Striding pioneers | © Michael Hvostenko 1920 |
Eine revolutionäre Feministin mit vielen Leben
Alexandra Kollontai (1872-1952) gilt als eine der bedeutendsten russischen Revolutionär*innen und Feminist*innen. Durch ihre Auseinandersetzung mit den Klassenkämpfen im Zuge der russischen Revolutionen von 1917 kam sie zu der Erkenntnis, dass die Arbeiter*innenklasse ohne die aktive Beteiligung der Frauen und die Aufnahme der „Frauenfrage“ in ihre Programme nicht erfolgreich sein kann. Zeitlebens kämpfte sie für die Durchsetzung dieser Einsicht, wie die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz in ihrem Beitrag anlässlich der aktuellen HKW-HAU-Theaterkooperation „Utopische Realitäten – 100 Jahre mit Alexandra Kollontai“ zeigt.
Alexandra Kollontai kam am 19. März 1872 in St. Petersburg als Tochter einer Gutsbesitzerfamilie zur Welt. Getragen von tiefer Leidenschaft heiratete sie 1893 gegen den Willen der Eltern den mittellosen Ingenieur Wladimir Kollontai und gebar einen Sohn. Mit dem Dasein als Mutter und Hausfrau konnte sie sich nicht abfinden, deshalb verließ sie 1898 Mann und Kind. Sie wandte sich dem Marxismus zu; die „soziale Frage“ stand für sie nun im Zentrum. In der Schweiz studierte sie Nationalökonomie, trat in die illegale Sozialdemokratische Partei Russlands ein und widmete nunmehr ihr Leben der Arbeiterklasse und dem Kampf für die Befreiung der Frauen. Nach dem Tod ihres Vaters 1901 lebte sie mit ihrem Sohn Mischa und Soja, ihrer Kindheitsfreundin, zusammen, bis die gescheiterte Revolution von 1905 sie in die Flucht trieb.
Mit Genoss*innen gründete sie 1907 den ersten Arbeiterinnenclub, fuhr im gleichen Jahr nach Stuttgart, um Clara Zetkin bei der Gründung der sozialistischen Fraueninternationale zu unterstützen und bereitete für 1908 den ersten Allrussischen Frauenkongress vor. Ihr dafür vorgesehenes Referat konnte sie nicht selber halten, weil sie vor einer drohenden Verhaftung durch die sozialistische Polizei fliehen musste. Als Emigrantin lebte sie in verschiedenen europäischen Ländern und in den USA und kam mit den führenden Köpfen der internationalen Arbeiter*innenbewegung in Kontakt. Nach der Februarrevolution 1917 kehrte sie nach Russland zurück, trat den Bolschewiki bei, wurde Delegierte des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrates und beteiligte sich am bewaffneten Aufstand im November 1917. Unter Lenins Revolutionsregierung wurde sie die weltweit erste Ministerin. Bei den Auseinandersetzungen um den Friedensvertrag von Brest-Litowsk stand sie auf der Seite von Lenins Gegnerinnen und legte im März 1918 aus Protest gegen den Vertrag ihr Amt nieder. Sie gründete die Arbeiteropposition mit, die sich für die Beteiligung der Arbeiter*innenklasse an den wirtschaftlichen Entscheidungen einsetzte.
1922 lobte Lenin die einstige Emigrationsgenossin in die norwegische Gesandtschaft Russlands weg. Sie wurde die erste weibliche Spitzendiplomatin der Welt. Obwohl sie in der aufdämmernden Ära Stalins vorsichtiger wurde, war sie bereits abgestempelt. Sie galt als kommunistische Revolutionärin, die überdies der freien Liebe emanzipierter Frauen das Wort geredet hatte. Mit viel Fingerspitzengefühl leitete sie die Auslandsvertretungen in Norwegen, Mexiko und Schweden bis 1940. Sie setzte sich für die Beendigung des Winterkrieges 1939/40 zwischen der Sowjetunion und Finnland ein. 1945 musste sie aus gesundheitlichen Gründen nach Moskau zurückkehren. Als einzige Altkommunistin der Gruppe Arbeiteropposition entging sie allen Säuberungen. Bis zu ihrem Tode am 9. März 1952 in Moskau war sie als Beraterin des sowjetischen Außenministeriums tätig.
Kollontai kämpfte für freie Liebe, Abschaffung der bürgerlichen Ehe und Familie und die Gleichberechtigung der Frau. Sie plädierte für neue Formen des Zusammenlebens der Geschlechter auf einer gleichberechtigten Basis, denn „die wirklich befreite Frau muss materiell vom Mann unabhängig sein und von den mit der Mutterschaft verbundenen Pflichten entlastet werden“. Gemäß ihrer Utopie sollte die isolierte Kleinfamilie durch das Leben in der Kommune, mit gemeinsamer Arbeit, Haushaltsführung und Kindererziehung ersetzt werden.
In der Frage einer neuen Sexualmoral und der „neuen Erotik“ gehörte sie zum radikalsten Flügel der Partei. Oft erntete sie Spott und Kritik innerhalb der eigenen Partei. Anstößig fand man vor allem, dass sie die Vorstellungen einer veränderten Sexualmoral auch selbst praktizierte.
