Nach dem Attentat auf den Thronfolger |
Zwischen 1915 und 1922 entstanden kam nur der Epilog der Tragödie in Deutschland zu einer szenischen Aufführung durch Karl Kraus selbst und 1930 in Berlin mit Musik von Hanns Eisler. Das Buch dazu fand jedoch ebenso wie ein Sonderheft der Fackel einen guten Absatz. Erst nach 1945 kam es zu großen und umfangreichen Inszenierungsversuchen, so in Basel oder Wien, die es schafften, die rund 200 Szenen und vielen Schauspieler so zu arrangieren, dass ein kohärentes Ganzes sich zeigte.
In Kaiserslautern kam mit der Premiere des Stückes am Samstag, 31.01.2015, eine aussagestarke, sehr moderne und intelligente Fassung auf die Bühne. Das Pfalztheater zeigte wieder einmal, wie man komplizierte Materie unterhaltsam, spannend, abendfüllend und intentionsgerecht in Szene setzen kann. Der Regisseur Dominik von Gunten und die Dramaturgin Andrea Wittstock arbeiteten mit einem multimedialen, dokumentatorischen und journalistischen Ansatz den Irrsinn des Ersten Weltkriegs, wie ihn Karl Kraus auf rund 850 Seiten dokumentierte, heraus. Die Zuschauer werden Zeitzeugen der massiv verletzten Eitelkeit des habsburgischen Herrscherhauses, das seine Vormachtstellung durch einen kurzen Vernichtungsschlag gegen Serbien und dessen Verbündete behaupten wollte und in einen blindwütigen, blutigen, entsetzlichen und grausamen Krieg geriet, der ganz Europa und sogar die Welt erfasste und in seinen Bann zwang. Es ist ein weiteres Beispiel für die Entfesselung des Minderwertigen, Schlechten, Bösen in den Menschen, wenn sie denn vom Staat und Militär in Mord und Totschlag gepeitscht werden ...
Medienberichte wechseln mit Zeitzeugenkommentaren, Politiker und dem Herrscherhaus Nahestehende tun ihre Meinung kund, aber auch der gemeine Bürger und Straßenbewohner. Die Ermordung des Thronfolgers und seiner Gemahlin hallte wie ein Donnerschlag durch die Monarchie. Aufregung und Besorgnis griff um sich, die Aufbahrung der Toten und die markigen Worte des Übervaters Wilhelm II. - "Enormen Schaden an Gut und Blut wird einen Krieg von uns fordern!" - laufen ab wie bei einem in die Gegenwart geholten Fernsehbericht und noch direkter durch persönliche Zeugenaussagen "Anwesender". Die Regie wählt hier aus dem zeitgenössischen Formenschatz so geniale Mittel wie große Ballons als Leinwand für Videoprojektionen - wie schwebende Köpfe der Machthaber und "geohrfeigten" Habsburger. Die Mobilmachung Österreichs und Deutschlands rückt direkt in Zusammenhang mit dem Kampf George W. Bushs jr. gegen die Achse des Bösen nach 09/11. Die Theaterwand im Zuschauerraum wird zur Open-Air-Leinwand und Public-Viewing-Berichterstattung aus der Hauptstadt der Monarchie, aber auch für Einspielungen von weiterem Dokumentationsmaterial, Kriegsgeschehen und Kommentare. Diese Lebendigkeit der Darbietung und Auflösung des Illusionstheaters holt den Zuschauer direkt in die Verantwortung. Er beobachtet, verfolgt das Geschehen, urteilt, denkt mit. Die "charakterologische Schwäche" Nationalismus, Ausländerhass in Wien greift um sich. Alles stürzt zu den Waffen, nur der Zwerg und der schwule Fighter auf Plateauschuhen haben Probleme genommen zu werden. Kriegsberichterstatter und -reporter(innen) (hier: Hannelore Bähr) suchen die Attraktion des Krieges, scheuen keine Gefahren, wie die Pfarrer, die die Waffen der Soldaten segnen, auch gleich mal Schießen auf die Gegner üben. Die Assoziation zur bei der Arbeit 2014 getöteten Kriegsreporterin Anja Niedringhaus, deren Fotos parallel im Museum Pfalzgalerie gezeigt werden, liegt nicht nahe, war Niedringhaus doch allen Beschreibungen nach ein anderer Charakter.
