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Montag, 19. Mai 2014

Der rosarote Bach - eine Kindheitserinnerung von Harma-Regina Rieth, Fischbach b. Idar-Oberstein


Der rosarote Bach

Es war wieder einmal so ein herrlicher Sommertag, an dem man einfach raus auf die Gasse zum Spielen musste, weil die Sonne einen regelrecht vor die Tür lockte. Doch wie zu erwarten war um diese Zeit auf der Gasse noch nichts los. Meine Geschwister und Freunde, die schon zur Schule gingen, mussten wohl noch Hausaufgaben machen und lernen. Wahrscheinlich brüteten sie noch immer über ihren Aufgaben, wie Oma es stets belustigt
ausdrückte, wenn das Hausaufgabenmachen so lange dauerte. Ansonsten wären sie ja schon längst laut jubelnd aufgetreten, das war sicher. Ich durfte zwar mit Erlaubnis von Mutter schon jetzt zum Spielen raus, aber was nutzte es, wenn niemand zum Versteckspiel, zum Hüpfen, zum Laufen, Springen und Murmelspielen oder für Räuber und Gendarm da war. Nichts! Absolut nichts! Gelangweilt und missmutig, weil an diesem Tage wieder alle Freunde so unendlich lange brauchten für ihre Hausarbeiten, setzte ich mich auf den Stapel Winterholz, der vor der Haustür lag.
Ich stocherte und fingerte launisch und maulend an den verwitterten Baumrinden der Holzstämme herum. Obwohl ich wusste, dass der Baumstamm und die Rinde des Stammes nichts für meine momentane Situation konnten, reagierte ich mich missmutig und verärgert daran ab.
Es wurde Zeit, dass die anderen Kinder endlich Sommerferien bekamen, denn es war schon schlimm genug, dass morgens keiner zum Spielen da war. Aber dass dann auch noch mittags keiner vorbeischaute, das ließ mich regelrecht motzig werden.
Dass ich nach den Sommerferien eventuell selbst nachmittags über Hausaufgaben sitzen und brüten würde, verdrängte ich sogleich. Es war keine schöne Erwartung und wurde sofort von mir beiseite geschoben. Ich wollte mir den schönen Tag mit solchen unliebsamen „Zukunftsvisionen“ auf keine Fall verderben.




