wann festgestellt, dass es ungefähr sechzigtausend Gedanken sind, mit denen ich mich jeden Tag rumschlage? Hat man einem bemitleidenswerten Versuchsmenschen eine Gedankenzählmaschine eingebaut? Und bei welchem Gedanken drehte sich der Zähler weiter oder blieb er vielleicht auch mal stehen?

Ein einfach gedachtes „Boooahhhr“…zählt das schon als Gedanke? Oder was ist mit den Liedern, die ich schon mal in einem Dauer-Repeat-Modus mit mir rumtrage? Ist jede Liedzeile ein Gedanke oder ist das ganze Lied ein Dauergedanke?

Was ist mit dem einen Gedanken, der mich vielleicht den ganzen Tag verfolgt und nicht mehr aus seinem Bann lässt? Was ist, wenn es sich so anfühlt, als wenn ich den ganzen Tag an nichts anderes denken kann als an einen bestimmten Menschen? Und was ist, wenn einen Menschen den ganzen Tag die Sorge um den Arbeitsplatz umtreibt? Oder die Krankheit eines geliebten Menschen? Zählt die Maschine im Kopf da stetig weiter?

Machen meine Gedanken auch mal Pause?

Oder wird mein Gehirn eines Tages aufgrund des Dauerbetriebs seine Funktion am nächsten Kleiderhaken aufhängen und einfach nicht mehr mitmachen wollen?

Wann hören bestimmte Gedanken auf weh zu tun? Und wann erzeugt ein Gedanke die berühmten Flugzeuge im Bauch? Gibt es hierfür auch Untersuchungsmethoden oder Glücksmomente-Aufzeichnungsgeräte?

Gehören meine Träume auch mit in die Gedankenstatistik? Und was ist mit den sechshunderttausend Wörtern, die der Mensch angeblich täglich mit sich selbst wechselt? Wenn das alles leise summende Gedanken sind, dann kann die Zahl Sechzigtausend schon nicht mehr stimmen, dann hat die Zählmaschine doch ganz sicher versagt!

Oder?

Denke ich noch, wenn ich beispielsweise bei der Step-Aerobic ausschließlich damit beschäftigt bin, die Schrittfolgen einzuhalten, um bloß nicht vom Step-Brett zu kippen? Oder ist jeder Befehl der Vorturnerin ein aktiv ausgeführter Gedanke? Zählt ein „side leg pepita“ tatsächlich zu meinem eigenen Gedankengut?

Viele Fragen, wenig Antworten.

Egal, wo mich meine Gedanken an diesem Tag und an den nächsten und über-über-nächsten auch hinführen werden: Wenn ich meine sechzigtausend Gedanken zu Ende gedacht und das letzte Wort an mich selbst gerichtet habe, dann ist da immer noch ein allerletzter Gedanke übrig.

Der an dich.

(c) Annette Kallweit, Düsseldorf

Mittwoch, 27. Juni 2012

Dichterhain: HEIMKEHR von Walter Brusius




Heimkehr




Schon seit einiger Zeit ging Paul durch den Garten, an Büschen und Bäumen vorbei, aber er konnte sich an nichts mehr erinnern. Irgendwo hier im Garten war das Grab seines Vaters.

Die Mutter hatte so unter dem Verlust ihres Mannes gelitten, dass sie Paul, ihr Kind, dabei ganz vergessen hatte. So etwas kann passieren.

Nicht nur den Frauen.

Der Garten war sehr groß, ein hoher Zaun aus Eisen war drum herum. Die Tür quietschte wie eine von einem Gefängnis, das war schon schrecklich genug, und schwer war sie zu öffnen.

Man kann nicht ewig Kind sein.

Viel, viel, viel war mit Efeu zugewachsen. Wie eine Tischdecke bedeckte es vieles. Und machte den Garten dunkel.

Auch noch, dazu.

Die hohen Bäume, sie sahen mit den Ästen alle wie der Vater aus. 



