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Dienstag, 11. Februar 2025

Wie war's in der Frankfurter "Maskerade" von Carl Nielsen am 09.02.2025?

Magnus Dietrich (Leander) und Elizabeth Reiter (Leonora)
(Bildnachweis: Barbara Aumüller)







In Frankfurt am Main wird zurzeit in der städtischen Oper Carl Nielsens "Maskerade" gezeigt. Regie führt Tobias Kratzer. „Maskerade“ ist eine komische Oper in drei Akten, die ursprünglich betextet wurde von Vilhelm Andersen und auf ein Stück von Ludvig Holberg aus dem Jahr 1724 zurückgeht, dann extra für die Frankfurter Aufführung von Martin G. Berger in eine deutsche Fassung in der Folge einer Linearübersetzung von Hans-Erich Heller gebracht wurde. Die musikalische Leitung liegt bei Benjamin Reiners, der im Spätjahr als Generalmusikdirektor in Chemnitz startet. Er führt das Orchester sicher durch die tosende Maskerade, eben ein Faschingsball mit voller Fahrt. Die Frankfurter Stimmen der Spitzenklasse, wie Alfred Reiter, Juanita Lascarro, Michael Porter, Livui Hollender, Theo Lebow, Elizabeth Reiter, wurden dieses Mal ergänzt durch Sven Hjörleifsson, der Michael McCown vertreten musste.

Das Original wurde erstmals 1906 aufgeführt und ist in Dänemark als "Nationaloper" bekannt. Carl Nielsen war ein bedeutender dänischer Komponist, Dirigent und Violinist, der am 9. Juni 1865 in Sortelung auf der Insel Fünen geboren wurde und am 3. Oktober 1931 in Kopenhagen verstarb. Nielsen war mit der Bildhauerin Anne Marie Brodersen verheiratet, und ihre turbulenten Beziehung beeinflusste viele seiner Werke. Trotz persönlicher Herausforderungen blieb er ein produktiver und einflussreicher Komponist.

Zu Lebzeiten als musikalischer Außenseiter bekannt, gewannen seine Werke nach seinem Tod an Popularität, insbesondere durch die Bemühungen von Dirigenten wie Leonard Bernstein. In Dänemark ist er als Nationalkomponist anerkannt, und viele seiner Werke sind feste Bestandteile des nationalen Erbes.

Die Handlung dreht sich um Generationenkonflikte, Variabilität von Beziehungen, Spaß durch Auflösung von gesellschaftlichen Konventionen. Masken und Aufdeckungen im täglichen Leben. Die Oper spielt in Kopenhagen und beginnt mit einem Konflikt zwischen dem wohlhabenden Bürger Jeronimus und seinem Sohn Leander. Jeronimus möchte, dass Leander die Tochter seines Geschäftsfreundes Leonard heiratet, aber Leander hat sich heimlich auf einer Maskerade in eine mysteriöse Unbekannte verliebt. Leander gesteht seinem Diener Henrik, dass er sich auf der Maskerade in eine Frau verliebt hat, deren Identität er nicht kennt. Henrik schlägt vor, dass Leander erneut an der Maskerade teilnehmen soll, um die Frau wiederzusehen.

Sven Hjörleifsson (Leonard) und
Juanita Lascarro (Magdelone)
(Bildnachweis: Barbara Aumüller)

Jeronimus versucht zu verhindern, dass Leander und Diener Henrik heimlich zum Ball gehen. Sein Diener Arv soll sie bewachen, ist aber aufgrund seiner Affäre mit der Köchin bestechlich. Die Flucht der beiden gelingt. Leander trifft die mysteriöse Frau bereits auf der Straße wieder, der Diener Henrik seinen Schwarm Pernille. Jeronimus entdeckt die Flucht, begibt sich ebenfalls auf das Fest, um zu unterbinden, dass Leander die falsche Frau begehrt. Auch Leonard interessiert sich brennend für das Fest und geht heimlich, wie auch Magdelone, die Frau von Jeronimus. Vor dem Saal gibt es Masken zu kaufen, alle verkleiden sich. Rainer Sellmaiers Bühnenbild und Kostüme verwirren und erregen die Gemüter, Henrik stolpert als Zwitter aus Schwulem und Transvestit mit Plateausohlen durchs Nachtleben.

