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Donnerstag, 12. Juni 2025

Wie war's bei Aribert Reimanns Oper MELUSINE im Bockenheimer Depot?



Anna Nekhames (Melusine)   Foto: Barbara Aumüller

 


Aribert Reimanns Oper Melusine wird derzeit im Bockenheimer Depot in Frankfurt a.M. aufgeführt und bietet eine faszinierende Gratwanderung zwischen Naturmärchen, Futurismus und Postmoderne. Die Oper, die ursprünglich 1971 bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt wurde, basiert auf der französischen Sage und dem Drama von Yvan Goll (siehe weiter unten).

Cecilia Hall
(Madame Lapérouse)
Foto: Barbara Aumüller


Die Handlung dreht sich um Melusine, eine junge Frau, die sich gegen die fortschreitende Zerstörung der Natur stellt. Sie lebt mit ihrer Mutter Madame Lapérouse und ihrem Ehemann Max Oleander in einer Villa am Rand eines alten Parks. Während Melusine sich mit den Geistern des Parks verbunden fühlt, steht ihre Mutter den weltlichen Dingen näher. Als der Park verkauft wird und einem Schloss weichen soll, fordert Pythia, Schutzgeist des Parks, Melusine auf, dies zu verhindern. Pythia verleiht ihr mit einem Fischschwanz eine magische Anziehungskraft auf Männer und ringt ihr das Versprechen ab, sich jedoch nie zu verlieben. Doch Melusine trifft auf den Grafen von Lusignan, und das Geschehen nimmt seinen tragischen Verlauf. Sie schmilzt dahin, auch er ein Opfer der Liebe. Pythia macht ihre Drohung war und steckt das mittlerweile gebaute Schloss an, in dem sich Melusine und der Graf aufhalten. Pythia hat noch einmal gesiegt, der weitere Verlauf bleibt offen.

Die Inszenierung im Bockenheimer Depot hebt die zentrale Liebesszene besonders hervor und zeigt Melusines inneren Konflikt zwischen individueller Behauptung, Verlangen und Begehren sowie gesellschaftlichem Druck. Besonders herausragend ist die Leistung der russischen Sopranistin Anna Nekhames, die mit ihrer außergewöhnlichen Technik und emotionalen Tiefe die Titelrolle verkörpert.

Liviu Holender (Graf von Lusignan) und
Anna Nekhames (Melusine)

Regisseurin Aileen Schneider wollte mit dieser Inszenierung einen Denkprozess anstoßen: Worauf ist der Einzelne bereit zu verzichten, um die Natur zu erhalten? Doch letztlich kann kein noch so hohes Ideal der Verführung durch menschliche Liebe etwas entgegensetzen. Die Regisseurin schafft es meisterhaft, klassische Mythologie mit futuristischen Elementen und dunkler abstrakter Dystopie zu verbinden. Sie nutzt die musikalische Sprache von Reimann, die zwischen expressiver Atonalität und fast schon hypnotischen Klangflächen wechselt, diese Vielschichtigkeit szenisch perfekt erlebbar zu machen.

Das Licht, die an ein Raumschiff oder völlig futuristische Stadtgestaltung erinnernde, hypermoderne kreisförmige Bühnenarchitektur und die surrealen und dadaistischen Anspielungen in der Kostümgestaltung erinnern an eine Welt, in der Mensch und Natur schon lange entfremdet sind. Nicht nur die Figur der Melusine mit ihrem hybriden Wesen – halb Mensch, halb Wasserwesen – auch der Landvermesser, die Maurer spiegeln dieses Spannungsverhältnis zwischen Traum, Künstlichkeit, Groteskheit und extremer Moderne perfekt wider. Dada und Expressionismus, Futurismus und Science Fiction halten Äußeres und Inneres zusammen. 

Aileen Schneider hat wirklich ein Händchen dafür, klassische Stoffe in ein neues, aufregendes Licht zu rücken. Ihre Inszenierungen fordern das Publikum intellektuell heraus und reißen es zugleich emotional mit. Gerade bei Melusine hat sie es geschafft, die Balance zwischen Mythos und moderner Gesellschaftskritik auf eine visuell beeindruckende Weise zu gestalten. Neben Melusine im Bockenheimer Depot hat sie unter anderem Philip Glass’ In der Strafkolonie nach Franz Kafka am Staatstheater Augsburg sowie The Sound of Voice, ebenfalls von Philip Glass, an der Hamburger Staatsoper inszeniert. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch eine starke visuelle Ästhetik und tiefgehende gesellschaftliche Reflexionen aus.

