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Sonntag, 10. November 2013

Mammutgedichte von Jakob Michael Reinhold Lenz: DIE LANDPLAGEN - III. Die Pest


Die Landplagen. III. Die Pest
Gedicht von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792)

Drittes Buch. Die Pest


Stärke dich, schüchterne Muse! gebükt schau tiefer hinunter
In die dunkle Tiefe der Zeiten, wenn Rache des Schöpfers
Durch die ganze Schöpfung allmächtiges Grausen verbreitet.
Kommt ihr Diener des Todes, furchtbarer als euer Beherrscher,
Fräßige Seuchen und Schmerzen und tükkische Krankheiten zeiget,
Alle zeigt mir die knirschenden Zähne, die würgenden Klauen,
Den blutschäumenden Schlund: umhüpft in scheußlichen Tänzen
Das erschrokkene Auge der Phantasie, die sich sträubet,
Weiter auf den Gefilden erfüllt mit Jammern und Abscheu,
Fortzugehn und zu sehn die Natur verunstaltet durch Plagen.
Dennoch will ich mit heiterer Stirn und gesezten Bliken
Eure Verheerungen singen; denn wer die Ruhe im Busen
Hegt, verhöhnet die Unruh auf Sturmbedekten Gebürgen,
Horcht auf die brüllenden Wolken und lächelt der eiligen Blizze.

Aus einer Mitternachtwolke ließ auf die schlummernden Hügel
Jüngst ein Todesengel sich nieder. Da floß durch die Schatten
Der blauflammende Strahl seines Schwerdts. Gleich nächtlichen Blizzen
Füllt' er das brennende Thal, durchdrang widerstehende Wälder,
Machte Palläste und Strohhütten fürchterlich hell. Auf einmal
Breitete sich eine fremde Luft ums Antliz der Erde;
Menschen die schnarchend in ihr den Lebensbalsam geathmet
Athmen izt Gift ein: Tod ist ihr Element.
Mancher dehnet sich noch im mördrischen Schlaf und stösset
Dumpfes Röcheln hervor, oder winselt von grausen Phantomen
Warnend umgeben; erwacht dann, blikt starr umher, kann nicht sprechen,
Sinket abermal hin, und schläft sich ums ringende Leben.
So leicht mähet der Tod die nichts befahrenden Halme.
Blüht und prahlet ihr Blumen, ihr seid beim Morgenlicht Asche;
Oder du stärkere Staude! und hättest du eiserne Wurzeln,
Dennoch seufzest du bald, ein zweigloses Holz in den Flammen.
Hirnlose Narren! die ruhig und ohne Sterbegedanken
Täglich sich in den Vorhof des Todes ins Schlafgemach wagen.
Diese stumme Stille, voll schwarzen heiligen Grauens,
Dieser horchende Himmel aufs Flehn einsamer Gerechten,
Dieser gegenwärtige Gott, mit dem sie allein sind,
Wekket sie nicht. Wie Besessene auf dem Abhange des Felsen,
Der über wartende Wogen sich bükt, ganz sicher entschlafen;
Eine Bewegung stürzt sie herab: so entschlafen sie täglich.
Glaubt ihr, ewiger Stoff umschließ' eure felsene Knochen,
Oder euch werde aus Furcht, aus Güte der Mörder nicht morden?
Lebt dann, Würmer eines Tages! und unter dem Hügel
Der euch der Welt auf ewig entzieht, umwimmelt von Maden,
Lernt den zu späten Gedanken an Tod und Ewigkeit denken.

Izt steigt Phöbus hinter Gebürgen empor. Mit Entsezzen
Sieht er durch schwerfällige Nebel, die nächtlichen Lager
Mit unzähligen Leichen bedekt. Es schlüpfet sein scheuer
Strahl durch des Lustschlosses Fenster: und sieh! der Herrscher des Landes
Liegt, ein blosser Körper, auf seidnen Küssen: noch hält ihn
Mit dem erdrosselnden Arm der Tod hohnlachend umschlungen.
Um ihn liegen die Wächter, izt Aeser. Furchtlispelnde Stille
Schwebt weit über dem öden Pallaste.

