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Freitag, 19. Juni 2015

Wie war's im Anti-Ödipus in Mannheim?

Zizek auf der Leinwand                    (c) Christian Kleiner

Udi Alonis ANTI-ÖDIPUS OR: KADDISH TO SHULAMIT ist ein eigenwilliges Stück. Es wirkt sprunghaft und sehr anspruchsvoll, es ist philosophisch, religiös und nihilistisch. Eigenwilliger ist der Nachspann, das Symposium in Mannheim nach der Premiere am 17.06. gewesen. Das Symposium glitt ganz schnell in einen Monolog des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek, der unbarmherzig und lückenlos, manchmal kaum nachvollziehbar und streckenweise wie ein Bruder des legendären Marcel Reich-Ranickis wirkte, der seine Philosophie, seine Schillerinterpretation und seine politische Richtung offenlegte. Hier kommt noch eine steife Brise Anti-Schiller zum Anti-Ödipus dazu.

Es ist mehr als ein Stück, es ist eine Proklamation der neuen Philosophie und Psychoanalyse, eine Agitation auf politischer Ebene und Deklaration der Daseinsberechtigung und Notwendigkeit des ödipalen Strebens. Proklamiert wird durch den Freund Alonis und geistigen Mentor Slavoj Zizek das Fortbestehen des Strukturalismus, die Anerkennung des Anti-Ödipus als Machtprinzip, aber gleichzeitig auch die Rückkehr zum Ödipus als einzige dynamische Neuerungsmethode. Proklamiert wird ein Theater als Refugium für alle Wünsche, Begehren, Eigenheiten und nihilistische Strebungen. Für Aloni ein Raum für unendlichen Schmerz, der alle Juden überkommt, denken sie an all das Leid der Jahrhunderte, kumuliert im Vernichtungslager Auschwitz als pars pro toto. Die Bühne ist aber auch ein Ort des ungestraften Auslebens des ödipalen Strebens für den Regisseur. Das Stück ist seiner Mutter Schulamit Aloni, einer großen Menschenrechtsaktivistin, Erziehungsministerin, Kulturministerin unter Rabin und Vorsitzende der Meretz-Partei, Rechtsanwältin und Schriftstellerin, gewidmet, die am 24.01.2014 mit 85 Jahren verstarb. Zizek tröstete Aloni damals damit, dass er an seine Mutter denken sollte, als sie begehrenswert war (recht krass, die Ödis unter sich: "fuckable") und nicht alt, dadurch würde die ödipale Kraft ihm wohl weiterhelfen. Die Kamera hielt denn auch mit unabgewendetem Blick und begehrlich die Mutter vor dem Tod fest.
 (c) Christian Kleiner

