(Fotos siehe hier: https://www.schauspielfrankfurt.de/spielplan/premieren/chinchilla-arschloch-waswas/)
Einer der interessantesten Theaterabende in Frankfurt ist seit einigen Wochen CHINCHILLA ARSCHLOCH, WASWAS von Rimini Protokoll. Zwar kein Theater mehr, wie manch einer das erwartet hätte, sondern eine Performance. Direkt aus dem Leben, einer von ihnen wird gar mit seinem VW-Bus ins Depot gebracht und springt wie ein US-amerikanischer Entertainer aus der alten Beule auf die Bühne. Natürlich mit ansatzweise theatralischem Rollenspiel, nur die Beteiligten spielen sich selbst und stellen sich und ihre Erkrankungen vor.
Es geht um das Tourette-Syndrom, das ja wirklich einiges zu bieten hat, von ADHS-ähnlicher Unruhe und Tourette-Bewegungszwängen, über spontanes Lauteausstoßen oder -produzieren bis hin zur berühmten Koprolalie, dem Verwenden von obszöner und Fäkalsprache inklusive Schimpfwörtern aus diesem Formenschatz.
Da Tourette in den Bereich der Behinderungen fällt, haben wir es auch gleichzeitig noch mit einem integrativen Projekt zu tun. Behinderte für Behinderte wäre jetzt eindeutig zu viel gesagt, denn die Paar Prozent Behinderte im Zuschauerraum nähern sich nicht den 75 % Behinderten bei den Schauspielern an. Nicht körperliche Behinderungen, sondern erblich bedingte hirnorganisch-neurologische sind am Wirken, die die Betroffenen wegen ihrer starken Nähe zu Zwangsstörungen regelrecht knechten und in permanent wiederkehrender, teilweise extremer unwillkürlicher Bewegung oder im dauernden Rede- wie Geräuschfluss halten. Auffallen die bizarren, zumeist unpassenden Bewegungen, die sich in der Zwangsspirale genauso wiederholen wie die unbewussten Schimpfausbrüche oder teilweise witzigen Geräusche. Und plötzlich, wenn sich alles akklimatisiert hat, passen die Tourette-Unterbrechungen einfach in die Perfomance, streckenweise wie bestellt. Apropos, Pizza gab es auch, bestellt von Bijan Kaffenberger, aber nur eine, und die hatte viel Mais als Couverture obendrauf. Ist sicher nicht so krebserregend wie Salami mit überbackenem Käse. Das muss man allerdings erst mal kosten, um hier mitzureden. Ein Stückchen für jeden war definitiv nicht drin.
Die Performance stellt nun drei verschiedene Tourettetypen ins Rampenlicht, die schon aufgrund ihrer individuellen Ausformungen zu hoher Aufmerksamkeit führen. Sie müssen etwas leisten, was ihnen immer Probleme macht: sich planmäßig (oder überhaupt nicht) bewegen und einbringen. Immer ist genau das durchbrochen von Tourettesymptomen. So erzählt jeder aus seinem Leben, stellt seinen Umgang mit der Krankheit im Alltag dar, mit allen Folgen, Einschränkungen und Erlebnissen. Er spricht über sich, und wo er steht, wie er das Leben empfindet. Die Bewegungen sind tatsächlich noch in einen choreographischen Rahmen eingebettet, und alles Geschehen wird immer mehr zur Mitte hin komprimiert, aus Inselschollen wird eine große Insel.
