(c) Monika Rittershaus |
Freitagabend, den 18.09.2015, bot die Frankfurter Oper eine seltene und sehr zwiespältig aufgenommene Premiere. Helmut Lachenmanns Oper DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN (UA 26.01.1997, Hamburger Staatsoper) war alles andere als leicht konsumierbar.
Im kompletten Bruch mit den Seh- und Hörgewohnheiten boten sich an eine stark atonale und dissonante Musik und eine zerhackte Sprache mit extremen Staccati in der Syntax, in der Einzellaute, Silben, schlicht Präfixe und Suffixe und andere Affixe, ein anarchistisches Eigenleben entwickeln, in völlig anderer Anordnung als der semantisch erforderlichen den Zuhörer irritieren. Nicht zuletzt durch bisweilen geradezu schussartige Betonungen, die geradezu wie ausgespuckt klangen. So das -fffff-t von Kraft. Mit einer hervorragenden Leistung der Musiker und des Chores sowie der beiden Sopranistinnen wurde ein Stück schwere moderne Komposition meisterhaft bewältigt. Unter der Regie von Benedikt von Peter wurde eine eigenwillige Oper verwirklicht.
Als Mittelpunkt des multimedialen Geschehens diente ein Podest, auf dem ein Mann (Michael Mendl 120 Min. mit stoischer Ruhe und Selbstbeherrschung) um die 60 Jahre plus sich mit einem Meerschweinchen beschäftigte, es streichelte, mit Kopfsalat fütterte, ganz dezent Torero spielte, es verhüllte und enthüllte, ihm Wasser zu trinken gab und es sehr lange festhielt.
Parallel zur Hilflosigkeit des kleinen Tieres zeigte sich eine bleierne Einsamkeit des Mannes und eine innige Liebe zum Meerschweinchen. Er schien geradezu ein Stellvertreter für das Mädchen aus dem Märchen von Hans Christian Andersen zu sein, der es verkörperte in einer moderneren Umgebung, das Leben zum Tod, hier eines Seniors in einer gefühlskalten gesellschaftlichen Umgebung. Wo (nicht nur) 1845 arme Kinder noch auf der Straße erfroren, wenn sie nicht rechtzeitig vor der Kälte im Winter gerettet wurden, sind es heute vereinsamte, alleinstehende Senioren in ihren Wohnungen, die ihre Lebenserhaltung und Heizung nicht mehr bezahlen können. Andererseits lässt sich die fürsorgliche Behandlung des Tieres auch als Ersatzumgang mit dem im Märchen erfrorenen Mädchen sehen. Liebe für das Mädchen, Schutz und Pflege.
Die Gesellschaftskritik ist es auch, die Lachenmann dazu brachte, die anarchistischen und hasserfüllten Gedanken der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin über Außenseiter der Gesellschaft und ihre Kritik am politischen System der "Schweine" mit einem Text von Leonardo da Vinci aus dem Jahre 1506 zu kontrastieren. Während hier ein Wanderer am Stromboli voller Ehrfurcht vor den Eruptionen und der Naturgewalt des Stromboli in eine Höhle tritt, die ihn augenblicklich mit Schutz, aber auch Dunkelheit umgibt, den Tod sozusagen sowohl vermeidend als auch mit ihm konfrontierend, bleibt dessen Integration ins politische Leben und in Inkaufnahme für Outlaws in den Augen der Inhaftierten ein Verbrechen.
(c) Monika Rittershaus |
Die Botschaften zum Inhalt waren insgesamt sehr stark kaschiert. Einfache Lesbarkeit hätte den kryptischen Charakter des Stückes entschärft. So waren die Texte in der Projektion gebrochen durch die Wände, erstrahlten fetzenweise auf den Rangballustraden und waren in einigen Wiedergaben auch nicht lesbar. Nur mit größtmöglicher Mühe ließen sich Sinn und Bedeutung vermuten. Statt dessen waren einzelne Wörter in der Schriftprojektion Haupttransporteure von Ablauf und Aussage.