Besonders spannend ist ihre Herangehensweise an klassische Stoffe: So transferiert sie diese oft in futuristische oder dystopische Szenarien, um aktuelle Themen wie Umweltzerstörung, soziale Ungleichheit oder technologische Entwicklungen zu beleuchten. Ihre Inszenierungen sind nicht nur visuell beeindruckend, sondern regen auch zum Nachdenken an. Sie ist außerdem Hessenmeisterin 2022 und Rheinland-Pfalz Vizemeisterin 2024 im Poetry Slam, Dramatikerin und Moderatorin.


Anna Nekhames (Melusine; Bildmitte) und Ensemble
Foto: Barbara Aumüller


Wer Yvan Goll nicht einordnen kann: Er war eine faszinierende literarische Figur, die sich zwischen mehreren Strömungen bewegte, sowohl als Vertreter des deutschen Expressionismus als auch eine prägende Stimme des französischen Surrealismus. Seine Werke spiegeln die avantgardistischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts wider, insbesondere den Dadaismus und die Neue Sachlichkeit.

Goll war ein Kosmopolit, der sich in verschiedenen literarischen Kreisen bewegte – von den Dadaisten in Zürich bis zu den Surrealisten in Paris. Sein Werk umfasst Lyrik, Dramen und Prosa. Seine Gedichte, darunter Johann Ohneland, zeigen eine tiefgehende Reflexion über Identität und Entfremdung. Er war zudem ein wichtiger Exilliterat, der während des Zweiten Weltkriegs nach New York floh und dort weiter publizierte.

Golls literarische Bedeutung liegt in seiner Fähigkeit, verschiedene Stile und kulturelle Einflüsse zu vereinen. Er war in den 1920er Jahren eng mit avantgardistischen Theaterbewegungen verbunden und beeinflusste das experimentelle Theater dieser Zeit maßgeblich. Seine Werke zeigten eine Vorliebe für das Absurde, Satirische und Symbolhafte, was ihn in die Nähe von Autoren wie Brecht, Artaud und Piscator brachte.

Gerade sein Drama Methusalem oder Der ewige Bürger war ein Paradebeispiel für die innovative Bühnenästhetik der Zeit. Es nahm viele Elemente des späteren absurden Theaters vorweg und war eine scharfe Kritik an der fortschreitenden Technokratisierung und Bürokratisierung der Gesellschaft.

Claire Goll war eine faszinierende und kontroverse Figur in der Literaturgeschichte. Sie war nicht nur die Ehefrau von Yvan Goll, sondern auch eine eigenständige Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin. Ihre Werke bewegten sich zwischen Expressionismus und Surrealismus, und sie war eng mit der Pariser Avantgarde verbunden.

Besonders bekannt wurde sie durch ihre Gedichtsammlungen, die sie oft im Wechselgesang mit Yvan Goll schrieb, sowie durch ihre Romane wie Der Neger Jupiter raubt Europa. Nach Yvan Golls Tod widmete sie sich intensiv seinem literarischen Erbe, allerdings nicht ohne Kontroversen – sie manipulierte nachweislich Texte und war in einen berüchtigten Streit mit Paul Celan verwickelt, die sogenannte „Goll-Affäre“.

Ihre Memoiren Ich verzeihe keinem sind eine literarische Chronique scandaleuse, die viele Persönlichkeiten ihrer Zeit kritisch beleuchtet. Trotz ihrer umstrittenen Aktionen bleibt sie eine bedeutende Stimme der deutsch-französischen Literatur.

Die Goll-Affäre war eine literarische Kontroverse, die sich um Paul Celan und Claire Goll drehte. Nach Yvan Golls Tod im Jahr 1950 war Celan zunächst in die Herausgabe von dessen Werken involviert. Doch Claire Goll begann später, Celan öffentlich des Plagiats zu beschuldigen, indem sie behauptete, er habe Gedichte ihres verstorbenen Mannes übernommen und als seine eigenen ausgegeben. Diese Vorwürfe führten zu einer langjährigen Auseinandersetzung, die Celan zutiefst erschütterte. Die Affäre hatte weitreichende Folgen für sein Ansehen und seine psychische Gesundheit. Trotz zahlreicher Unterstützer, darunter Ingeborg Bachmann und Peter Szondi, blieb der Schatten der Anschuldigungen über Celans Werk bestehen. Claire Goll führte eine regelrechte Kampagne gegen ihn, die sich bis in die 1960er Jahre erstreckte und in verschiedenen Publikationen und Briefen weitergeführt wurde.

Die Affäre wird oft als Beispiel für die Schwierigkeiten von Exilliteraten und die Macht von Diffamierungskampagnen im Literaturbetrieb gesehen. Celan selbst betrachtete die Vorwürfe als einen persönlichen Vernichtungsfeldzug, der antisemitische Untertöne hatte.