Der Autor
Walter Brusius arbeitet und lebt seit 1982 in Bad Kreuznach als freischaffender Maler und unterhält dort ein Atelier. 
Mehr Informationen siehe PORTRAITS
 

Sonntag, 13. Mai 2012

GLÜCK MACHEN von Annette Kallweit

Erinnern Sie sich an mich?
Ich bin´s !
Der Stein von der Verkehrsinsel, dieser da, der weggekickt wurde und dann tagelang auf einem Zebrastreifen ausharrte. Um dann unversehens Karriere als Glücksbringer zu machen.
Ich glaube, das nennt man wirklich Glück! Mit ungewissem Schicksal trüb in den Tag zu schauen und dann auserkoren zu werden. 

 
Neuer Wohnsitz: eine warme und gemütliche Hosentasche.  Dass es so schwierig werden könnte, ein neues Leben als Glücksstein zu organisieren, das hätte ich mir auch nicht gedacht. Ich hatte mir das wirklich ganz einfach vorgestellt, bequem halt, so ein richtiger Sesselpupserjob.
Blauauge würde mich immer dann nett reiben, wenn er grade Glück brauchte. So bekäme ich jeden Tag ein paar wohlige Streicheleinheiten und würde Blauauge in der irrigen Annahme lassen, dass ich etwas mit seinem Glück zu tun haben könnte.
Dieser Mensch mit der wunderbar bequemen Hosentasche hatte aber ganz anderes mit mir im Sinn. Also zunächst mal. Er schrubbte mich wie ein Wahnsinniger mit einer Stahlbürste, weil er fand, dass ich zu schmutzig war und stank wie ein Iltis. Frechheit! Aber ich haderte nicht allzu lang mit meinem Schicksal, denn Blauauge trocknete mich zärtlich ab und legte mich auf die sonnenüberflutete Fensterbank. Okay, dass er mir zwei Kronkorken als Sonnenbrille auf die Augen legte, war jetzt nicht ganz so nett. Oder haben Sie schon mal mit zwei Bierdeckeln auf den Augen aus dem Fenster gucken können?

Irgendwie hatte mein Mensch mich dann vergessen. Tagelang starrte ich also in das Innere zweier Kronkorken und ließ mir dabei die Sonne auf den Bauch scheinen. Das nannte man dann wohl „Dösen für Anfänger und Fortgeschrittene“. Doch irgendwann ging es dann doch los mit uns beiden. Glücksritter und Glücksbringer sollten ein Team werden! Und zwar ein unschlagbares. Herrschaftszeiten, machte dieser Mensch es einem dann aber doch schwer. Er warf mich in Apfelbäume, um schneller an das begehrte Obst zu kommen.
Dann spielte er Fußball mit mir, um endlich Elfmeterkönig in seinem Fußballclub werden zu können. Ab und zu parkte er einen ausgelutschten Kaugummi auf mir, um sich diesen später wieder in den Mund zu schieben. Bah! Dann landete ich schon mal komplett mit Kaugummi in seinem Mund, weil er der Meinung war, dass Steine lutschen gut gegen Durst wäre.
Gestern erst legte er mich in seinen Kühlschrank, weil er hoffte, dass der sich dann durch meine blanke Anwesenheit ganz allein wieder mit Eiscreme auffüllen würde.
Menschen sind abergläubisch. Aber das wussten Sie ja sicher schon. Sonst würden Sie ja nicht auch hin und wieder Steine aufsammeln und sich das große Glück von ihnen erhoffen, oder? 

Alles in allem hatten Blauauge und ich doch großes Glück miteinander. Er nahm mich meistens mit auf seine abenteuerlichen Exkursionen und ich hatte doch den Eindruck, dass ich so den ein oder anderen Unfall verhinderte. Als er kürzlich ein nettes Mädchen kennen lernte, rieb er mich unaufhörlich und brachte schließlich den Satz heraus „Möchtest du mit mir ein Eis essen gehen?“
Und wissen Sie was? Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass sie nur deshalb ja sagte, weil sie unbedingt wissen wollte, was Blauauge da in seiner Tasche hatte. Das war nämlich ich. Und seither mache ich für zwei Menschen das Glück. Ganz schön anstrengend, das kann ich Ihnen aber flüstern!