Da hörte ich auch schon die Worte meiner Mutter. Während sie sich weit aus dem Küchenfenster lehnte, schaute sie mir nach und rief wie immer etwas hinter mir her:
„Pass auf dein neues Kleidchen auf, Gina, mach dich nicht schmutzig, und sei artig! Ich möchte keine Klagen über dich hören. Hast du verstanden, Gina?“
Schließlich folgte noch wie immer der ermahnende Satz: „Und bleib von Grewaschs Kellerfenster weg, es ist Montag, du weißt, da ist wieder der böse Mann im Keller!“
„Immer dieses Geschiss um Grewaschs Kellerfenster, das nervt doch echt!“, meckerte ich als Antwort auf Mutters nerviges Rufen mehrmals leise in meinen Bart hinein.
Ich konnte es nicht mehr hören, immer das Gerede von Grewaschs Kellerfenster und dem angeblich bösen Mann. Wie immer dasselbe unnötige Gelaber, dachte ich wieder unwirsch.
Alles wie gehabt, Mittag für Mittag dieses Geschrei über Benehmen und Verbote! Mutter könnte sich wirklich mal etwas Neues einfallen lassen, dachte ich ein klein wenig erbost über ihr ständiges Ermahnen, ihre Gebote und Verbote bezüglich Nachmittagsgestaltung.
„Ich bin doch kein Kleinkind mehr! Schließlich gehe ich nach den Ferien schon zur Schule.
Also, was soll das?“, maulte ich.
Schmollend schob ich meine Unterlippe vor und mit zusammengekniffenen Augen schaute ich beleidigt zum Küchenfenster zurück.
Immer dieselbe Leier, immer dieselben Ermahnungen, und gleich ruft sie noch: „Und sei höflich, wenn man dich etwas fragt, Gina! Gib schön Antwort!“
Und im nächsten Moment hörte ich genau diese Worte wie ein Echo in Form von Mutters ermahnenden Rufen meinen Gedanken hinterherhallen.
„Ja, ja, ja“, äffte ich noch Minuten später die Unterhaltung mit meiner Mutter nach, während ich übelgelaunt auf dem Stapel Brennholz für den Winter saß, das vor der Haustür wie jedes Jahr fachgerecht aufgeschichtet und gelagert war. Mit weit aufgerissenen Augen und herausgestreckter Zunge grimassierte ich herum wie ein verrückt gewordener Clown.
„Und wenn du nicht hörst, was ich dir sage – setzt es was!“, kam noch der abschließende Drohsatz von ihr hinterher geflogen, alles ohne Rücksicht auf etwaige weitere Zuhörer in der Nachbarschaft.
Ich zuckte kurz im Genick zusammen und zog blitzschnell wie eine Schildkröte gekonnt meinen Kopf ein, sprang vom Holzstapel runter und weg war ich.
Ich turnte und balancierte nur noch auf einem einzelnen Holzstamm herum. Ja, Mutter schleuderte meist noch etwas Drohendes hinter einem her. Das kannte ich zur Genüge, doch es beeinflusste mein Handeln nicht im Geringsten. Daher prallte der ermahnende Zusatz auch an diesem Tage von mir ab.
Ich überlegte noch einmal genervt und missmutig, was ich jetzt mit mir und dem schönen, sonnigen und warmen Sommernachmittag anfangen könnte.
So ganz alleine als Herrscherin über die Gass!




Ich tröstete mich damit, dass ich zwar wie immer zu dieser Zeit alleine auf der Gasse war, aber dafür die nächsten Stunden ohne Streitereien mit Geschwistern oder Freunden, letztendlich einmal machen konnte, was ich wollte. Ich war also die Anführerin! Endlich hatte ich das Sagen. Ich konnte selbst bestimmen, was ich machen wollte.
Begeistert über diese Tatsache, obwohl ja sonst niemand da war, den oder die ich anführen konnte, sprang ich begeistert, jedoch allzu ruckartig vom letzten Holzstamm. Der sogleich bedrohlich ins Rollen kam.
Und augenblicklich machte es raaaatsch…! Ich blieb mit meinem Kleidchen hängen. Im gleichen Moment sprang Mauzi, die Nachbarskatze, mit ihrer Beute, einer kleinen Feldmaus, im Schlund durch meinen allzu hastigen Sprung aufgeschreckt aus ihrem Versteck hinter dem Holzstapel hervor.
Auch ich erschrak durch das laute Miauen und Aufschreien von Mauzi, und wir starrten uns gegenseitig, allmählich durchaus ängstlicher werdend, entgeistert in die erschrockenen Augen. Es war in der Kürze des Augenblicks nicht festzustellen, wer vor wem mehr Angst hatte! Mauzi mit Maus im Maul und ihrem kämpferischen Verteidigungsblick, oder ich, ohne Beute, jedoch mit Riss im neuen Kleidchen. Die Maus nutzte die augenblickliche Verwirrsituation zwischen uns beiden aus, entwich Mauzi und flitzte zurück in ihr Holzstapelversteck. Weg war sie. Ich denke noch heute, dass die Maus mich doch eher dankbar als ängstlich angesehen hatte, als sie verdattert um die Ecke geflitzt war. Und Mauzi schlenderte, sich eine neue Beute suchend, verärgert weiter… Nun begutachtete ich mein Kleidchen und meckerte sogleich laut drauf los: „Auch das noch!“
Natürlich war ich mit meinem Kleidchen an einem Aststumpf hängen geblieben. Nun hatte es einen langen hässlichen Riss. Mein schönes gelb, rosa und grün kariertes Kleidchen war lädiert! Na ja, da ist der Ärger für heute Abend schon vorprogrammiert, durchzuckte mich der flüchtige Gedanke an eine eventuelle Strafpredigt von Mutter.
Aber ich wollte jetzt nicht an die bevorstehende, eventuell stressige Diskussion über den Riss im karierten Kleidchen denken.