Barbara Morgenstern, das ganze Stück gute Laune verbreitend, begleitet die drei männlichen Hauptpersonen am Keyboard, auch mit Gesang. Und die Tourettis sind dann in der Reihenfolge ihres Auftretens (es werden immer mehr) Benjamin Jürgens, einem Frankfurter Altenpfleger und Musiker, der mit Stilmischungen und (jedenfalls im Bockenheimer Depot) störungsfreiem Gesang (!) tourt. Seine Geräuschkulisse ist ein interessantes Ensemble aus Miauen, Pfeifen, Ploppen und anderen Geräuschen im Rahmen seines natürlichen Stand-up-Tourettes. Und blieb konstant Backgroundmusik bis zum Schluss. Der zweite Gast Christian Hempel war besagter Entertainer mit Halleneinfahrt, der die krasse Variante der Koprolalie mit obzönen und Fäkalwörtern plus künstlerische Bewegungszwänge vorführte. Immer wenn ES in ihm muckte, schleuderte er Benjamin J. ein kräftiges "Arschloch, Arschficker, geile Sau" in den Rücken, während er schweigen sollte oder aus seinem Textheft vorlas. Im Wettkampf um das Durchhaltevermögen "Wer tict zuerst" zeigte sich Christian H. als stärkerer Trigger, er löste sehr schnell Tics bei Benjamin J. aus. Seine tänzerischen Girlandenbewegungen mit dem Arm und Bein zur Seite waren eine weitere Attraktion. Der koprolalische Sprechdruck Christian H.s zeigte sich jedoch als wirklich extrem störend und alle Konventionen auflösend, kein Wunder, dass Nachbarn völlig unverständig und schon schwer überreizt Anzeige erstatteten. Und am Ende kam Bijan Kaffenberger, frischer Direktkandidat der SPD in Darmstadt an einem Rednerpult dem Hessischen Landtag nachempfunden mit einer Rede über sich und seine Variante, die ein Art Zusammenkrümmen erzwingt. Sein intelligenter Diskurs immer wieder zusammengerissen und neu aufgebaut, seine Hand, die im Zwang zum wiederholten Mal zum leeren Wasserglas tendierte.
Regie führte wie immer Helgard Haug, die mit Assistentin Meret Kiderlen und Bühnen-/Kostümbildnerin Mascha Mazur eine Innenschau des Tourettesyndroms mit theatralischen Mitteln und Landschaften kreierte. Ein Muss für alle Experimentaltheater-Freunde, die neue Wege suchen und kennenlernen wollen.
Einer der interessantesten Theaterabende in Frankfurt ist seit einigen Wochen CHINCHILLA ARSCHLOCH, WASWAS von Rimini Protokoll. Zwar kein Theater mehr, wie manch einer das erwartet hätte, sondern eine Performance. Direkt aus dem Leben, einer von ihnen wird gar mit seinem VW-Bus ins Depot gebracht und springt wie ein US-amerikanischer Entertainer aus der alten Beule auf die Bühne. Natürlich mit ansatzweise theatralischem Rollenspiel, nur die Beteiligten spielen sich selbst und stellen sich und ihre Erkrankungen vor.
Es geht um das Tourette-Syndrom, das ja wirklich einiges zu bieten hat, von ADHS-ähnlicher Unruhe und Tourette-Bewegungszwängen, über spontanes Lauteausstoßen oder -produzieren bis hin zur berühmten Koprolalie, dem Verwenden von obszöner und Fäkalsprache inklusive Schimpfwörtern aus diesem Formenschatz.
Da Tourette in den Bereich der Behinderungen fällt, haben wir es auch gleichzeitig noch mit einem integrativen Projekt zu tun. Behinderte für Behinderte wäre jetzt eindeutig zu viel gesagt, denn die Paar Prozent Behinderte im Zuschauerraum nähern sich nicht den 75 % Behinderten bei den Schauspielern an. Nicht körperliche Behinderungen, sondern erblich bedingte hirnorganisch-neurologische sind am Wirken, die die Betroffenen wegen ihrer starken Nähe zu Zwangsstörungen regelrecht knechten und in permanent wiederkehrender, teilweise extremer unwillkürlicher Bewegung oder im dauernden Rede- wie Geräuschfluss halten. Auffallen die bizarren, zumeist unpassenden Bewegungen, die sich in der Zwangsspirale genauso wiederholen wie die unbewussten Schimpfausbrüche oder teilweise witzigen Geräusche. Und plötzlich, wenn sich alles akklimatisiert hat, passen die Tourette-Unterbrechungen einfach in die Perfomance, streckenweise wie bestellt. Apropos, Pizza gab es auch, bestellt von Bijan Kaffenberger, aber nur eine, und die hatte viel Mais als Couverture obendrauf. Ist sicher nicht so krebserregend wie Salami mit überbackenem Käse. Das muss man allerdings erst mal kosten, um hier mitzureden. Ein Stückchen für jeden war definitiv nicht drin.