Das Geschehen verlagert sich sodann in den Maskerade-Saal. Durch zahlreiche Verwechslungen und Missverständnisse entstehen humorvolle Situationen, und die wahre Identität der Charaktere bleibt bis zum Ende des Aktes verborgen. Es herrscht eine ausgelassene Atmosphäre. Leander und Leonora verlieben sich, gestehen sich ihre wahren Namen ein, ohne dass es einer Vermittlung bedurfte. Diener Henrik arbeitet an seiner eifersüchtigen Pernille, und Jeronimus sticht der Hafer - auch er verfolgt ein junges Ding. Seine Frau Magdelone fühlt immer stärkere Zuneigung zu Leonard. Ein Paar tanzt final das, was passiert, metaphorisch für das zügellose Verlieben jenseits aller Schranken und betont auch die Leichtigkeit des Betrugs! Die Maskerade endet mit einer fröhlichen und versöhnlichen Stimmung aller, nachdem die Überwindung der gesellschaftlichen Konventionen alle Liebenden neu vereint hat. Die Charaktere kehren in ihr normales Leben zurück. Jeronimus und Leonard erfahren, dass ihre Kinder sich bereits auf der Maskerade ineinander verliebt haben. Sie willigen ein, dass Leander und Leonora heiraten. Magdelone zieht mit Leonard davon … Jeronimus zieht es auch zu neuen Ufern. Der dezente Betrug seiner Gemahlin scheint eine Verstärkung der Tendenzen durch Tobias Kratzer zu sein.

Barbara Zechmeister (Pernille) und
Liviu Holender (Henrik; mit roten Haaren)
(Bildnachweis: Barbara Aumüller)
Nielsen nutzt humorvolle und satirische Elemente, um die sozialen Normen und Konventionen der Zeit zu hinterfragen und Klischees zu veralbern. Er macht deutlich, wie leicht Identitäten und Rollen gewechselt werden können. In einem wilden Ritt tobt die "Maskerade" mit einer einzigartigen Mischung aus Humor, Satire und Gesellschaftskritik, die man in der Oper überhaupt nicht gewohnt ist. Ein Chor (unter Alvaro Corral Matute) und neu sechs Tänzerinnen und Tänzer beleben das Geschehen und tragen auch zur prickelnden Erotik der Pyjama- und Sport-Dessous-People für eine Nacht bei. Die Ketten-Nonsens-Reime und die schrägen Situationen sind für viele Zuschauer überraschend und amüsant, die Verbindung von Frivolität in Wort und Spiel schafft eine interessante semantische Dynamik zwischen Hick(s) und (F)ick. Es ist faszinierend zu sehen, wie Nielsen es geschafft hat, diese widersprüchlichen Elemente zu vereinen. "Maskerade" hat definitiv die Fähigkeit, die Zuschauer mit ihrer Leichtigkeit und ihrem Humor zu begeistern und in gute Laune zu versetzen. 

Dienstag, 12. November 2024

Alban Bergs Oper LULU in der vollständigen Fassung nach Friedrich Cerha in der Oper Frankfurt

 

v.l.n.r. Brenda Rae (Lulu), Simon Neal (Dr. Schön)
und Evie Poaros (Anima)

Alban Bergs Oper "Lulu" ist ein schwieriges Werk, für alle Beteiligten. Teilweise überfrachtete Texte und ungewöhnliche Ausdrucksweisen aus dem Jahr 1900 und später bei Wedekind und Bergs Zwölftonmusik vereinen sich zu einer großen Herausforderung für die Zuschauer. Ursprünglich blieb das Werk unvollendet. Wie war die Rezeption in der Folgezeit?

"Lulu" ist tatsächlich ein komplexes und anspruchsvolles Werk, das bei seiner Uraufführung im Jahr 1937 nach Bergs Tod im Jahr 1935 in der unvollendeten Fassung (ohne den 3. Akt) gemischte Reaktionen hervorrief. Die ungewöhnliche Musiksprache und die provokative Handlung führten zu kontroversen Diskussionen.

Die Uraufführung von Alban Bergs Oper "Lulu" im Jahr 1937 war ein bedeutendes Ereignis in der Musikgeschichte. Auf "die ersten beiden Akte folgte eine Pantomime zu der Musik der beiden Sätze der Lulu-Suite. Die Uraufführung wurde ein großer Erfolg, und Helene Berg schloss daraus, dass die Oper auch als Torso aufführbar sei. Infolgedessen lehnte sie in der Folgezeit alle Versuche ab, die Oper von dritter Hand vollenden zu lassen" (Wikipedia). Die Reaktionen waren sehr geteilt. Einige Zuhörer waren begeistert von der innovativen Struktur und der komplexen Musik, während andere die unkonventionelle Handlung und die dunklen Themen als schockierend empfanden.

