Ein gigantisches künstlerisches Projekt, das einen Lebensraum so groß wie Tokio erfasst und neben den künstlerischen Angeboten einen bitteren Beigeschmack und Hintergrund hat.
THE COMPLETE MANUAL OF EVACUATION
Akira Takayama |
EVAKUIEREN - ein vorbelasteter und mit Angst besetzter Begriff - startete am 12.9.14 um 12:00 Uhr und ist der erste Flucht- und Rettungsplan für die Rhein-Main-Region. 30 S- und Straßenbahnhaltestellen entlang des Mains bzw. ca. 40 Orte werden zu Ausgangspunkten für außergewöhnliche Ortserkundungen und Begegnungen, die internationale Künstlerinnen und Künstler unter der Leitung von Akira Takayama entwickelt haben. Die gestrige Pressekonferenz führte die Journalisten entlang am Hafenbecken hin zum Bunker in der Schmickstraße.
Was steht dahinter? Denkt man an Großkatastrophen und übervölkerte Städte, wie z. B. Tokio (aber auch an die Megacitys Mexiko-Stadt, New York, Seoul, Mumbai, und weitere Dutzend), muss man auch immer an Fluchtwege denken. Wie komme ich da raus, wenn eine Natur- oder Kriegskatastrophe passiert?
Es gibt zwar offizielle Wege, aber viel mehr Sackgassen, aus denen man nie entkommen könnte. Was aber, wenn Zehntausende in dieselbe Richtung strömen? Es wird einem bei der Vorstellung ein bisschen mulmig, wenn ein Künstler, der eindeutig die entsetzlich überfüllte U-Bahn Tokio vor Augen hat, die bei uns so nie betrieben werden dürfte. "Die Yamanote-Linie ist die ,Uhr' Tokios. Täglich wird sie von über 3 Millionen Menschen genutzt, es gibt 29 Stationen, die in 60 Minuten abgefahren werden, der Zug kommt alle zwei Minuten", erzählt der Künstler. Wer die Videos in den Social Media gesehen hat, weiß, was los ist. Noch ein Fukushima bei Tokio, und die Evakuierungsfrage ist noch brisanter, aktueller! Vergleichbare politisch-militärische Eskalationen in Europa auf Katastrophenlevel im Rhein-Main-Raum mit mannigfacher Lebensbedrohung für ganz Deutschland, nicht auszudenken.
Die Aktion in Tokio 2010: Mittels eines Fragenkatalogs, den die Nutzer über das Webportal http://hinan-manual.com/ erreichten, wurden Routen errechnet für Flucht- und Rettungswege aus dem Gedränge der Yamanote-Linie.
Steigt man am Mainzer Hauptbahnhof in die S-Bahnlinie 8 und fährt mit ihr bis nach Hanau, so entspricht das ziemlich genau einer Durchquerung des Großraums Tokio mit seinen 35 Millionen Einwohnern. Der gilt nicht erst seit dem Erdbeben und der Nuklearkatastrophe von 2011 als unevakuierbar. Der japanische Regisseur und Konzeptkünstler Akira Takayama hat es sich von daher zur Aufgabe gemacht, dort, wo ein Entkommen aus amtlicher Sicht unmöglich erscheint, nach individuellen Rettungsalternativen zu suchen, neue Schutzräume zu konzipieren und bislang unbekannte Fluchtwege zu kartografieren. Ein Künstler bereitet uns quasi auf den Tag X, die Kriegs-, Erdbeben-, Endzeitkatastrophe vor.
EVAKUIEREN verleiht als erster Flucht- und Rettungsplan für die Rhein-Main-Region der Idee des Evakuierens neue Bedeutung. Ob es tatsächlich keinen offiziellen gibt, würde ich hier dahingestellt lassen. Dazu können nur die beteiligten Bundesländer und der Bund etwas sagen. Vom Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm aus steuert derzeit ein internationales Künstler- und Research-Team unter der Leitung von Akira Takayama das großdimensionale, Internet und Stadtraum verknüpfende Kunst-Event.
EVAKUIEREN lädt vom 12. September bis 5. Oktober für drei Wochen dazu ein, sich an bis zu 30 S- und Straßenbahnstationen entlang der Linien S1, S8, S9 und an den Bahnhöfen zwischen Frankfurt-Ost und Hanau und einem weiteren Schwerpunkt in Darmstadt zu zahlreichen Neuerkundungen verleiten zu lassen. Bahnstationen zwischen Wiesbaden, Mainz, Frankfurt, Offenbach und Hanau werden zu Start- und Ausgangspunkten für Kunstaktionen, Inszenierungen und künstlerische Ready-Mades, Transformationen und Interventionen, geheimen Versammlungen und Spurensuchen. Und statt der theaterüblichen Eintrittskarte bedarf es lediglich eines gültigen RMV-Tickets.
Ein interaktives Web-Portal leistet ab dem 12.9. unter
http://www.evacuation.jp/frankfurt/Main_Page die erforderliche Fluchthilfe: Mit wenigen gezielten Einstiegsfragen ermittelt die Webseite den individuellen Grad an Alltagsverdrossenheit oder urbaner Identitätsmüdigkeit. Als Ergebnis dieser kurzen Befragung schlägt das Programm Rettungssuchenden einen ersten Ausgangspunkt innerhalb des RMV-Netzes vor, eine S-Bahn-Station im Grünen, vor den Werkstoren oder mitten im Zentrum der Stadt. Auch bietet die Website eine Übersicht über sämtliche ins Projekt integrierten Bahnhöfe und Stationen, wichtige Basisinformationen wie besondere Öffnungszeiten oder eventuell vor Ort anfallende Kosten. Die jeweils zu erwartenden Ereignisse am Ende des Weges lassen sich hingegen online nur erahnen. Man kann auch nicht alle Punkte an einem Tag abfahren, das gibt das Programm nicht her. Aber wer sich auf dieses Abenteuer Stadtfluchten einlassen will, findet sicher punktuell entsprechende Kitzel. Dennoch macht das Angebot einen desolaten Eindruck, und man scheint fast keine Sicherheit zu haben, dass da auch was ist an der Treffpunktstelle. Durch Anmelden soll man dies auffangen können. Es ist eben eine Art Reality-Kunst mit starken Anlehnungen an den V- oder K-Fall.
Konkrete Hinweise geben Karten und Skizzen, die ein Team japanischer Grafik- und Animationskünstler für jede Evakuierungsroute individuell gestaltet hat. Diese können vor dem Start ausgedruckt oder aufs Smartphone geladen werden. Sie locken auf ungewöhnliche Pfade, leiten zu unbekannten Rückzugsorten, verführen zu unerwarteten Begegnungen mit sonst Unsichtbaren und verwandeln noch vor dem Aufspüren der eigentlichen Ziele die vertrauteste Umgebung in urbane Rätsel.
Zu dem internationalen Projektteam gehören Künstler aller Disziplinen, wie Mariano Pensotti aus Buenos Aires, Carlos Motta aus New York, Nuno Ramos und das Kollektiv OPOVOEMPÉ aus São Paulo, aus Deutschland unter anderen die Künstlergruppe LIGNA, der Videokünstler Chris Kondek, die Regisseure Hendrik Quast und Maika Knoblich und der Komponist und Klangkünstler Anton Berman. Den Flucht- und Rettungsplan entwickelt Akira Takayama gemeinsam mit einer künstlerischen Research-Gruppe und der Frankfurter Kuratorin Annette Gloser. Es beteiligen sich Studierende der Hessischen Theaterakademie, der Universitäten Mainz und Frankfurt, der Hochschule für Gestaltung Offenbach und der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste - Städelschule.