Die Performance stellt nun drei verschiedene Tourettetypen ins Rampenlicht, die schon aufgrund ihrer individuellen Ausformungen zu hoher Aufmerksamkeit führen. Sie müssen etwas leisten, was ihnen immer Probleme macht: sich planmäßig (oder überhaupt nicht) bewegen und einbringen. Immer ist genau das durchbrochen von Tourettesymptomen. So erzählt jeder aus seinem Leben, stellt seinen Umgang mit der Krankheit im Alltag dar, mit allen Folgen, Einschränkungen und Erlebnissen. Er spricht über sich, und wo er steht, wie er das Leben empfindet. Die Bewegungen sind tatsächlich noch in einen choreographischen Rahmen eingebettet, und alles Geschehen wird immer mehr zur Mitte hin komprimiert, aus Inselschollen wird eine große Insel.
Barbara Morgenstern, das ganze Stück gute Laune verbreitend, begleitet die drei männlichen Hauptpersonen am Keyboard, auch mit Gesang. Und die Tourettis sind dann in der Reihenfolge ihres Auftretens (es werden immer mehr) Benjamin Jürgens, einem Frankfurter Altenpfleger und Musiker, der mit Stilmischungen und (jedenfalls im Bockenheimer Depot) störungsfreiem Gesang (!) tourt. Seine Geräuschkulisse ist ein interessantes Ensemble aus Miauen, Pfeifen, Ploppen und anderen Geräuschen im Rahmen seines natürlichen Stand-up-Tourettes. Und blieb konstant Backgroundmusik bis zum Schluss. Der zweite Gast Christian Hempel war besagter Entertainer mit Halleneinfahrt, der die krasse Variante der Koprolalie mit obzönen und Fäkalwörtern plus künstlerische Bewegungszwänge vorführte. Immer wenn ES in ihm muckte, schleuderte er Benjamin J. ein kräftiges "Arschloch, Arschficker, geile Sau" in den Rücken, während er schweigen sollte oder aus seinem Textheft vorlas. Im Wettkampf um das Durchhaltevermögen "Wer tict zuerst" zeigte sich Christian H. als stärkerer Trigger, er löste sehr schnell Tics bei Benjamin J. aus. Seine tänzerischen Girlandenbewegungen mit dem Arm und Bein zur Seite waren eine weitere Attraktion. Der koprolalische Sprechdruck Christian H.s zeigte sich jedoch als wirklich extrem störend und alle Konventionen auflösend, kein Wunder, dass Nachbarn völlig unverständig und schon schwer überreizt Anzeige erstatteten. Und am Ende kam Bijan Kaffenberger, frischer Direktkandidat der SPD in Darmstadt an einem Rednerpult dem Hessischen Landtag nachempfunden mit einer Rede über sich und seine Variante, die ein Art Zusammenkrümmen erzwingt. Sein intelligenter Diskurs immer wieder zusammengerissen und neu aufgebaut, seine Hand, die im Zwang zum wiederholten Mal zum leeren Wasserglas tendierte.
Regie führte wie immer Helgard Haug, die mit Assistentin Meret Kiderlen und Bühnen-/Kostümbildnerin Mascha Mazur eine Innenschau des Tourettesyndroms mit theatralischen Mitteln und Landschaften kreierte. Ein Muss für alle Experimentaltheater-Freunde, die neue Wege suchen und kennenlernen wollen.