(c) Annette Kallweit, Düsseldorf

Mittwoch, 18. April 2012

Für Sie besucht: Walter Brusius, Der Ziegenmelker (Ausstellung)

Das Nahetal gehört zu den schönsten Tälern in Deutschland. Es ist abwechslungsreich, zerklüftet, bietet Bade- und Sonnenbuchten, Bahnüberführungen wie im Modellbauland und viel Natur - am schönsten zwischen Birkenfeld und Bad Münster am Stein. Wer sich nicht nur die Natur, sondern auch eine humorvolle und sehr beeindruckende Ausstellung im Maler-Zang-Haus in Birkenfeld anschauen möchte, der kann Walter Brusius mit älteren und ganz jungen Werken kennen lernen: DER ZIEGENMELKER. Der Künstler wohnt am anderen Ende des Nahetals, in Bad Kreuznach, hat dort sein Atelier und ist mit seinen gesprochenen Geschichten auf Video im städtischen Blog vertreten. Eine Auswahl davon habe ich sehr gerne in meinen Blog aufgenommen. Seine Geschichten werden gemocht, zahlreich besucht, sind ungewöhnlich, scheinbar sinnentleert, wirken skurril und bizarr, absurd und lassen manch einen mit einem großen Fragezeichen und Erstaunen zurück. In seinen Atelierheften bekommt man quartalsweise Nachschub an den schönen Geschichten, außerdem lernt man Zeichner und Karikaturisten aus ganz Deutschland kennen, denn die Hefte entstehen in einer Koproduktion mit ihnen. Walter Brusius schreibt seine Geschichten nach deren Vorlage oder diese entstehen umgekehrt zu seinen Geschichten.




In diese Welt gehören auch die neuen Werke im Birkenfelder Maler-Zang-Haus, Saarstraße, die im letzten dreiviertel Jahr entstanden sind. Angeregt durch die ungewöhnlichen Postkarten der Onkel, die sie aus Paris schickten, zeigt uns Walter Brusius Dutzende von Motiven, die er von ihnen aus der Larousse-Enzyklopädie oder dem Wörterbuch ausgeschnitten und auf Postkarten geklebt erhielt. Alle aus der Erinnerung nachgemalten Postkarten sind mit grünlich-blauen oder mal gelben Hintergründen versehen und mit dunkelblauen Filzstiften bemalt. Er setzte für diese Erinnerungsarbeit, das Vorüberziehenlassen der Kindheit, der Erlebnisse und der Bedeutungen, die er den Postkarten und ihren Motiven zumaß, Plakafarben ein, die sich schwerer verarbeiten ließen als andere. Das brachte ihm mehrere Arbeitsgänge ein, denn die Farbwirkung war ganz anders als erwünscht und erst nach mehreren Durchgängen dort, wo er sie haben wollte. So sind in verschiedenen Ensembles Dutzende Porträts, Gegenstände und vereinzelt Wortfetzen arrangiert, die sich erst im Begehen der Zimmer als das outen, was sie sind ... Denn die Wortfetzen erlauben erst zwei Zimmer weiter eine Bedeutung herzustellen. Die Botschaft des Malers bewusst brüchig und Gedankenarbeit erfordernd, so wie wohl damals dem kleinen Jungen sich bruchstückhaft ein Bild von Paris zusammensetzte, quer durch die Jahrhunderte, wie er es heute in keinem Film erfahren würde. Versatzstücke einer entfernten, fremden, reizvollen, aber auch lustigen Welt von Menschen und Vorgängen.



Im Erdgeschoss die etwa 10 Jahre alten großformatigen, plakativen und intensiv durch kräftige große Acryl-Farbtupfen im Hintergrund wirkenden Bilder, von denen eines den Ziegen-melker darstellte. Ebenfalls Kind-heitserinnerungen an das länd-liche Geschehen in Nieder-wörresbach, dem Geburtsort von Walter Brusius, und zwar aufge-wachsen in der "Gass", einer steilen Straße, aus der die Urbe-wohner des Dorfes stammten ...