Agitiert wird - dies nur im Symposium - ein marxistisch-leninistischer Weg, den sich Ödipus wünscht, oder es tun sollte, als Ausweg aus der Krise, aus dem Neutralisierten, aus der Schwäche. Das Bild der bolschewikischen Frau, die stark, kampfbereit, gewalttätig tötet und liebt, mordet und dennoch gefühlvollen Sex mit Männern will, nicht darauf hingebungsvoll wartet, sondern ihn sich gleich holt, ist der Kastration des Mannes gleichzusetzen, denn bei ihr hat er Pech mit Schwäche! Anti-Ödipus geht hier die Bach runter, nur Ödipus schafft den heroischen Alleingang, in der Frau seine Mutter sehend, den Feind, den Vater, auszuschalten. Im Umkehrschluss dann gesund ödipal zu sein, wenn er so vorgeht wie die Bolschewikin, was man kaum will. Das war Stalin, heute sieht das anders aus. Durch die Evidenz der Schwäche, des Kastriertseins zeigt man eigentliche Stärke! Insofern ist auch das Totalitäre Vergangenheit. Die Sowjetunion erlebte einen Terror nach innen, wie kaum ein Land sonst. 57 Mio. Opfer der Politik unter Stalin! NS-Deutschland verwirklichte diese Innen- und später auch Außenpolitik zwischen 33 und 45 ebenfalls. Ob Schiller den schwarzen Peter bei Caroline von Schlegel gezogen hatte, die laut lachte, als sie die Glocke las, ist mir nicht bekannt, jedenfalls war sie auch eine kastrierende Frau, mit anderen Waffen allerdings. Aber Zizeks politische Vorstellungen sind so nicht zu fassen, dazu braucht es dann schon einen Text, wie auch alles, was er verlas, besser von den Zuschauern gelesen worden wäre, denn kaum einer wird ihm in seinem Gewimmel von Gedanken der Strukturalisten Jacques Lacan, dem großen Psychoanalytiker, der in Paris mit seinen Lesungen die größten Häuser füllte, sowie Gilles Deleuze und Felix Guattari (die Autoren des für Geisteswissenschaftler, Psychoanalytiker, Philosophen, Sozialwissenschaftler usw. großen 70er-Jahre-Buches Anti-Ödipus [1972]) wirklich gefolgt sein. Ergänzend wurden die poststrukturalistischen Ideen abgegrenzt, aber um solch anspruchsvollen Stoff verstehen zu können, muss man erstens strukturalistisch vorgebildet sein, zweitens hervorragende Englischkenntnisse haben, denn der Philosoph sprach nur Englisch (mit Akzent).


 (c) Christian Kleiner
Deklariert wird u.a. ein neues Weltbild des Ödipus nach Auschwitz. Das Wissen um die Massenmorde, all die Verbrechen an der Menschheit, den Sturz des Heiligtums Mensch durch Barbaren hat die große Schwäche, das Nichts, das Grauen vor dem Bösen, von dem fast alle Nachkriegsphilosophen oder -dichter sprachen, eingeleitet. Dieses Grauen muss neutralisiert werden, um es ertragen zu können. Hier kreuzen sich die Agitation und Deklaration, denn der neue Ödipus birgt beide in sich, den Anti-Ödipus und den klassischen Ödipus. Wo er nicht mehr begehren kann, weil der Tod dazwischen steht, fehlt die Kraft des Begehrens der Mutter, ihn zur Stärke zu bringen. Lösungen bieten Marx, Engels, Lenin und Zizek (wirklich?). Sie helfen auch, Schiller auf dem frühen Weg des Faschismus zu sehen (!).

Alonis Bühnenstück - mehr eine Show - fesselt und kommt sehr gut an. Wir verlassen ausgetretene Wege, experimentieren und und genießen das Minimalistische, Moderne ... Ein Popsänger, ein Rapper, Schauspieler und Regisseur, der Philosoph und der Regisseur des Stückes selbst inkl. seiner Mutter gestalten das komplett offene Stück. Der Fluch des Ödipus wird mit wunderschönen Worten besungen, währenddessen vielleicht 15 Minuten lang ein Mann mit nacktem Oberkörper und Kapuze über den Kopf sich tänzelnd im Kreis bewegt, das Ende im Anfang, das Gift mit der Muttermilch ... Später dann immer wieder, "Ödipus war von Anfang an tot!" Natürlich, das Omen will es so, es ist prophezeit. Szenische Zitate aus der Antike, die verhüllten Musiker, ein trauriges Lied mit Gitarre und Violine gipfeln in der Aussage: Nachts sind beide allein miteinander, "der Schmerz und ich". Hier wird die Parallelhandlung, Gedenken an die Mutter eröffnet, Aloni bringt seinen eigenen Ödipus ins Spiel. Ein verhüllter Musiker am Schlagzeug auf der Leinwand, er selbst im Spiel. Die Erlebnisse der Juden schwingen mit.