Dort liegt eine volkreiche Stadt; ein dumpfes Gemurmel
Schallet von aussen, hinter den sie verstekkenden Wällen,
Wo die Spizzen der Thürme hinübergukken. Die Märkte
Und die Thore und Gassen wimmeln wie Ameisenhaufen.
Ehe man sieht, hört man schon Geräusch: das Schallen der Hämmer
In den Schmieden, das Wiehern der Rosse, das Krachen der Kutschen
Und die wilden Stimmen des hungrigen Pöbels am Fischmarkt.
In der dämmernden Kammer sizt früh der Bürger, von Sorgen
Dunkler wie von der weichenden Nacht umhüllet und sinnet
Auf unermeßlichen Vorrath, als hätt' er ewig zu leben.
Aber schon sperrt seine Gruft im nahen Kirchhof den Mund auf,
Und in den Schatten des Winkels steht mit erhabener Hippe,
Ihn zu mähen, der Tod bereit. Schnell warnet vom Kirch Thurm
Ihn die klagende Sterbeglokke. Er höret sie, seufzet,
Frägt nach dem Todten, und kehrt zurük zum Wucher. Doch plözlich
Ruft die warnende Freundin zum andernmal das Entsezzen
In seinen Busen hinab. Zwar noch scheint dies Sterben ein Zufall:
Aber bald schallet ununterbrochen das ängstliche Rufen
Dieser ehernen Predigerin. Nun fühlen sich sterblich,
Die sich Unsterbliche dünkten. Die Gassen werden entvölkert.
In den verschlossenen Häusern herrscht zunehmende Stille -
Todesstille herrscht nunmehr. Die einsamen Glokken
Heulen allein durch die giftigen Lüfte. Mit Schaufeln bewaffnet
Wandeln die Todtengräber stumm einher, wie Gespenster,
Machen das Pflaster zum Kirchhof, verscharren bey Haufen, und sinken
Oft statt der Dekke des Grabes auf ihre Begrabnen hinunter.

Vor ihm sieht ein vergnügter Vater die spielenden Kinder
Ohne Leben hinfallen. Vergeblich schreyt er nach Hülfe,
Nach dem gewohnten Arzt: er hört ihn nicht mehr. Da erblikt er
Unvermuthet die eigene Beule, das Zeichen des Todes,
Fühlet die Angst sein Herz umklemmen, wird ohnmächtig, sinket
Auf die Leichen der Kinder. Zwar um ihn blizzet das Silber,
Das er ängstlich gesammelt, die langen Spiegel, die seidnen
Mahlerischen Tapeten, die marmornen Säulen stehn um ihn,
Aber sie helfen ihm nichts: sie sind unthätig. Er schmachtet
In dem Reichthum begraben umsonst nach dem Kruge des Landmanns
Mit der reinen Quelle gefüllt, seine Hizze zu lindern.
Lange schallt seine sterbende Stimme durchs einsame Zimmer
Und giebt in dem gewölbten Saal ein schrekliches Echo;
Bis der grausambarmherzige Tod, allein zu errufen,
Zwischen ihm und der leeren Welt den Vorhang schnell zuzieht.

Ein verreiseter Sohn kehrt um zu den wartenden Eltern,
Schmekt den süßen Kuß des frohen Vaters zum voraus
Und der weinenden Mutter. Indem er der Wohnung sich nahet,
Schwebt die Ahndung ihm nach: sie wendet die giftige Urne
Ueber sein Haupt um, beströmt ihn mit Angst und leitet vom Antliz
Das wie Rosen geglühet, das Blut hinunter zum Herzen.
Schnell behüpft er die Treppe, öfnet die Thüre mit Zittern,
Gukt ins Vorzimmer, schlüpft in den Saal: sind't alles öde.
Kindliche Tränen stehen bereit im blizzenden Auge:
"Wie ist alles hier öd'!" Er steht, sieht um sich und rufet
Mit erbebender Stimme: "Mein Vater! Wo bist du, mein Vater?
Mutter! Geschwister, wo seid ihr?" Indem siehet vom Hofe
Eine magre Gestalt von aussen durchs Fenster. Er flieget,
Stürzet hinzu und erkennt in kläglicher Stellung den Vater.
Schnell will er hin, seine dürren Füsse gerührt zu umschlingen:
Aber der winkt mit der Hand und rufet hohl und gebrochen:
"Flieh, Geliebtester! flieh! Mein Hauch wird dich tödten: entweiche!
Sieh, dort liegt deine Mutter! Dort wo ich den Sand aufgethürmet,