Die Nationalsozialisten setzten Wedekind auf Bücherverbotslisten, und zwar "Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums, Stand vom 31. Dezember 1938", Zensur und Totalverbot waren möglich. Schon zu Lebzeiten hatte Wedekind Probleme mit der Zensur, zumal seine antibürgerlichen Werke, Dramen, Lieder, Texte und Reden immer die herrschende Moral verletzten. Er selbst saß auch ein Jahr wegen Majestätsbeleidigung im Gefängnis. Nicht umsonst bewegte er sich im Umfeld der "Elf Scharfrichter", einer Münchner Kabarettistengruppe.

Theodor W. Adorno sagte in seinem Essay "Kritik der operativen Vernunft", in dem er sich ausführlich mit "Lulu" beschäftigte und dabei die sozialen und psychologischen Aspekte des Stücks analysierte: "Lulu ist die Oper der Opernhasser, die Oper der Opernliebhaber." Beide Seiten werden voll bedient. Er argumentierte, “dass die Grenzen der traditionellen Oper gesprengt und die Zuschauer herausgefordert würden. "Lulu" stelle die Konventionen der Opernform in Frage.
Der Philosoph Walter Benjamin hat in seinen Schriften ebenfalls auf "Lulu" Bezug genommen, insbesondere in seiner Arbeit über den Begriff des Trauerspiels. Er kommt zum selben Schluss: "Lulu ist ein Werk, das die Grenzen der Musik und des Theaters sprengt." Benjamin hat "Lulu" als ein Werk betrachtet, das die „Zerstörung der Aura“ und die „Entfaltung des Gegenstandes aus seiner Hülle“ thematisiert. Er sah in der Oper eine radikale Herausforderung der traditionellen Vorstellungen von Kunst und Kultur. Deutlich wird, dass hier tatsächlich das benjaminsche „Vergessen des Körpers als Ausdruck von Herrschaftspraktiken“ (Körperlichkeit, Unversehrtheit, Unberührbarkeit, Stolz, Scham vernachlässigen bzw. ausblenden) zum Tragen kommt.
Das
Werk wurde von Friedrich Cerha vollendet und am 24. Februar 1979 an der Pariser Oper unter der musikalischen Leitung von Pierre Boulez uraufgeführt. Die Rezeption war auch hier zunächst geteilter Meinung, aber im Laufe der Zeit wurde diese "Lulu" als ein bedeutendes Werk der modernen Musik mit Fremd-Komposition und -Betextung des dritten Akts anerkannt. Heute gilt sie in dieser Form als fester Bestandteil des Opernrepertoires.

Auch Frank Wedekinds „Lulu“ war unvollständig. 21 Jahre, von 1892 bis 1913, arbeitete der Autor an der „Lulu“-Tragödie, die Erdgeist und die Büchse der Pandora zusammenbrachte und nicht nur aufgrund der Entstehungsdauer als sein Hauptwerk gilt. Erst Peter Zadeks Inszenierung und Aufführung der gesamten „Lulu“ iDeutschen Schauspielhaus in Hamburg aus dem Jahr 1988 stellte ein vollständige Lulu dar. Ebenfalls wertvoll war eine radikal moderne Version der "Monstertragödie" auf der Bühne des Thalia Theaters Hamburg (2019). Michael Thalheimers Inszenierung forderte die Zuschauer heraus und bot eine neue Perspektive auf das Stück, die begeistert gefeiert wurde.

Aber wieviel Originalität liegt noch in einer Vollendung durch Fremde? In erster Linie wohl die Originalität der Vollendungsarbeit, denn sie kann Personen zeichnen und Dinge passieren lassen, die eventuell nie vorgekommen wären. Cerha lässt Lulu Mordopfer von Jack the Ripper werden. Ein gerechter Ausgleich für die Morde bzw. Tode ihrer Männer in ihrem Leben zuvor, quasi Beruhigung des Publikums?