Eröffnet wurde die Ausstellung von Manfred Dreier, dem letzten Bürgermeister der Stadt Birken-feld (danach nur noch einer für die Verbandsgemeinde), dem ehemaligen Landrat, dem Kreis-tagsabgeordneten Prof. Wild, vielen Honoratioren der Stadt und Verbandsgemeinde sowie Ver-tretern der Kunst, z.B. Herrn Schmied, Vorsitzender des Kunstvereins Nahe, und Harma-Regina-Rieth, freie Künstlerin. Ferner Pressevertreter und last not least die CDU-Spitzenkandidatin in Rheinland-Pfalz, Julia Klöckner, ehemalige Wein-königin, die eine sehr ausführliche und informative Würdigung des Künstlers vornahm und ihm auch lachend verzeiht, wenn er lieber nichts mit ihrer politischen Richtung oder Religion zu tun haben will. Künstlerisch begegneten sich die beiden mit einer vom Künstler illustrierten und der Laudatorin betexteten Meditation über Bibeltexte für einen guten Zweck in Ruanda. Dort liebte man die Bilder von W. Brusius sehr, konnte man doch auch aus Gründen der Schrift- und Sprachunkenntnis die Texte gar nicht lesen. Für ansprechende Musik und Verköstigung war gesorgt. Die Ausstellung geht noch bis 10. Juni 2012.

Mittwoch, 4. April 2012

Ein ungewöhnliches Menü mit Madeleine Giese und Gavin West

Gibt es ein Leben nach dem Tod? Oh je, was sich da die Leute streiten, die Religionsgründer und -vertreter für Versprechen parat halten. Vom Dasein in den Armen von Jungfrauen, paradeisisch (!) verwöhnt und gebobbelt, bis zur Schwebeposition auf Wolke 10 und größer ... Die Inkarnation ist ja in Asien gang und gäbe, die Wiederkunft, bis man alles abgearbeitet und gesühnt hat oder in einem besseren Zustand, der Dalai Lama verzichtet gar auf die Wiederkehr, wenn er dafür Seelen retten kann ... Wie selbstlos ... Bei diesen Milliarden der Erdbevölkerung ist die Wiederkunft gegeben - und anders als im Christentum, das ist ja nur eine Auferstehung in Jenseitspositionen, aber nicht mehr auf der Erde, kennt - sogar mehrfach. Margarete Giese hat in ihrem Werdegang bereits die dritte Inkarnation innerpsychisch angetreten, was uns vor völlig andere Perspektiven stellt (siehe ihre Webpräsenz). Die Reifung des Ich durch Mehrfachtode im Leben ... Wobei wir ja auch beim Thema wären.