Kurz entschlossen machte ich mich auf den Weg, um endlich etwas Abenteuerliches zu erleben oder wenigstens ein ausgefallenes Spiel zu spielen. Da ich ja heute endlich mein eigener Anführer war. In Gedanken versunken schlenderte auch ich wie Mauzi weg, ungeachtet der Tatsache, dass ich mich eigentlich nicht vom Hof entfernen sollte, und machte mich heimlich auf den Weg ins Abenteuer.
Mein geheimer Weg führte mich übers Mühleck in Richtung Dorfmitte. Und noch immer war ich in Gedanken damit beschäftigt, was ich denn nun alleine spielen könnte. Doch mir wollte absolut kein Spiel einfallen, das alleine Spaß gemacht hätte.
Da entschied ich mich, mir kurzerhand die Fische im nahe gelegenen Bach anzusehen und sie heimlich zu besuchen. Vielleicht freuen sie sich, mich zu sehen, dachte ich für mich. Es ist auf alle Fälle einen Versuch wert, bevor ich hier weiter ganz lustlos und gelangweilt alleine rumhänge. Und ich schlich geradewegs in die Richtung des nahe gelegenen Baches.
Vorsichtig bog ich an der Grewerschen Hausecke ab. Und da, plötzlich stand ich vor einem mächtigen braun-weißen Ungeheuer! Erschrocken blickte ich in zwei riesengroße braune Augen mit unendlich langen, dichten, schwarzen Wimpern. Sie sahen mir direkt in meine Augen. Ich purzelte vor Schreck über den Boden, unmittelbar dem großen komischen Tier vor die Füße.
Einen Augenblick blieb ich verdattert sitzen. Augen in Augen blickend starrten wir uns an. Fluchtartig krabbelte und rutschte ich auf meinem Hosenboden rückwärts von dem braun-weiß gefleckten Ungeheuer weg! Als ich weit genug weg war, stellte ich mich auf meine Beine und rannte, so schnell ich nur konnte, fluchtartig davon, um das Ungeheuer, vorsichtshalber aus sicherer Entfernung, etwas genauer zu begutachten. Was war denn das für ein komisches Vieh?
Das Tier sah mich mit traurigen Augen an, und ich kam zu dem Schluss, dass das eventuell eine Kuh sein müsste. Ja, doch! Natürlich - das war eine Kuh! Aber wieso steht denn hier eine Kuh angebunden an der Hauswand herum?
Freundlich sah ich sie nun an, ich kam wieder näher heran und fragte neugierig: „Was machst du denn hier?“ Sie antwortete mit einem lauten „Muuuh“, und ich ergriff sofort wieder die Flucht! Atemlos und mit wild pochendem Herzen lief ich, so schnell ich nur konnte, weiter in Richtung Bach. Doch der Gedanke an das seltsame Zusammentreffen mit der traurig dreinschauenden Kuh beschäftigte mich weiter, bis ich dann endlich noch ein Stück weg den Bach erspähte. Beim Anblick des herrlich plätschernden Wassers vergäße ich die Kuh sicher wieder. Der Bach, der wirklich nur einige wenige Häuser weiter unterhalb der Gasse entlang plätscherte, glitzerte prächtig zwischen den Häusern hervor. Er zog mich immer an wie ein Magnet. Nur noch wenige Meter. Ich sah den Bach nun direkt vor mir, lief eilig mit Freudensprüngen geradewegs auf ihn zu. So kam ich gehetzt, jedoch mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht völlig außer Puste an dem kleinen Bach an.