Liegen in einer Grube all deine Geschwister und izzo
Werd auch ich hinsinken zu meinen Begrabnen. O wohl mir,
Daß mein brechendes Auge noch dich gesehen! Verlaß mich!
Flieh! O wohl mir, o wohl mir!" Hier sinkt er stolpernd aufs Antliz.
Ohne Besinnung stehet der Sohn da. Bald wird er die Leiche
Mit seinen Tränen salben und mit wiederfoderndem Aechzen,
Daß es die Einöde hört, und ihm die Wälder nachwinseln,
Mit zerrissenem Herzen und kraftlosen Händen begraben.

O der furchtbaren Plage! der ganze Mensch empört sich
Bey ihrer Vorstellung. Muse! auch du fühlst Schaudern: so schaudert
Ein mitleidiger Herold wenn er dem bangen Gefangnen,
Der mit Tränenschwellendem Auge sein Urtheil erwartet,
Seltne Martern verkündigt. Doch laß die Hand noch nicht sinken,
Noch an der Harfe hinunter nicht sinken, bis alles vollführt ist,
Wozu du Feuer und Muth in meinen Busen gesenket.



Wenn das starre Auge, das im Begrif ist zu brechen,
Freunde unkenntlich bemerkt, die um mich bekümmert herumstehn,
Die mir die kalte lezte Träne, den Todesschweiß sanfte
Von meinen Wangen wischen, und mein halbtaubes
Ohr hört weit in dem Zimmer zärtliches Lispeln und Schluchsen:
Ach dann fühlt das stehende Herz im Tode noch Labsal,
Und mein dunkler Blik ist dankbar auf die geheftet
Die mir ihr Mitleiden gönnen. Doch wenn ich, ach! wenn ich auf hartem
Lager nun liege, und meine Zunge vertroknet, mein banges
Auge irret nach Helfern umher, die kalte verdorrte
Hand strekt flehend sich aus: und alles um mich ist öde;
Keiner steht um mein Lager, versteht mein Aechzen und mildert
Durch des Arztes bittere Stärkung die Wuth meiner Schmerzen:
Tod wie fürchterlich wirst du dann! dann würd' es selbst Weisen
Schwer zu sterben.

Hier ist ein liebliches Feld mit grünem Teppich bezogen,
Daß der Säemann sich der reichen Erndte schon freute:
Aber nun ist sie gemein; ihn hat das Grab eingeerndtet.
Hier will ich wandeln und lauschen, ob ich Lebendige finde. -
Ach schon wandert mein Fuß den Morgen, den Mittag, den Abend,
Wandert in Wüsten. Die Thäler die sonst so frölich erschollen
Von dem wilden Jauchzen der Hirtenflöthen, den Stimmen
Weidender Heerden, dem Plaudern des geselligen Landmanns
Hinter dem furchenden Pfluge, stehn verlassen. Aus jenem
Dichten Gebüsche heulet der Wasserfall nur und das Wehen
Furchtbarer Zephire, gleich dem Wehn herzueilender Flügel
Eines Todesengels. Die Rosen unter dem Schatten,
Hängen, von keinem bewundert, verwelkt von giftigen Lüften
Die sich entwikkelnden Knospen verblichen zu Boden. Auch schweigen
Die Bewohner der Zweige: sie flohn in dunkelen Schaaren
Bessern Gegenden zu. Auf silberwallenden Teichen
Dampft undurchsehbarer Nebel: die Bürger der Fluthen versenken,
Aus ihrem Elemente verjagt, sich tief in dem Schlamme.
Alles trauret. Wohin soll ich fliehn? Ein Grausen befällt mich,
Da ich allein und verlassen die öden Fluren durchstreiche.
Dort der treue Bekannte, der inniggeliebte Verwandte
Ist nicht mehr. Schwarzer Gedanke! - doch welch ein plözliches Murmeln
Schallet von jener Hütte, die hinter dem buschvollen Hügel
Scheu ihr mooßiges Haupt erhebet. Heil mir! ich höre
Menschliche Stimmen. O eilet, zitternden Füsse, ihr werd't dort
Menschen finden. O hindert mich nicht, ihr Steine des Akkers
Und du wallendes Korn! Allein was seh ich? nicht Menschen:
Nein es sind wilde Thiere in menschliche Glieder gehüllet.
Ach sie schleppen schändliche Beute aus traurenden Thoren;
Selbst der heiligen Leichen hat ihre Faust nicht geschonet.
Tod wird dir folgen, abscheulicher Geiz! der noch dem Gewinne
Fröhnt, wenn alles um ihn schon Busse predigt, der noch an
Tand und gestohlnem Puppenspiel klebt, wenn die ernste Stimme
Des Allmächtigen schon die Todesengel herabsendt,
Um die Erde zu säubern und Sünder zum Richtstuhl zu rufen.
Und wozu scharrest du, Unsinn! und häufest dir Lasten, die tiefer
Nur ins Grab, in die Hölle dich niederdrükken? Sind Vögel,
Denen das Messer die Kehle berührt, auf Würmer noch gierig?