Jack the Ripper hatte in London im Herbst 1888 fünf Frauen ermordet, die wegen Flucht/Verstoß aus ihren Ehen auf der Straße leben mussten. Er überraschte sie zumeist im Schlaf. Inwieweit dieser Mörder wirklich Lulu hätte treffen können bleibt ungeklärt. Nur zwei seiner Opfer gingen der Prostitution nach.

Bergs ursprüngliches Libretto und Musik enden abrupt nach dem zweiten Akt. Cerha hat den dritten Akt komponiert und orchestriert, um die Struktur und Symmetrie des Werks zu vervollständigen. Er hat die Handlung fortgesetzt, um die Geschichte von Lulu zu einem Ende zu bringen. Dies beinhaltet die dramatische Wendung, bei der Lulu Dr. Schön in einer Auseinandersetzung erschießt und schließlich selbst in einem Streit mit Jack the Ripper getötet wird. Obwohl Cerha Bergs Zwölftontechnik und musikalische Sprache beibehalten hat, hat er auch eigene musikalische Ideen eingeführt, um den dritten Akt zu vollenden. Cerha hat auch einige Textstellen angepasst oder ergänzt, um die Handlung logisch und dramatisch zu vollenden. Eine gefühlvolle und angemessene Fortführung.

Alban Berg war ein Meister der Kompositionstechnik, und seine Werke, insbesondere "Lulu", sind ein Paradebeispiel für seine Fähigkeiten. Auch "Wozzek" nach Büchner (UA 1925, Berlin unter Kleiber) ist ein Meisterwerk. Berg war ein Schüler von Arnold Schönberg und übernahm die Zwölftontechnik, bei der alle zwölf Töne der chromatischen Skala gleichberechtigt verwendet werden. Diese Technik ermöglicht eine hohe strukturelle Komplexität und eine Vielzahl von harmonischen Möglichkeiten. Berg verwendete die Methode der entwickelnden Variation, bei der ein musikalisches Thema kontinuierlich variiert und weiterentwickelt wird. Dies schafft eine innere Kohärenz und Verbindung zwischen den verschiedenen Teilen eines Stücks. Es kann alles sehr dicht, harmonisch, aber auch ungewöhnlich, hart, laut, schräg klingen. Bergs Musik integriert allerdings auch oft Elemente aus der Romantik und verwendet traditionelle tonale Beziehungen, um  Passagen gefühlvoller auszudrücken. Dies verleiht seinen zwölftonigen Kompositionen eine lyrische und expressive Qualität.

Brenda Rae als Lulu
Der Komponist nutzt parallele Linien und Akkorde, um Spannung und Kontraste zu erzeugen. Diese Technik kann dramatische Effekte erzielen und die emotionale Intensität eines Stücks verstärken. Beim Gesang führt das dazu, dass Parallelgesänge hektisch und unmelodisch klingen. Sie stehen zeitlich leicht verschoben nebeneinander. Den Text verstehen geht dabei oft unter. Die Veränderung der Tempi und die dynamische Gestaltung der Geschwindigkeit sind zentrale Elemente in Bergs Werken. Schnelle, energische Abschnitte wechseln sich mit langsamen, reflektierenden Passagen ab, was die dramatische Wirkung und die emotionale Tiefe erhöht. Diese Techniken tragen dazu bei, dass Bergs Musik sowohl strukturell komplex, gewaltig, tobend als auch emotional ausdrucksstark sein kann.

Wedekind wollte die bürgerliche Moral und die sozialen Konventionen seiner Zeit hinterfragen und kritisieren. Er thematisierte die dunklen Seiten der menschlichen Natur und die Konflikte zwischen Sexualität, Macht und Moral. Der Dramatiker setzte sich mit den Zensurgesetzen auseinander, seine Intention war, die Tabus und Einschränkungen der damaligen Gesellschaft aufzuzeigen. Seine Werke wurden oft als provokativ und anstößig angesehen, was zu Zensurmaßnahmen führte. Wedekind untersuchte und hinterfragte die Geschlechterrollen und die Sexualität in der Gesellschaft. Er war bekannt für seine scharfe Kritik an der Gesellschaft und ihren Institutionen, wie Familie, Schule und Kirche. Diese Kritik spiegelt den wachsenden Skeptizismus und die Enttäuschung durch traditionelle Autoritäten wider. Obwohl Wedekind seine Werke vor dem offiziellen Beginn des Expressionismus schrieb, zeigen seine Werke bereits viele Merkmale dieser Bewegung, wie die Darstellung von inneren Zuständen und die Verwendung von Symbolen und Metaphern. Er stellte die weibliche Hauptfigur Lulu als eine gespaltene und vielschichtige Persönlichkeit dar, die sowohl Opfer als auch Täterin ist. Der Dramatiker war stark von den Ideen Sigmund Freuds beeinflusst und integrierte psychoanalytische Konzepte in seine Werke. Die unbewussten Triebe und Konflikte der menschlichen Psyche darzustellen und aktuelle gesellschaftliche Themen und Probleme seiner Zeit aufzugreifen und in seinen Werken zu verarbeiten war ihm wichtig. Das Publikum sollte zum Nachdenken angeregt werden und zum Dialog über wichtige gesellschaftliche Fragen. Diese Elemente machen die Werke von Wedekind zu einem Spiegelbild der sozialen und kulturellen Umwälzungen seiner Zeit.