Mit Gasmaske für den Kaiser |
Nach und nach zeigt sich das schmutzige Geschäft des Krieges, Leid, Verletzung, Verkrüppelung, Tod, Elend für die Soldaten in abgesoffenen Gräben. Das offene Sterben und Krepieren auf beiden Seiten eine einzige Obszönität! Nicht umsonst malt ein Soldat zu den Beschreibungen des unsäglichen Leidens im Granaten-, Schrapnell-, Kugel- und am Ende auch Gas-, Chemikalien- und Bakterienregen genüsslich eine obszöne Frauenaktzeichnung auf die Tafel. Es wirkt obszön und pervers, wenn Menschen geschunden und getötet werden.
Das Auge des Gesetzes, der Wissenschaft und Dokumentation hält alle Übergriffe, Verbrechen, Meinungen zu Hause fest. Die Beweismittel und Spuren werden an Ort und Stelle fortlaufend erkennungsdienstlich behandelt, mit Kreide die Fundstellen markiert. Der Kontrast von dreckigem Sterben und rühriger Hilfe zu Hause, die Frauen, die ihre Söhne gerne fürs Vaterland opfern, der Vater, der wiederholt nach dem vermissten Sohn fragt, aber den Heldentod untertänigst akzeptiert, die Wohltätigkeitsveranstaltungen für den Krieg ...
Die Affen und Laffen um den mickrigen Kaiser |
Last not least die Kapitalisten und ihre schmutzigen Geschäfte im Hintergrund des Kriegstreibens, die Rüstungsindustrie. Kraus lässt kein gutes Haar mehr an der Gesellschaft und den Staatsträgern. Die Kirche ein entsetzlich verbohrter Haufen von skrupellosen Demagogen, im Pfalztheater beschwörend das Publikum umzingelnd, die hemmungslos die Massen manipulieren: "So lange in diesem Krieg die Kanonen donnern, zählt die Nächstenliebe nach Jesus Christus nicht mehr!" Des Kaisers Generalstab ein absurder Haufen von Affen und Laffen, die sich untertänigst vom geschrumpften und lächerlichen Kaiser veralbern, piesacken und malträtieren lassen. Die Offiziere an der Front begehen Kriegsverbrechen nach innen und nach außen - die Entfesselungsstufe im Krieg, die keinerlei Moral mehr kennt. Eingespielt Videoszenen aus dem Jugoslawien-/Balkankrieg infolge der Milosevic-Politik Ende der 1980er-Jahre bis 2001. Das heutige Serbien und Kroatien verroht zu Menschenschlächtern - ein Täter berichtet, wozu er gezwungen wurde: ekelhafteste Abschlachtungen bei lebendigem Leib für fünf Flaschen Schnaps Beute!
"Der Teufel ist ein Optimist, wenn er glaubt, dass er die Menschen schlechter machen kann", heißt es in die "Die letzten Tagen der Menschheit".
Mit dem Kontrastbild im Dreck, Elend und Blut versinkende Front versus in Austern, leichten Weibern und Champagner versinkende Generalität inklusive Kaiser stehen wir am Ende der Menschheit. Regie und Dramaturgie haben das Ende des Stückes auf eine nur wenige Minuten dauernde Bedrohung durch schwarze Todesengel vom Mars im Soldatenlook heruntergefahren, die die Menschheit bombardiert und auslöscht, was bei den erlebten Ausgeburten der Hölle direkt eine Katharsis auslösen könnte. Aber das Ende ist zu kurz. Aus unerfindlichen Gründen endet alles plötzlich! Diese Lücke im Verstehen verzögerte auch die Reaktion des Publikums, das nicht klar erkennt, was jetzt eigentlich los ist. Der beeindruckende Sprechgesang der anrückenden imposanten Todesengel reicht noch nicht aus, das Geschehen ganz zu vermitteln. Hier hätte ich mir einen stärkeren Eingriff in die Ausgestaltung der Apokalypse gewünscht. Zumindest der absurde und skurrile Heldentod der Generäle und des Kaisers an der reich gedeckten Tafel wird deutlich, aber das Auslöschen der Menschheit nicht. Es purzelt zu wenig.
Fazit: Schauspieler, Regie und Dramaturgie, Bühnenbild, Effekte, Ideen, Kostüme, Licht - alles hervorragend, auf den Punkt gebracht, reiches Angebot und streng gesellschafts- und kriegskritisch. Der Untergang benötigt allerdings noch eine Revision.