Angelika Overath
Sie dreht sich um
Roman
Luchterhand-Verlag bei Random House, München 2014. 288 S., 19,99 €
Mitten im ganz normalen Alltag geschieht es: Nach dem Konzertbesuch teilt ein Mann seiner Frau in der Küche mit, dass er nicht alleine in Triest gewesen sei und mit der Freundin ein Kind haben will. Alle Strukturen, Gewohnheiten, Ansichten, Einsichten und Handlungen werden irreal, von jetzt auf nachher. Der Mann, ein Lehrer und Altphilologe, hat sich einer jüngeren Kollegin zugewendet. Die Ehe ist kaputt. Diese Gewissheit versetzt Anna, eine 50-jährige Journalistin in eine Art reflektierende Trance. Sie lässt alles an sich vorüberlaufen, unendliche Gedankenketten, die immer wieder am Beziehungsende neue Nahrung finden. Sie beginnt blindlings zu verreisen und wird von Museen und Gemälden angezogen, die ihr helfen, ihre Lage zu reflektieren, ihr sogar Gesprächspartner werden in diesem Schmerz der Verletzung und Missachtung. Sie dienen ihr auch als Ratgeber zur Neuorientierung im Leben. Vor allem die Rückansichten von Frauen beschäftigen sie, die Abgewendete ...
Der Zufall führt sie von München nach Edinburg in die Schottische Nationalgalerie. Paul Gauguins bretonische Frauen, die in «Jakobs Kampf mit dem Engel oder Vision nach der Predigt» vorwiegend von hinten zu sehen sind, lässt sie eine Weltreise mit Kreditkarte beginnen. Sie sucht nebenbei den Grund der Trennung. Ihr Verhalten? Seines? Eine der Frauen aus Gauguins Gemälde wird ihr zum Gesprächspartner, dreht sich um und erzählt, wie es den jungen Frauen erging, als sie Modell standen. Anna imaginiert einen Dialog und wird auch auf ihrer weiteren Reise mit Frauen sprechen, die sich aus den Bildern, ihrer eingefangenen Vergangenheit an sie wenden und die Möglichkeit zur Reflexion der eigenen Vergangenheit bieten.
Eduard Hoppers Gemälde von seiner Frau Jo beleuchtet die Konflikte an der Seite des Mannes, das eintönige und stille Leben. Die Reise führt über Kopenhagen nach Boston (eine szenische Rekonstruktion der Bostoner Tea Party von 1773, Aufbegehren gegen staatliche Zölle und Steuern, fasziniert sie) und nach St. Moritz, wo Segantinis «Frühmesse» eine Schlüsselrolle einnimmt. Die Vergangenheit verdeckt und übermalt - in der Vorfassung war ein schwangeres Mädchen zu sehen. Auch der Louvre und das Hôtel Turgot in Paris sowie Skagen in Dänemark spielen eine Rolle.
Ein sehr interessanter Roman mit einem ungewöhnlichen Einfall zur Handlungskonstruktion - ohne große Spannungsmomente, aber im Fluss der Gedanken, ein großes Angebot an Verarbeitung für Leser. Dabei verknüpft mit einem Ausflug in die Kunst.
SWR Mediathek
Angelika Overath "Sie dreht sich um"
16.8.2014 | 14.05 Uhr | 11:10 min
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