Lulu wird im Stück oft als Projektionsfläche männlicher Sexualfantasien verwendet. Dies spiegelt Freuds Theorie wider, bei der unerwünschte Gedanken und Gefühle auf eine andere Person übertragen werden. Ihr Körper Objekt der Begierde und Ablehnung der eigenen Regungen, der Umgang mit ihr Spiegel der Herrschaftsverhältnisse. Lust, Begehren hier und Unterdrückung, Bestrafung, Gewalt ihr gegenüber dort. Alle Männer spielen sich als Besitzer ihres Körpers auf, bezwingen sie, achten kaum darauf, was sie wirklich will oder sagt. Ihre „Geburt“, der Fund eines verschmutzten halbtoten Mädchens in einem Schlammloch der Gosse durch den Tierbändiger ist ausschlaggebend für ihren sozialen Status. Nichts von Stand, alles von Nichts. Lulu wird Schigolch übergeben und wächst bei ihm auf. Ein Vaterersatz, Outsider, Penner und Trinker, wahrscheinlich auch geisteskrank. Lulu wird wegen ihrer natürlichen und direkten Art geschätzt, ihr Körper ein Anziehungspunkt. Natürlich kann sie als Modell dienen, was der Maler zu Beginn ja auch zu schätzen weiß. Weil sie aber so einfach und natürlich ist, glaubt der Maler auch, sie einfach so vergewaltigen zu können. Sie will das nicht, wehrt ab, aber wird überrumpelt. Sie ist zu diesem Zeitpunkt schon die Dauergeliebte des Chefredakteurs Dr. Schön, der sie als Eigentum und Lustobjekt betrachtet, sie aber nicht öffentlich an seine Seite stellen kann, weil der Standesunterschied zu groß ist. Sie gerät in die Rolle der Frau, die jeder haben kann - sie wird von Schön auch „angeboten“, prostituiert - aber auch in die Rolle der Femme fatale, die alles durcheinanderbringt. Als der Maler von Schön hört, dass dieser eine Beziehung mit Lulu hat, bringt er sich um. Freuds Konzept der ambivalenten Gefühle kommt zum Tragen, Liebe und Hass, Begehren und Ablehnung, väterlicher Wohltäter und abgelehnter „Zuhälter“ sind miteinander verknüpft. Die Beziehung zwischen Lulu und Dr. Schön kann außerdem als ein Muster des Ödipuskomplexes (hier Elektrakomplexes) gesehen werden, bei dem ein Kind unbewusst sexuelle Gefühle für den Elternteil des anderen Geschlechts entwickelt. Lulu verdrängt ihre dunklen und destruktiven Triebe, erliegt ihnen aber doch. Unangenehme Gedanken und Erinnerungen werden ins Unbewusste verdrängt.

In Lulus Beziehung zu Dr. Schön zeigen sich einerseits herrschaftliche Macht und Kontrolle, die Schön über Lulu ausübt, und andererseits Ankerpunkte, Verlockungen, unbarmherzige Anziehung für seine tiefsten sexuellen Wünsche und Fantasien. Schön ist ihr verfallen, sogar hörig, kann die Beziehung aber lange Zeit nicht in der Öffentlichkeit leben. Sie ist seine Mätresse und muss es bleiben, obwohl er sie an andere Männer vermittelt - an den Medizinalrat Dr. Goll (eine halbe Million Reichsmark wert), der an einem Herzinfarkt stirbt, als er seine Gemahlin Lulu mit dem Maler just nach der Vergewaltigung erwischt - und sie weiter an sich bindet. Was den Sohn Alwa betrifft, ein Komponist, über den er sie als Tänzerin ausbilden und in Alwas Revue auftreten lässt, sieht dieser in ihr eine Verkörperung seiner Erotikideale. Lulu wird parallel immer von zwei Männern begehrt, was ihre Reize und ihren Körper betrifft, sie steht zwischen ihnen und als Projektionsfigur derer Fantasien.