Einerseits die 24 Stationen der Werkstruktur, ablesbar links und rechts von der Videoleinwand, die das Geschehen "Mann und Meerschweinchen" groß zeigt. Nach einem ersten Akt AUF DER STRASSE mit 10 Stationen beginnt der eigentliche Leidensweg des Mädchens mit 14 Stationen bis zum Tod in Akt II AN DER HAUSWAND. Angelehnt an die Bibel und den christlichen Leidensweg wird der Tod des Mädchens in einer verklärenden Lichtapotheose und Aufstieg zu Gott hauptsächlich im zweiten Akt thematisiert.
Sind zu Beginn u.a. Frier- und Schnalz-Arie Stationen, werden die drei an der Hauswand entzündeten Schwefelhölzer im zweiten Akt mit Ritsch I bis III festgehalten, die Traumbilder auf der Hauswand I bis IV bekommen ergänzend fassbarere Namen, so Nr. 20 "Die Großmutter", die im Todestraum das Mädchen liebevoll abholt, in eine positive Traumwelt entführt. Über "Himmelfahrt" und "Shô" wird das Sterben erlebbar. Passanten entdecken das erfrorene Mädchen am Neujahrsmorgen im Märchen und in Lachenmanns "Epilog".
Andererseits werden Projektionsfetzen aus Weihnachtsliedern, Märchentexten und politischen "Nachrichten" durch Tonaufnahmen wie: im "August 14" die "sozialdemokratische Maske", "Der Konsumentenstatus ist eine Neurose", ergänzt, die APO reduziert auf einen Salatblätter essenden, fast werfenden Senior, "Die Schweine sagen 'mehr Staat', das Volk sagt ... (Fading out)", dazu das hektisch unterbrochene Untermalen mit Tönen, Stimmen, Percussion und einer Art psychiatrisches Klima schaffendem Chor. Wiederholt ein leidendes Gesicht des Darstellers. Die große Aussparung ist des Volkes Wille und quasi mit eigenen Inhalten zu füllen.
Das Beschriften der Wände korrespondiert hier ganz deutlich mit Ensslins Anschauung, dass die "Kriminalität des Systems sich auf unsere Haut schreibt". In dieser Schrift- und Gesangswelt auch die Botschaften des Mädchens: "Gib mir zurück, bitte!", "Gib mir zurück! Kraft!", "Ich ... ging verloren" und "Nimm mich mit!". Eine Brücke vom Mädchen zu Ensslin darf geschlagen werden. Letzendlich auch zum Meerschweinchen, das im Rahmen der Lichtapotheose geduldig in den erhobenen Händen des Darstellers ruht.
Mit all diesen Zeichen und Metaphern erschließt sich das Geschehen des ganz kurzen Ausgangsmärchens nur grob, wer es nicht genau kennt, muss nachlesen, was genau passiert ist, denn es wird nur ansatzweise klar. Mit Puzzletechnik darf der Zuschauer erschließen, was sich zugetragen hat und wird nicht oft auf diesem Weg resignieren.
Das Meerschweinchen ist die Unbekannte in diesem Stück. Das hilflose Tier, die scheue Kreatur als Zeichen für Kindsein, auch Ausgeliefertsein? Schließlich auch die Kind-Haustier-Situation, die Pflege, die Liebe, das Erziehen und Behüten, all das, was dem Mädchen nicht zuteil wurde. Nach allen Regeln des Tierschutzes wurde das Tier an die Musik und das Geschehen gewöhnt, hat das kleine Geschöpf sogar einen eigenen Coach, der auch während der Aufführung über es wacht.
Die Stimmung der Zuschauer war zwiespältig - abwartend, amüsiert, unsicher, begeistert und ablehnend. Verdient langer Applaus für den Komponisten, die Musiker, den Chor, die Darsteller, die Regie.