Ohne Probleme und ohne Hilfe von meinen Geschwistern den Bach zu erreichen war mit knapp sechs Jahren schon eine beachtliche Leistung, und es machte mich unheimlich stolz, dass es mir geglückt war. Ich war stolz wie Bolle und strahlte mit der Mittagssonne um die Wette. Flüchtig dachte ich noch daran, dass ich zwar stets ermahnt wurde, mich vom Bach, und somit auch vom Wasser fernzuhalten.
Doch das war da gerade einmal in diesem Augenblick völlig in Vergessenheit geraten.
Vielleicht sehe ich heute ein paar Fische, kam mir wieder der Gedanke auf einige neue Spielgefährten in den Sinn. Alle Warnungen bezüglich Fernhalten vom Bach und Wasser großzügig zur Seite schiebend, schlich ich mich vorsichtig weiter an das herrlich verlockende Wasser heran.




Vorsichtig, ganz zögerlich hielt ich einen Finger in das kühle Nass. Kurz nach rechts und links umschauend, erkannte ich sogleich, dass ich alleine am Bach war. Schnell zog ich meine Sandaletten aus und streifte die von Oma Alwine aus weißer Baumwolle gestrickten Kniestrümpfe eilig ab.
Zuerst streckte ich den linken Zeh ins Wasser, anschließend den rechten Zeh. Da das Kleidchen schon zu Beginn meines Ausfluges Schaden genommen hatte, wollte ich jetzt doch achtsam sein und auf den Rest meiner Kleidung Acht geben. Langsam tastete ich mich vom flachen Rand bis in die Mitte des Baches vor. Dann setzte ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen und umging vorsorglich die großen kantigen Bachwacken, die mir doch allzu glitschig erschienen.
Ich entschied mich dann, eine Steinbrücke für eventuell weitere Bachbesuche zu bauen. Das würde ich leicht meinem großen Bruder nachbauen können, überlegte ich kurz, und fing sofort an Stein für Stein als Brücke aneinanderzureihen, um später den Bach als stolze Baumeisterin der Steinbrücke zu überqueren. Durch die große Kraftanstrengung kam ich allerdings schon schnell ganz schön ins Schwitzen, und ich entschied mich daraufhin, kurzerhand auch das lädierte Kleidchen abzulegen. Gerade in diesem Moment hörte ich die grantige Stimme meines Großvaters, der die Dorfstraße entlang kam und mich verärgert vom Brückelchen aus beobachtet hatte. Schnell hob ich mein Kleidchen auf und streifte es wieder über.
„Schick dich, Gina, und behalte schön dein Kleidchen an, das macht man nicht! Hat dir das deine Mutter nicht gesagt?“, rief Großvater mir noch fragend zu.
Natürlich hatte Mutter mir das gesagt, doch es war gerade so herrlich warm, und ich wollte mir schließlich nur ein kleines Bad zur Abkühlung gönnen.
Doch das war jetzt vorbei, artig nickte ich meinem Großvater zu, er ging mit ermahnendem Zeigefinger in meine Richtung zeigend weiter seines Weges.
Na dann eben kein Bad, schmollte ich. Ich hüpfte und sprang weiter im kühlen Nass herum.
Die Wasserspritzer flogen bis an die andere Bachseite.