Die unnatürlich, versteinert und weltfremd wirkenden Charakterzüge der Figuren in "Lulu", bis auf sie selbst, werden besonders in deren Interaktionen und Dialogen deutlich. Eine zweite Lulu, ihre "wahnsinnige Schwester", heißt Anima und nimmt eine Sonderstellung ein, die beobachtet, Handlungen ausführt wie ein zweites abgespaltenes Ich von Lulu - die Figur steht für Vergangenes, Persona und Seele. Anima geht auf die Regisseurin zurück. Dr. Schöns obsessive Kontrolle über Lulu und seine Unfähigkeit, seine eigenen Gefühle zu erkennen und vor allem zu akzeptieren, zeigen seine verbohrte und weltfremde Natur. Er versucht, Lulu zu formen und zu kontrollieren, zu unterdrücken und doch immer wieder intim mit ihr zu sein, was letztlich zu seinem Untergang führt. Er verlobt sich mit Gräfin Geschwitz und geht mit ihr in die genannte Aufführung, in der Lulu auf der Revuebühne seines Sohns Alwa steht. Alwa ist von Lulu fasziniert, quasi seiner kommenden Stiefmutter, seine Liebe zu ihr ist jedoch idealisiert und unrealistisch. Er sieht sie nur als eine Muse und als ein Kunstwerk, was seine Entfremdung von der Realität zeigt. Als Lulu die Verlobte mit Schön im Zuschauerraum sieht, fällt sie auf der Bühne in Ohnmacht. Hier steht sie zwischen Vater und Sohn, außerdem gibt es einen Prinzen aus Afrika, der sie mit sich nehmen will, und Schön steht zwischen Lulu und der Gräfin. Lulu wirkt darauf hin, dass ihr Liebhaber sich von der Gräfin trennt und lässt sich von Schön heiraten. Nachdem Alwa ihr seine Liebe offenbart hat, versucht Schön blind vor Wut und Eifersucht seine Frau umzubringen. Im Gerangel erschießt sie ihn aus Notwehr, denn bedroht war sie von ihm. Sie wird als Mörderin zu Haft verurteilt, allerdings durch die ehemalige Verlobte von Schön, Gräfing Geschwitz, die Lulu „verehrt“, sie ist lesbisch, aus dem Gefängnis geholt. Ein Athlet interessiert sich für Lulu, lässt aber wegen ihrer körperlichen Schwäche ab von ihr, Lulu zwischen Alwa, Athlet und Geschwitz. Dann die Flucht nach Paris, Alwa und Schigolch fahren mit, der Athlet und ein Mädchenhändler sind vor Ort. Vier Männer! Der Athlet soll von Schigolch umgebracht werden, und Lulu entkommt verkleidet dem Mädchenhändler und der Polizei. Mit Schigolch, Alwa und der Gräfin, die alle ihre Nähe suchen, geht es nach London. Dort prostituiert sich Lulu, ein Freier erschlägt Alwa, und Jack the Ripper, jener berüchtigte Frauenmörder in London, der Schön ähnlich sieht, ersticht sie. Lulu verschwindet von allem Geschehen durch ein Loch im Boden.


v.l.n.r. AJ Glueckert (Alwa), Evie Poaros (Anima), Alfred
Reiter (Schigolch; oben), Brenda Rae (Lulu; am Boden sitzend)
und Claudia Mahnke (Gräfin Geschwitz)



