Die Inszenierung von Dominic Friedel im Nationaltheater Mannheim mischt Kafkas Kapitel neu, lässt Szenen und Personen weg und verpflanzt K. in die Welt der bürgerlichen Versprechen, Sinnlosigkeit und Doppelmoral. Intention ist, K. als Opfer der neoliberalen Ideologie zu zeigen, weniger durch Schuld und Disziplin getrieben, sondern von Verantwortung und Initiative ("Jeder ist seines Glückes Schmied"). Aber wie immer bei Kafka kann man auch darüber streiten. Mir scheint die Verwunderung über Verhaftung und Process noch deutlich genug, um hier keine eigenständige Handlungsmotivation zu erkennen. Im Trubel des Alltags erscheint K. hin- und hergerissen, orientierungslos. Er versucht Klärung, Abhilfe zu schaffen, verheddert sich aber immer mehr im Process, trotz seines Aufbegehrens. Getrieben wird er von Stimmen, die ihm anraten dies oder jenes zu tun, zum Beispiel einen Anwalt zu nehmen oder sich zu fügen, da ja die Akte über ihn immer mehr anschwelle ...
Das Verrückte ist, dass ja tatsächlich kein Tatbestand vorliegt, die Verhaftung am Morgen des 30. Geburtstags stattfindet und im Original ein Jahr später, am Vorabend des 31. Geburtstages, seine Hinrichtung stattfindet. „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ So auch in Friedels Process, das Verhör am Nachttisch der Frau Bürstner. In seiner Theaterparabel wird klar, dass die Schuld auch mit Frauen zu tun hat. Im Original ist dies noch viel stärker, denn K. geht ja zu Frau Elsa, der Kellnerin, regelmäßig einmal die Woche. Seine Freundin, seine Kurtisane? Im Stück fehlt sie ganz.
Auch zu Frau Bürstner zieht ihn das Begehren, Frau Grubach, die erotische, ihm zugeneigte Vermieterin, taucht im Stück nicht auf. Fotos bei Frau Bürstner spielen eine Rolle bei der Verhaftung, sie werden jedoch nicht gefunden. Liegt die Schuld nicht dort? :-)
Leni, die Bedienstete des Anwalts (Fräulein Bürstner, Leni und Frau des Gerichtsdieners mit der gebotenen Verlockung herrlich gespielt von Dascha Trautwein), lockt ihn in der Inszenierung und will die Nacht mit ihm verbringen, obwohl Kaufmann Bulk (Reinhard Mahlberg, auch den Onkel spielend) schon neben ihr liegt und immer dort übernachtet. K. (verzweifelt, überrollt und an der Sinnhaftigkeit stark zweifelnd durch Thorsten Danner) lehnt ab, er müsse sich um sich selbst kümmern. Die Frau des Gerichtsdieners warnt ihn, dass der Bericht des Untersuchungsrichters, mit dem sie eine Liaison zu haben scheint, ungünstig ausfiele. Leni kümmere sich übrigens um alle Angeklagten ... Frauen haben bei Kafka grundsätzlich etwas Verführerisches, Lockendes, Gewerbetreibendes, Tröstendes, Kurierhaftes und Großzügiges. In einem umfangreichen Prozess, der sich hier als Schau der Innenwelten darstellt, wird die Schuldhaftigkeit auch in diesen Kontext gerückt, was ja naheliegend ist.
Der Anwalt Huld (Ralf Dittrich) und die Büros in einem Gebäude spielen im Stück eine dominante Rolle, die Gerichte in einem Armenhaus eine weitere, Staatsdiener und Gerichte hinter Holzgattern, niedrige Decken und gebückte Menschen, die sich mit Kissen an die Decke drücken, K. darin verloren, unter dem Dach auch noch der Künstler Tintorello (Sascha Tuxhorn) , der im Morgenmantel empfängt. Tintorello begleitet erhebliche Strecken des Stückes durch E-Gitarrenmusik, die in den Roman integrierte Türhüterparabel "Vor dem Gesetz" von K. am Piano und Tintorello am Bass kontrastiert und im Sprechgesang vorgetragen. Auch hier die Hervorhebung, dass der Zugang zum "Gesetz" für K. vorgesehen sei, aber nicht möglich. Der Process und sein Ausgang verlaufen "automatisch". Die Gebäude scheinen mir Metaphern für (eine) psychische Innenwelt(en) zu sein.
Arbeit in einem materialistisch-politischen Sinne kommt im Deutungsschema des Regisseurs eine wichtige Rolle zu. Sie wird als sinnentleerte Welt dargestellt. K. ist erfolgreich in seiner Bank, er wird von den Verhaftern nicht ins Gefängnis, sondern zu seinem Arbeitsplatz in der Bank begleitet. Es scheint kein Grund für eine Verhaftung vorzuliegen, keine Unterschlagung oder dergleichen... Gleichwohl könnte der Arbeitsplatz durch den Process gefährdet sein. Es handelt sich wohl mit um die Unterdrückung der individuellen Freiheit des Arbeitenden, seine Ausbeutung, seine Nichtselbstbestimmtheit - lebenslänglich. Wichtig in diesem Process ist ja, dass K. selbst eingreift, selbstbestimmt wird und aktiv. Aufbegehrt! Dummerweise nützt es nichts, das Ende ist nicht abwendbar. Schwarze Vorhänge, die das Eingesperrtsein, das Verhängnis ankündigen, am Ende in einer sehr eindringlich gespielten Szene als Verfolgungswahn und Hinrichtung unter großer Scham, dass all dies passieren musste.
Kafkaeske Groteskheit, verwirrende Sinnlosigkeit und Zwanghaftigkeit im Geschehen durch die Theaterkonstruktion eines Hauses mit offener Front und bereits zu Beginn durch die Verlorenheit inmitten ziellos vorbeieilender, in sich gefangener Menschen, die gleichzeitig auch Verhafter und Verhörer werden.