Eine weitere Handlungsschiene in der Videoprojektion ist die theoretische Unterlegung und Erläuterung von Zizek, vor allem zu Franz Rosenzweigs (*1886 Kassel, +1929 Frankfurt a.M.) jüdischer Religionsphilosophie, ihre Auswirkungen etc.
Rosenzweig musste die letzten Jahre seines Lebens komplett gelähmt mit Verlust der Sprechfähigkeit
(Amyotrophe Lateralsklerose [ALS] wie Stephen Hawking und Lou Gehrig) seine Gedanken zu Papier bringen und diktierte zuletzt seiner Frau mittels Augenblinzeln (wohl nach dem Morsealphabet).
Das patriarchalische und sehr konservative Bild ist im Prinzip frauenfeindlich, kennt keine Demokratie oder Gleichstellung. Frauen sind für ihn eine Katastrophe in der Politik, Rosenzweig denkt sie weg. Die ergebene, dienende Frau, die nur unter reifen Männerhänden wirklich gedeihen kann, ist sein Ideal. (Hier lässt sich Ödipus am besten ausleben ...)

Zu Beginn der Schöpfungsgeschichte steht das Aleph, der Anfangsbuchstabe der hebräischen Wörter Gott, Welt, Mensch, es umfasst alles, die Offenbarung oder Philosophie, die Schöpfung oder Kunst, die Erlösung oder Politik, zugeordnet ist in dieser Reihenfolge auch das Ich (Kind), Mutter und Vater (Positionen sind sehr wahrscheinlich austauschbar). Und diese Triaden wie auch Verbindungen untereinander zeigt und symbolisiert in perfekter Weise der Davidsstern. Der Davidstern wird an dieser Stelle zur Metapher für eine komplexe Religions- und Weltanschauung, und damit die Religion zur Kunst. Auch wenn Don Quichote als Emblem für die Ausweglosigkeit besser geeignet wäre. Ich konstatiere hier, dass dasselbe Prinzip für das christliche Kreuz, den Schwarzen Stein und Buddha etc. funktioniert, nur die Inhalte der Religion sowie ihre Auslebung sind unterschiedlich. Fragt sich auch, ob das dann noch Kunst oder lediglich brutales Herrschaftsinstrument ist.
 (c) Christian Kleiner


Die Weissagung des Teiresias ist denn auch die Schlüsselszene aus dem antiken Sagengut, Bühnenstück und Deutung. Weil die Wahrheit unerträglich ist, seinen Vater Laios getötet zu haben, ohne zu wissen, dass er es ist, um die Mutter besitzen zu können, ohne es zu wissen, dass sie es ist, und Vater wie Bruder seiner Kinder (die Zwillinge Eteokles und Polyneikes sowie Antigone und Ismene) zu sein, der Anblick nicht länger möglich, muss Ödipus erblinden. Ein Bote deckte alles auf, und die Welt stürzt ein. Ödipus versucht seine Mutter Iokaste zu töten, weil er sie wohl für alles verflucht, verantwortlich macht (die Geburt!), aber sie hat bereits Selbstmord begangen, weil sie die Katastrophe ebenfalls verstanden hatte. Er sticht sich danach bei Sophokles die Augen aus mit den Nadeln ihrer Kleiderspangen, um die Wahrheit nicht mehr sehen zu müssen und um sich selbst zu kastrieren! Es war ja kein Vater mehr da! In der Psychonanalyse wird die Kastrationsdrohung des Vaters entscheidend für den Abschluss des ödipalen Strebens, erfolgt sie nie, dauert sie an oder endet sie durch (symbolische) Selbstkastrierung. Aloni bringt auch den Tod von Jesus Christus ins Spiel, der ebenfalls in größter Not Schwäche zeigen muss, die zur Stärke wird, was später die Macht der Religion entstehen ließ.
Worin aber besteht die Macht und Stärke des Ödipus? Eigentlich doch nur einer der größten Tabubrecher der Geschichte zu sein. Er hat ES getan! Und hier lassen sich Unmengen von Tabubrechern ansiedeln, von der antiken Mythologie über das römische Reich, die Christenzeit und Entstehung der Weltreligionen bis zur Gegenwart und zurückliegenden Totalitärstaaten in Europa. Caligula, Karl der Große, viele Päpste, die Türken, Hunnen und Mongolen, die Zaren, die Könige und Kaiser, die Bolschewiki, Stalin 
und Hitler undundund waren ebenfalls große Tabubrecher, die den "heiligen" Mensch mit Füßen traten. Erschreckend ist: Ödipus ist der Motor der Geschichte! Bestraft hat sich Ödipus selbst, mit ihm viele seiner Leidensgenossen, denken Sie an den letzten Tag im Bunker ..., der Rest wurde durch Dritte bestraft oder entkam ...
Es sind auch Bilder von Alonis Mutter, die Schwäche zeigen, die am Ende gezeigt werden, die ihre Macht über den Sohn und Stärke in der Erinnerung vieler Staatsbewohner mitbegründete. Ein finales Meditieren über seine Mutter. Ihr Eintreten für eine Befriedung des benachbarten Palästina: "Lass uns zwei getrennte Wege zusammen gehen und lass uns einfach eins sein..." wird auch für die weitere Mutter-Sohn-Beziehung entscheidend.