In ihrem Buch Die neue Moral und die Arbeiterklasse kritisierte sie die romantische Liebe als Ausdruck des Besitzdenkens der Menschen. Sie forderte eine andere Moral: „Die neuen Frauen wollen nicht Alleinbesitz, wo sie lieben. Sie fordern Achtung vor der Freiheit des eigenen Gefühls.“ Davon überzeugt, dass eine Revolution unerlässlich sei, um die Arbeiter*innenklasse an die Macht zu bringen, wurde Kollontai zur Propagandistin einer Revolution der Frau, die sie nur als „Resultat des Sieges einer neuen Gesellschaftsordnung“ für möglich hielt. In einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz gegründet ist, bliebe keine Zeit für die Kultur des anspruchsvollen und empfindlichen „Eros“. Die Zeit sei reif für eine solche grundsätzliche Veränderung; allein die Menschen wären es offensichtlich nicht.
Unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917 folgte die sowjetische Politik der Richtung von Kollontais Utopie. Das alte Ehegesetz wurde abgeschafft und die Frau dem Mann rechtlich gleichgestellt. Der Staat trat nur noch als Vertreter der Interessen der Kinder auf, die Kirche verlor ihren Einfluss gänzlich. Ehe und Scheidung wurden zum formellen Akt, der nur bei der Stadtverwaltung registriert wurde. Eheliche und uneheliche Kinder wurden gleichgestellt, der Mutterschutz wurde ausgebaut und durch finanzielle und materielle Unterstützung ergänzt. Im November 1920 wurde auf Druck von Kollontai die Abtreibung legalisiert. Die Entwicklung neuer Wohnmodelle, Kinderkrippen, öffentlicher Wäschereien und Kantinen wurde durch Dekret unterstützt.
Kollontais Utopie, die Familie aufzuheben, war damit nicht umgesetzt, auch nicht die der sexuellen Befreiung. Die Strukturen der Kleinfamilie als kleinste ökonomische Einheit erwiesen sich auch in der Arbeiter*innenklasse als resistenter, als Kollontai vermutet hatte. Trotz der maßlosen Überforderung, die ein Familienleben kaum möglich machten, sehnten sich die meisten Sozialist*innen nach der Aufrechterhaltung „der kleinen in sich geschlossenen Dreieinigkeit – Mann, Weib und Kinder“ (Lily Braun). Das „Private“ sollte privat bleiben.
So war es leicht, unter Stalins Herrschaft die Errungenschaften zurückzudrehen und die patriarchale Kleinfamilie zu propagieren. 1936 wurde die Möglichkeit der Ehescheidung erschwert, Abtreibung und Homosexualität wurden gesetzlich verboten.
Kollontai war ihrer Zeit weit voraus. Ihre Träume und ihre politische Praxis wurden in den neuen Frauenbewegungen, die den 68ern folgten, wieder aufgenommen. Diese übten Kritik an den Strukturen der kleinfamilialen Lebensformen mit traditionellen Geschlechterrollen und Besitzansprüchen, an der repressiven Kindererziehung, traten für Selbstbestimmungsrecht bei Kinderwunsch und Schwangerschaft ein und kämpften gegen Gewalt. Sie gründeten den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, Wohngemeinschaften, Kinderläden, Kommunen und Frauenprojekte mit kollektiven Strukturen. Auch das Private sollte politisch sein. Viele konnten sich einen Sozialismus ohne Feminismus (und umgekehrt) nicht vorstellen. Impulse der Bewegungen wurden durch das etablierte System aufgenommen, in den Mainstream integriert und politisch entsorgt. Kleine Erfolge konnten auch sie erzielen. Doch die Utopie einer gewaltfreien, friedlichen Gesellschaft von Frauen und Männern, die sich als Ebenbürtige begegnen und anerkennen, wurde auch von den 68ern nicht erreicht. Familismus und patriarchale Herrschaft haben sich als resistenter erwiesen, als die Aktivist*innen vermutet hatten.
Obwohl die Lebensformen vielfältiger geworden sind, lässt sich aktuell ein Rückzug in die traditionelle bürgerliche, heterosexuelle Kleinfamilie beobachten. Alternative Lebensformen oder gar gelebte Utopien verschwinden offenbar hinter dem Wunsch, der Norm zu entsprechen. Möglicherweise ist das auch eine Antwort auf die prekären Lebensverhältnisse, die Angst, im Irrgarten der Multioptionsgesellschaft nicht den richtigen Weg zu finden, oder die Angst, nirgendwo dazuzugehören, die dazu führt, dass sich Erwachsene nach unkündbaren Beziehungen sehnen und junge Menschen in der romantischen Partnerschaft und der bürgerlichen Kleinfamilie Sicherheit und Geborgenheit suchen. Konservative Gruppierungen, die eine Verschärfung der Abtreibungsgesetze fordern und vor einer „Überfremdung“ des Nationalstaates warnen, finden Anhänger*innen, weil diese nach einfachen Lösungen suchen. Die Sehnsucht nach zukünftigen Utopien einer befreiten Gesellschaft von freien Zusammenschlüssen unter freien Menschen ohne Unterdrückung und Gewalt darf nicht aufgegeben werden.
Der Artikel von Gisela Notz entstammt der HAU-Publikation Utopische Realitäten – 100 Jahre Gegenwart mit Alexandra Kollontai, die anlässlich des gleichnamigen Festivals, einer Koproduktion von HKW und HAU Hebbel am Ufer (12.-22.01.2017), erschienen ist.