Plötzlich tauchte ein eigenartiges rosarotes Rinnsal auf, das mir von der anderen Bachseite unverhofft entgegenkam.
„Was ist den das?“, fragte ich mich laut. „Ja, wo kommt denn das schöne farbige Wasser her?“
Eilig machte ich mich auf den Weg, um das rosarote Phänomen zu erkunden. Immer weiter in Richtung des ungewöhnlichen Wassers blickend stampfte ich durch den Bach, der wunderschönen Farbenquelle entgegen. Voller Begeisterung und glückstrunken hüpfte ich, da nur ich dieses rosarote Wasserspiel genießen durfte, im Bachlauf herum! Keiner hatte je von diesem schönen farbigen Wasser erzählt! Da war ich mir ganz sicher… Das wird mein Geheimnis bleiben! Niemandem werde ich das erzählen oder gar verraten.
„Das ist geheim, geheim, geheim!“, rief ich begeistert laut aus und sprang wild im rosaroten Bach herum.
Während ich so herumtollte und hüpfte, verfärbte sich das Wasser weiter ins Rote hinein, mittlerweile war es ungewöhnlich dunkelrot. Ich hielt in meiner Hüpfbewegung inne und starrte gebannt auf den unheimlichen Farbwasserteppich, der mir jetzt langsam und unaufhörlich entgegen kam … Plötzlich wurde aus meiner anfänglichen Begeisterung pure Angst, und ich rettete mich aus dem Bach ans Ufer.
Was ist denn das nur? Wo kommt denn das rote Wasser her? Ich starrte wie hypnotisiert in den Bach und beobachtete den sich nähernden und immer größer werdenden dunkelroten Teppich genau. Ein eigenartiges Fischgewimmel folgte dem Farbrinnsal und bewegte sich in und unter dem roten Wasserteppich.
Als dann plötzlich aus den dunklen Löchern am Ufer des Baches eine ganze Rattenfamilie herauskam und kreischend in Richtung Fischgewimmel hechtete, schaute ich angeekelt und erschrocken auf. Das war’s dann - schnell weg! Da gab es kein Halten mehr für mich.
Das Wasserplanschen und Baden war mir jetzt endgültig verleitet. Hastig zog ich meine Kniestrümpfe über die nassen Füße, streifte meine Sandaletten an und hastete, ohne zurückzublicken, vom Bach weg heim in Richtung Mühleck.




Gerade als ich um Grewaschs Hausecke bog, erinnerte ich mich an das unliebsame Zusammentreffen auf meinem geheimen Schleichweg zum Bach mit der Kuh und ihren riesigen traurigen Augen. Jetzt war sie nicht mehr da! Eigentlich schade, dachte ich für mich so im Nachhinein. Ich schlich jetzt gebückt weiter um Grewaschs Hausecke, schließlich sollte niemand etwas von meinem heimlichen Ausflug zum Bach mitbekommen.
Wie ein Indianer auf dem Kriegspfad bewegte ich mich vorwärts. Kurz vor Grewaschs Kellerfenster hörte ich das Blut in meinen Ohren pulsieren und fing an zu zittern. Ich blieb stehen und holte laut Luft. Angst beschlich mein Inneres, und ich überlegte krampfhaft wie ich unbemerkt heim kommen könnte.
Da fiel mein Blick versehentlich ins Kellerfenster! Laut aufschreiend stand ich auf und rannte ohne Rücksicht darauf, dass man mich eventuell doch noch entdecken könnte, auf und davon.
Sofort erschienen meine Mutter und meine Geschwister auf der Gasse, ich rannte laut und hemmungslos schreiend in die ausgebreiteten Arme meiner Mutter. „Kind, Kind, was ist los, was ist mit dir?“, hörte ich die besorgte Stimme meiner Mutter. Ich zitterte noch immer am ganzen Körper wie Espenlaub. Und ich versuchte ihr zu erzählen, was mich so erschreckt hatte. Stotternd brach es aus mir heraus. Ich stammelte nur noch einige Wortfetzen: „ Der - böse – Mann - ich habe den bösen Mann gesehen!“ Andächtig und ängstlich dreinblickend flüsterte ich immer und immer wieder diese Worte. Liebevoll streichelte mir meine Mutter mit einem fürsorglichen Lächeln im Gesicht über den Kopf und sagte: „Na, Gina, was hatte ich dir denn gesagt, Kleines?“ Schuldbewusst senkte ich meinen Kopf, ich erinnerte mich sogleich an ihre ermahnenden Worte bezüglich Grewaschs Kellerfenster. Mit einem leisen Seufzer stellte sie mich dann zur Rede. Auf meine roten Beine schauend seufzte sie erneut leise, dann fügte sie noch kopfschüttelnd hinzu: “Am Bach warst du auch, wie ich sehe! Warum folgst du mir nicht, wenn ich dir etwas sage, Gina? Das macht mich traurig, Kind. Von dem Riss in deinem Kleidchen möchte ich erst gar nicht reden.“ Ich schaute betreten zu Boden und sah meine Beine an. Sie waren total mit Blut verschmiert. Da erschrak selbst ich. Entschuldigend stammelte ich, dass es mir unerklärlich wäre, wieso meine Beine so aussähen, da ich mich ja nicht verletzt hätte! Meine schönen, vormals weißen Kniestrümpfe hatten jetzt unschöne dunkle und rote Flecken. Ich erschrak erneut und flüchtete mich wieder in die beschützenden Arme und den Schoß meiner Mutter.
„Ach Gina, hör doch, wenn ich dir etwas sage“, wiederholte sie sich, wieder kopfschüttelnd. Sie streichelte mir weiter liebevoll über meine Stirn und Kopf. Dieses Gefühl der Geborgenheit nutzte ich für mich voll aus, ich drückte mich noch enger, gierig nach Streicheleinheiten suchend, an meine Mutter.
Alles war vergessen in diesem Moment der Zweisamkeit und Geborgenheit bei meiner Mutter.