FAZIT: Das Stück bei den 18. Schillertagen in Mannheim konfrontiert den Zuschauer auf mehreren Ebenen mit unterschiedlichen und schwierigen Sachverhalten und Botschaften, schafft aber durch seine assoziative Verknüpfung von Inhalten auch einen Erklärungshorizont für vieles. Eine wirkliche Antwort zu finden bleibt dennoch schwer, Alonis "Anti-Ödipus" ist weit weg von einer Teleologie, Ödipus komplett offen und zirkulär, weil genetisch bedingt, sogar auswegslos. Zumindest die Lebensrealität mit Palästina scheint klar als Ziel formuliert, aber auch hier toben die "ödipalen Bestrebungen" im Kreis.

Dienstag, 16. Juni 2015

18. Internationale Schillertage // 17.06.2015: Anti-Oedipus or: Kaddish to Shulamit (Premiere)

18. Internationale Schillertage:
Anti-Oedipus or: Kaddish to Shulamit
am 17. Juni, 19.30 Uhr, Schauspielhaus

Am 17. Juni ist Udi Aloni mit einer Auftragsproduktion des Nationaltheater Mannheim bei den 18. Internationalen Schillertagen zu Gast. Udi Aloni, 1959 in Israel geboren, ist Regisseur, Filmemacher und Autor. Seine Arbeiten beschäftigen sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Kunst, Theorie, politischem Aktivismus und Theologie in der israelisch-palästinensischen Geschichte sowie der deutsch-jüdischen Philosophie. Sie werden weltweit in führenden Museen, Galerien und auf Festivals gezeigt.

Anti-Oedipus or: Kaddish to Shulamit ist ein visueller Midrasch für einen slowenischen Philosophen, einen israelischen Schauspieler, einen palästinensischen Hip-Hop Künstler und einen Trickster, inspiriert von leidenschaftlichen Debatten über Schillers Gedicht Die Freundschaft! Der jüdische Begriff Midrasch beschreibt dabei die forschende und deutende Struktur des Theaterstücks, die weder linear noch assoziativ ist – vielmehr baut sie Interpretation auf Interpretation. Der Trickster nimmt uns als Visual Jockey mit auf eine Reise durch die Zerstörung der Kernfamilie. Sie beginnt beim ersten Sohn, Kain, und folgt seiner Reinkarnation als Ödipus, Hamlet, Don Carlos und endet im Gespräch des Autors mit dem Geist seiner Mutter.

Regisseur Udi Aloni bittet Kollegen aus verschiedenen Disziplinen auf die Bühne, mit denen er seit Jahren in Dialog steht: Itay Tiran, renommierter israelischer Film- und Theaterschauspieler; Tamer Nafar, Gründer des palästinensischen Rap-Trios DAM; den israelischen Musiker Itamar Ziegler sowie Slavoj Žižek, den aus Slowenien stammenden Psychoanalytiker und Kulturkritiker und einen der führenden zeitgenössischen Philosophen.