Schigolch ist ein alter, verkommener Mann, der in einer Welt lebt, die von seinen eigenen Fantasien und Erinnerungen geprägt ist. Seine Beziehung zu Lulu ist ambivalent und zeigt seine Unfähigkeit, die Realität zu akzeptieren. Sie wohnte eben gelegentlich bei ihm oder auch nicht. Er kann auch nicht von ihr lassen. Er muss immer dabei sein. Wie alle anderen männlichen Charaktere in "Lulu" projiziert er seine eigenen Wünsche und Fantasien auf sie, ohne sie als eigenständige Person zu sehen. Alle Männer sind unfähig, die Realität und die Komplexität menschlicher Beziehungen zu verstehen. Lulus Ziehvater Schigolchs Beziehung zu Lulu ist unklar und ambivalent, entfremdet, irreal. Er ist gleichzeitig eine väterliche Figur und ein Mitspieler in Lulus Leben. Diese Ambivalenz macht seine Charakterisierung komplex und schwer fassbar. Schigolch hängt finanziell und emotional von Lulu ab, was seine Schwäche und Abhängigkeit verdeutlicht. Er muss versorgt werden, kommt zum Abkassieren. Eine höchst unnatürliche Dynamik zwischen den beiden Figuren, die nichts miteinander zu tun haben. Schigolch lebt oft in Erinnerungen und Fantasien, mit der Gegenwart und der Realität kommt er nicht zurecht. Er scheint ein Verdränger zu sein. Diese Merkmale unterstreichen seine Rolle als eine der unnatürlichsten und fremdartigsten Figuren im Stück. Er ist kein Vater und auch sonst nichts, ein Bittsteller, Bettler, aber dabei bis zum Ende.

Der überaus gelungenen Inszenierung von „Lulu“ durch Nadja Loschky und der musikalischen Leitung unter Generalmusikdirektor Thomas Guggeis ist es gelungen, Handlung und Darstellung spannend zu halten, obgleich eine gewisse Sprödigkeit und Unverständlichkeit den Stoff schwer zu konsumieren machen. Sie ist zweifelsohne aktuell der Höhepunkt einer Reihe von Inszenierungen, von denen nur zwei ebenfalls außerordentliche Größe zeigten. Das ist einerseits die bemerkenswerte Aufführung von Alban Bergs Oper "Lulu" in der dreiaktigen Fassung im Jahr 1979 unter der Leitung von Pierre Boulez an der Pariser Opéra Garnier. Diese Produktion war besonders bedeutsam, da sie die erste vollständige Aufführung der Oper ermöglichte. Eine weitere bedeutende Aufführung war die Neuproduktion an der Oper Frankfurt im Jahr 2003, dirigiert von Paolo Carignani und inszeniert von Richard Jones. Diese Produktion wurde für ihre fesselnde Umsetzung und die intensive Darstellung der Hauptfiguren gelobt.

Die Oper "Lulu" an der Oper Frankfurt 2024 wird überwiegend positiv bewertet. Die Deutsche Bühne lobt die Regie von Nadja Loschky und die musikalische Leitung von Thomas Guggeis. Besonders hervorgehoben werden die kristalline Klarheit und die dramatische Verve des Orchesters. Die Produktion wird als dicht am Text und spannend beschrieben. Musik Heute betonte die herausragenden schauspielerischen Leistungen, insbesondere von Brenda Rae in der Titelrolle und Simon Neal als Dr. Schön/Jack the Ripper. Die innovative Umsetzung und die emotionale Tiefe der Aufführung werden gelobt. Der Opernfreund hebt die atmosphärische Gestaltung und die expressive Klangwelt hervor. Auch die szenische Umsetzung und die Verlegung des Settings in die späten 1920er und frühen 1930er Jahre werden positiv bewertet.

Die Zwölftontechnik, die Berg verwendet, ist nicht leicht zugänglich und erfordert oft mehrere Anhörungen, um vollständig verstanden zu werden. Am Besten hört man sich die Oper in verschiedenen Gemütsverfassungen mehrmals an. Die Texte und die Ausdrucksweise von Frank Wedekind sind ebenfalls nicht einfach, da sie tief in der Symbolik und den sozialen Eigenheiten seiner Zeit verwurzelt sind. Das Bühnenbild (Katharina Schlipf), die Drehbühne und die Kostüme (Irina Spreckelmeyer) verstärkten die Atmosphäre und die Intensität der Oper. Und natürlich sind engagierte Darstellerinnen und Darsteller mit ihren fantastischen Stimmen entscheidend, die komplexen Charaktere und Emotionen lebendig werden zu lassen. AJ Glueckert als Alwa, Claudia Mahnke als Gräfin Geschwitz, Alfred Reiter als Schigolch, das ist nur eine kleine Auswahl der Stimmgewalt neben Brenda Rae als Lulu und Simon Neal als Dr. Schön (und Jack the Ripper).