Aber laß uns, o Muse, die stille Hütte besuchen!
Schon eröfnet sich uns die furchtsam knarrende Thüre.
Welch ein Anblik! Gestrekt, mit halbgebrochenen Augen
Liegt ein Ehrwürdiger. Die einzelnen eißgrauen Haare
Stehn in wilder Verwirrung emporgesträubt, und die Mienen
Seines blassen Gesichts verrathen Kummer und Hoheit.
Neben ihm mit zerstörter Schönheit ein unschuldig Mädchen!
Blaue geöffnete Lippen zeigen die marmornen Zähne:
Izt ein schreklich schöner Anblik! ein Schleier dunkeler Lokken
Dekt die in Todesblässe noch reizenden Wangen: die zarten
Hände ruhn auf dem Busen, gefaltet, als wären sie, noch zum
Lezten Gebet erhaben, schlaff herunter gesunken.
So durch den plumpen Nord vom zersplitterten Stocke gerissen
Liegt eine aufgeblühete Rose: so reizt ihre Schönheit
Selbst wenn die hochrothen Blätter unter den spottenden Disteln
Einsam zerstreut glimmen und zusehends verblassen.
Also sind sie nun hin, die Bewohner des ländlichen Hauses
Und die Freunde der Tugend, der sanften unschuldigen Freuden.
Siehe die Wohnung selbst scheint den Verlust zu betrauren
Und die Linden umher, sie stürzen ihr Laub von den Wipfeln
Und stehn nakkend, vermissend die wartende Hand ihres Pflegers.

Ach wo bin ich? Wie klopfet mein Herz! Ich fühle die Wange
Naß von strömenden Tränen; ich fühle die Lippen erzittern.
Flieht, flieht schrekliche Bilder! von meinem verirreten Auge:
Flieh, entsezlicher Traum! aus der geängsteten Seele.
Vater der schwachen Sterblichen, der du aus Thon sie gebildet
Und sie dir ähnlich gemacht, der du zum Thon sie zurückhauchst,
Noch, noch wank' ich nicht einsam um die giftdampfenden Gräber
Hingesunkener Brüder, noch segn' ich das liebliche Murmeln
In denen Straßen, das frohe Gedränge der Märkte. O wohl mir!
In den schallenden Hayn will ich gehn und die traurige Harfe
An einen Buchbaum hängen, ich will die sanftere Flöthe
Von dem freundlichen Schäfer leihen und mit den Bergen
Und mit dem Wiederhall scherzen, und Doris Namen ihn lehren:
Denn noch wank ich nicht einsam um die Giftdampfenden Gräber
Meiner Brüder, der Menschen, die, mir zum Trost, eine Erde
Mit mir bewohnen, die mit mir der Sturm trift, der donnernd daherbraußt,
Mit mir der Veilchen schmeichlender Duft im Sonnenschein labet.

Jakob Michael Reinhold Lenz