Tote und Tode, wohin das Auge blickt. Seit Jahren lässt sie sterben, an Giftchen, Mittelchen oder Safran, dieses beliebte Aphrodisiakum, das bei Anäis Nin schon für Zündstoff sorgte, überdosiert allerdings sehr gefährlich ist. Ihre Figur Gewürzhändler Dude stirbt in ihrem aktuellen RadioTatort "Der lachende Tod" an einer Überdosis Safran ... Sie hat übrigens bereits fünf Romane auf den Markt gebracht, zuletzt "Nachtvogelflug" beim Aufbau-Verlag. Daneben Erzählungen, Hörspiele und Krimi-Dinner.
Letzten Mittwoch, 28.3.2012, war Madeleine Giese im MAX, Winnweiler mit "ERLESENE ZWISCHENGÄNGE" - WEIN, WEIB, MORD" und las aus ihren Werken. Begleitend zu ihren fesselnden Geschichten und Songs spielte Gavin West gekonnt und überzeugend Jazzmelodien auf der Gitarre. Ich hatte ihn im Djulia Trio unlängst ebenfalls sehr positiv erlebt.
Bereits im ersten Song zeigte sich uns die männermordende, formulierungsvirtuose Autorin von ihrer lustig-genüsslichen "Killerseite", reihenweise Tote als Amuse-Gueulle.  Da sie  es  ja wirklich darauf anlegte, uns den Abend ordentlich zu verderben, jedenfalls den Appetit, hörten wir auch viel dergleichen. Sie kredenzte uns sodann ein Gedicht über die Vorzüge  des Champagners.
An dieser  Stelle muss ich gleich einfügen, dass meine Erwartungshaltung von Lesung plus Dinner so nicht erfüllt wurde. In der Planung wohl vernachlässigt, speisten die Leute oder waren schon fertig, als die Autorin erst zu den (Zwischen-)Gängen und eben am Ende zum Dessert  aufrief. Das hätte noch eine sehr angenehme Parallelität erzeugt, wenn es geplanter abgelaufen wäre. So war es auch kein Beinbruch, war aber nicht am Lese-Ablaufplan orientiert, was eine sehr gekonnte Note verliehen hätte.
Es wird Wein aus Persien kredenzt und die alte Überlegung, ob es besser sei nüchtern  oder mit einem Glas Wein über Probleme nachzudenken. Das alte Sprichwort aus Persien, besungen beim Klassiker Rumi, heißt ja "Wer Wein säuft wie Wasser, der ist ein Esel". Dosiert kann er dagegen beste Wirkung haben. Eine beeindruckende Statistik aus dem Altersheim Elisabethenstift Darmstadt aus dem 19. Jahrhundert brachte es übrigens auf 10.000 Flaschen Wein Konsum (man sprach dem Wein eine große Heilwirkung zu), 60 Flaschen Champagner (wer den wohl getrunken hat?) und 350 Flaschen Portwein pro Jahr.
In der Folgegeschichte ging es um einen 1-Dollar-Liebestrank und einen Lebensreiniger, die in einem Spezialgeschäft für Trinkkuren und -waren zu beziehen sind. Den Trank für 1 $ benötigt man, um die Lust anzukurbeln, und erlebt auch Ungeheuerliches. Leider macht er eifersüchtig, was das Gegengift Lebensreiniger für 50.000 $ erforderlich macht, um den nicht mehr ausstehbaren Partner zu beseitigen, sein Leben eben von ihm reinigt ...
In "Auf Bestellung Mord" geht es gleich mit einer Bestellung los. Das Missverständnis dominiert: "Soll ich den Fisch umbringen?" statt " ... eine Erfrischung bringen?" Die Sache eskaliert, aus einem Fauxpas, Ketchupbestellung im Restaurant zum Essen, und einer Bemerkung von wegen Übergewicht bei ihr kommt es zu einem zünftigen Streit auf der Dachterrasse, der in einem fürchterlichen Absturz endet.
In einer Abwandlung von Loriots Adventsgedicht offeriert Madeleine Giese ein Ostergedicht von der Försterin, die ihren Mann in einer sternklaren Nacht umbringt, quasi als Hauptspeise. Die Waldbewohnerin zerlegt ihren Mann sodann und schichtet elementare Teile fein säuberlich auf, die Reste verschenkt sie an die Osterhasen zum Weiterverteilen. In manchem Haushalt gellten dann wohl Entsetzensschreie beim Öffnen der Geschenke durch den Raum.
In "Herzenswünsche" ein absurdes Treiben von abgedrehten Persönlichkeiten. Zum Beispiel Ellen,  die chronisch nicht nein sagen kann, deswegen in Therapie ist, zum Geburtstag bei einer Feier für Sanna dabei ist, die einen Stripper geschenkt bekommen soll, der auch tatsächlich der Torte entsteigt, sich aber eher als Metzgergeselle entpuppt denn als erotischer Mann auf Bestellung, wie angekündigt. Im weiteren Verlauf der Party eine durchgeknallte Sanna, die nackt zu Stevie Wonders "Happy Birthday" tanzt, später ihre Brüste und mehr mit Nutella beschmierte, während die Feier absoff und Sanna ab dem nächsten Tag nicht mehr auffindbar war.
Zum Abschluss und Dessert gewissermaßen dann wichtige Informationen zum genussvollen Verbrauch von Kalorien. Während Küssen es nur auf 3 und Umarmen auf 4 kcal bringt, ist Intimverkehr schon besser, aber immer noch schwach, wenn nicht täglich praktiziert (dann 125 kcal), mit Extras 185 und ekstatisch 200 kcal. Orgasmus per se sind dann 40, aber vorgetäuscht schon über 140 kcal, was dann hinzuaddiert einen sinnvollen Verbrauch erzeugen kann. Solchermaßen informiert, sollten wir dann einen ausführlichen Liebesplan für jeden Tag aufstellen, um die Menüs von Madeleine Giese abzuarbeiten. Ein Trost,  da  wir aber eh nicht viel anderes zu uns nehmen, während wir zuhören, können die paar Kalorien auch relativ gut abgeliebt werden ... ;-)