„Aber Gina, Kleines, jetzt ist es genug… Komm, Liebes, ich erkläre dir, was passiert ist!“
Und endlich bekam ich die Erklärung zu den täglichen Ermahnungen, denen ich heute wieder einmal nicht gefolgt war. Ich hatte an diesem Tag meine Lektion erhalten. Mit offen stehendem Mund und übergroßen ängstlich blickenden Augen lauschte ich den Worten meiner Mutter. Jetzt erhielt ich endlich Antwort auf all meine Fragen bezüglich Grewaschs Kellerfenster, dem bösen Mann und dem rosaroten Wasser im Bach.
Das komische Tier mit den übergroßen traurigen Augen, die Kuh also, die angebunden an Grewaschs Hauswand geduldig wartend verharrte, befand sich jetzt ein Stockwerk tiefer in Grewaschs Keller. Allerdings portioniert… Und jeden Montag kam eine andere dran.
Der Blutteppich wurde von dem bösen Mann in eine Bodenöffnung gefegt und erschien dann wenige Augenblicke später im Bach. Das war die Erklärung, die ich an diesem Tag von Mutter bekam. Ich bekam riesige Augen und einen gewaltigen Schreck. Selbstverständlich mied ich ab diesem Tage Grewaschs Kellerfenster und Grewaschs Hausecke.
Der seltsame Eisenbügel an der Wand, der dort eingelassen war, an dem meistens ein dicker Strick herunterbaumelte, genau, jetzt war das klar. „Wieso hatte ich den Strick vorher nie beachtet?“, fragte ich mich.



Beim Abendbrot saßen wir alle am Tisch. Meine Geschwister bissen schmatzend in ihre Wurstbrote. Ich saß andächtig da und schaute mein Abendbrot nur an. Wie durch einen Nebel hörte ich Mutter sagen: „Gina, iss doch endlich dein Wurstbrot auf!“ Doch ich konnte nicht in das Wurstbrot hineinbeißen. Ich sah plötzlich wieder die großen traurigen Augen vor mir, in die ich am Nachmittag geschaut hatte, und dachte beschämt an den rosaroten Bach, in dem ich übermütig, voller Freude herumgetollt war…
Ich hatte an diesem Tag meine Lektion gelernt und bevorzugte danach Marmeladenbrote…


© HarmaRegina Rieth