Dienstag, 6. Dezember 2011

Kurzprosa: Mutschuh oder Der unscheinbare Typ

Fotos: Monika Müller

Splitterfasernackt saß Marie auf dem Boden ihrer gemütlichen Wohnküche und betrachtete diese Schuhe. Warum hatte sie sich bloß zum Kauf dieser irrsinnigen Stilettos überreden lassen?
Sie erinnerte sich gerne an diesen Shoppingnachmittag mit ihrer besten Freundin Bea. Sie plünderten die Boutiquen und lachten sich kaputt über gewagte Miniröcke und durchsichtige Blusen. Irgendwann landeten sie in diesem furchtbar hippen Schuhgeschäft und probierten alles an, was dieser Laden zu bieten hatte. Und sie erinnerte sich auch noch gut an Beas Worte, als sie in genau diesen Schuhen vor dem Spiegel hin und her wankte: "Los jetzt Marie, kauf die Dinger endlich! Du siehst rattenscharf darin aus. Immer läufst du in diesen unsäglichen Boots und Jeans und Shirt herum. Mach doch mal mehr aus dir, beton deine Weiblichkeit, sei nicht so ängstlich! Du schminkst dich nicht, hast eine Frisur wie ein Straßenbesen und trägst immer zwei Konfektionsgrößen mehr, als du eigentlich musst. Los jetzt, Marie, nun mach endlich!"
Es war wohl ein kleiner Anfall von Wahnsinn und Übermut, der sie diese wunderschönen Schuhe in einem orangeroten Ton zur Kasse tragen ließ. Die zweihundert Euro würden ein Riesenloch in ihre Kasse reißen, aber das war ihr in diesem Moment egal.
Und nun saß sie also da und der Missmut überfiel sie wie ein Albtraum bei Nacht. In fünf Stunden würde Bea bei ihr klingeln und sie abholen, um in diesem Tanztempel die Nacht zum Tag zu machen. Marie hatte überhaupt nichts, was nur annähernd zu diesen Schuhen passen würde. Ihre Lieblings-Cargo-Hose würde wohl kaum zu diesem Traum von Schuhen passen. Gedankenverloren streichelte Marie ihre Stofftiergiraffe und stellte sich die Frage, wie sie bloß unfallfrei die Wohnung auf diesen Schuhen verlassen sollte. Sie warf sich ihren alten Bademantel über und schellte bei ihrer Nachbarin, Freundin und Helferin in allen Notlagen. Bärbel brach beim ersten Anblick ihrer bemitleidenswerten Kreatur in ein ohrenbetäubendes Lachen aus. Bademantel, zerzauste Haare, Mundwinkel nach unten und in den Händen ein paar Schuhe, für die es normalerweise einen Waffenschein brauchte.
Zwei vergnügliche Stunden verbrachte Marie zusammen mit Bärbel in ihrem luxuriösen Kleiderschrank, begehbar und bis zum Rand mit den schrillsten Klamotten gefüllt, die dieser Stadtteil zu bieten hatte. Als Marie wieder in ihrer Wohnung war, war sie geschminkt und fühlte sich unwohl. Die Lockenwickler verunstalteten ihr Haar und sie kam sich vor wie Else Strathmann in ihren besten Zeiten. Nur dass sie keine Kittelschürze trug, sondern einen Rock, der für ihren Geschmack etwas zu weit über den Knien endete und einem Shirt, das ihre kleinen Brüste etwas zu sehr in Szene setzte.
Sie war verkleidet. Definitiv. Dieser Abend konnte nur mit einem Fiasko enden. Als Bea mit ihrer unnachahmlichen Präsenz ihre Küche in Beschlag nahm, herrschte ungewohntes Schweigen zwischen ihnen.
"Bist du das, Marie? Du siehst einfach nur phantastisch aus! Nur diesen einen Lockenwickler solltest du noch aus den Haaren zupfen, aber ansonsten..." Breit grinsend entkorkte Bea den mitgebrachten Prosecco und ließ ihren Blick prüfend von oben nach unten über Marie schweifen.
Als Marie dann endlich kurz vor Mitternacht ihre Wohnung verließ, schwankten nicht nur die Schuhe unter ihr, sondern der Boden gleich mit ihnen. Nun war schon alles egal. Auf in den Kampf! Mehr als blamieren konnte sie sich schließlich nicht.
Mit einem großen "Hallo" wurden sie von Beas Riesenclique in dieser schummrigen Tanzlocation empfangen. Marie mochte Beas großen Bekanntenkreis, da war immer was los. Aber im Großen und Ganzen waren diese Menschen ihr doch einen Tick zu laut und zu schrill. Marie mochte es lieber leise. Und so schlich sie wackelnd auf ihren viel zu hohen Schuhen Richtung Theke und trank ihren geliebten Holunderblütentee. Schon erstaunlich, dass es den hier überhaupt gab. Sie gab sich ihren Gedanken hin, hörte nur aus der Ferne das Bumbum der Discomusik und bemerkte so auch nicht, wie sich dieser eher unscheinbare Typ neben sie setzte.
"Tun dir eigentlich nicht die Füße weh in diesen Mörderschuhen?", fragte er lächelnd.
"Doch."
Und damit war für Marie das Gespräch beendet. Aber für diesen Typen nicht.
"Warum ziehst du sie dann nicht aus und tanzt barfuß?"
Das war ja mal eine Riesenidee! Sie kaufte sich für ein Schweinegeld diese Schuhe und sollte sie dann ausziehen, um barfuß durch die Nacht zu tanzen? Aber warum denn nicht? Der Kerl hatte Recht! Das war nicht sie, die da saß und sich nicht traute, irgendeine Art von Bewegung aufzunehmen. Es waren diese blöden Schuhe, die ihr jegliche Bewegungsfreiheit versagten.
Mit einer einzigen Bewegung landeten die Schuhe hinter der Theke und Marie stürmte die Tanzfläche. Mit nackten Füßen und einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Was für ein Gefühl der Freiheit! Sie tanzte stundenlang durch, ging zwischendurch auf die Toilette, um sich die Schminke aus dem Gesicht zu waschen und ihren Haarbesen wieder herzustellen. Und tanzte weiter.
Es musste wohl schon früher Morgen gewesen sein, als Marie vor dem Club auf ein Taxi wartete. Da war er wieder. Lächelnd und mit ihren Schuhen in der Hand.
"Ich glaube zwar nicht, dass du die noch brauchst, aber ich hab sie dir mal mitgebracht. Und falls du mal wieder barfuß tanzen willst: Ich hab meine Handynummer auf die Sohle geschrieben."
Als das Taxi los fuhr, hatte Marie sein Lächeln verinnerlicht. Unscheinbarer Typ? Was war  s i e  denn? Morgen würde sie ihn anrufen. Und danach die Schuhe in den Müll schmeißen.

Annette Kallweit, Düsseldorf
2011