Die Zukunft Europas war per Wahl abzuhandeln und dann noch die von Rheinland-Pfalz. Ein passender Tag, um über die neuen Entwicklungen in unserer Gesellschaft nachzudenken. Im Schauspiel Frankfurt wurde Eric de Vroedts The Nation I und II mit knapp über 4 Stunden Aufführungszeit gespielt, und man hatte Zeit, die politischen Entwicklungen in den Pausen zu verfolgen. Unter der Regie von David Bösch entfaltete sich ein klassisch moderner Politkrimi, wie man ihn sonst nur aus dem TV oder Kino kennt. Hier einmal fokussiert auf eine mitteleuropäische Stadt, die in den Niederlanden oder in Deutschland spielen könnte. Kein Thema bleibt ausgespart, religiöse und sexuelle Minderheiten, orthodoxer Islam und Sharia in Europa, politische Machtspiele, Korruption, Rassismus, Ausländerhass, Diktatur versus freiheitliches System, Infragestellung der Demokratie und ganz deutlich die begonnene Konstruktion der Future World, wie man sie schon vor Jahrzehnten in Science-Fiction-Filmen vorgedacht fand. Oder in Games: Call to Power schafft Cyberwelten, hochtechnisierte digitale, bewachte Lebens-, Wirtschafts- und Militärzentren. Alles schon drin in den Köpfen bei einem Großteil der Nachwachsenden, inklusive dem perfekten Massenamok.
Das Geschehen fängt an mit dem Verschwinden von Ismael Ahmedovic, einem elfjährigen Sprössling eines Migrantenpaares, aufgewachsen in einer Pflegefamilie, die Mutter Miriam Traoré aus Mali und dem Vater Adem aus Bosnien, der allerdings zu diesem Zeitpunkt schon tot ist. Ismael hat noch einen Halbbruder namens Damir (eher unmoslemisch, unautoritär, aber kritisch hinterfragend Samuel Simon), der von seinen Anschauungen her stark islamisch, fast schon salafistisch orientiert ist. Ismael warf eine Schaufensterscheibe ein und wurde von einem Polizisten festgenommen, den man in die Rechtsaußen-Ecke stellen würde. Dabei sei es zu Handgreiflichkeiten gekommen, der Junge wurde hingeworfen und seine Hand verdreht. Und so beginnt das Bühnengeschehen auf einer Polizeistation, die nicht gerade reich ausgestattet versucht die Nerven im Alltag zu behalten. Der Kaffee ist aus … Eine Polizistin namens Ludmilla Bratusek (von Altine Emini hautnah als emotionale Draufgängerin gespielt) nimmt dabei eine wichtige Rolle ein, sie deckt den Kollegen, der die Festnahme tätigte, David Wilzen (in Doppelrolle mit Van der Poot ein überzeugender Shenja Lacher), und räumt recht laut auch beim eintreffenden Ermittler Mark van Ommeren (schimanskimäßig Sebastian Kuschmann) auf. Bratusek nimmt sich kein Blatt vor den Mund, sucht Gerechtigkeit, und tobt auch einmal entnervt dafür. Ihre Moderatorenrolle polizeilicherseits bleibt erhalten, sie hält den Faden mit in der Hand. Vor den Vorhang tretend klärt sie auf, was passierte, um Geschehen zu erzählen.
Nach der Festnahme war der Junge dann plötzlich weg, davongelaufen, mitgenommen von einem sozialdemokratischen Politiker Wolff (passend und warmherzig sozial bei starkem Selbstdarstellungsinteresse Heiko Raulin). Die eingeworfene Fensterscheibe gehört zum Weinladen seiner Mutter, die eine Weinbar darin für Muslima eröffnen wollte, einem klassischen Protestprojekt gegen die überkommenen Verbote des Islams, hier: Alkohol zu trinken. Das Projekt hatte schon den Unmut einer privaten Sharia-Polizei ("Nachbarschaftspräventionsteam") auf sich gezogen, wie sie vor Jahren in Wuppertal aufgetreten ist. Diese begannen mit Störaktionen. Der Mutter bricht es fast das Herz, dass ihr eigener Sohn ihr die Scheibe eingeworfen hat. Sein Halbbruder Damir hatte ihn dazu gebracht, für die Religion gegen seine Mutter zu handeln. Damir gerät ins islamistische Terrorumfeld und wird obendrein in eine Flughafensperrung wegen Terrorverdacht verwickelt und verhaftet. Ermittlungsgespräche einer Psychiaterin, die den Jungen ganz sympathisch findet, versuchen seine Beweggründe und Zugehörigkeiten herauszufinden. So reiht sich Baustein an Baustein, Problemfeld nach Problemfeld wird angesprochen, der jeweilige Verdacht in diese Richtung untersucht und analysiert.
Nach dem rassistischen Polizisten kommt der libertinäre Linke, der selbst in einer homosexuellen Beziehung mit seinem PR-Berater lebt und pädophile Neigungen hat. Und er brachte tatsächlich den Jungen wieder in sein Viertel zurück, in dem wiederum Jörg van der Poot, ein rechtspopulistischer Politiker und Bauunternehmer, eine riesige neue Future World, "Safe City", plant. Die Bauarbeiten haben schon begonnen, der ehrgeizige Plan zur voll digitalisierten, überwachten und mit allen Mitteln der modernen Technik ausgestatteten Stadt. De Vroedt verweist hier auf die ehrgeizigen Projekte von Bill Gates, der eine ebensolche Stadt in Arizona bauen will, Panasonic in kleinerem Rahmen nur einige Wohnungen und Saudi-Arabien das 500-Mrd.-Dollar-Projekt Neom, eine Stadt mit High Tech, Passagierdrohnen und digitalen Schlüsseln und Ausweis-, Zahlmitteln, Überwachungsfunktionen aller Art.
Wolff ist gegen das Projekt und versucht es noch zu bremsen. In einer Talkshow, moderiert von der durchsetzungsfähigen Sabine Kuypers (in Doppelrolle mit der Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten eine hervorragende Claude de Demo), wird der Fall Ismael thematisiert, Wolff, van der Poot und andere wichtige Personen, wie z.B. die Mutter, die Pflegeeltern des Ismael, die Aschenbachs (Heidi Ecks und Uwe Zerwer). Der rechtsgerichtete You-Tube-Vlogger "Der Bär" eröffnet unterdessen das Mobbing und die Hetze gegen den angeblich perversen Wolff als Kinderschänder und Mörder. Der wurde in der entstehenden Safe City mit dem Jungen fotografiert, und zwar wohl von Teilnehmern eines ominösen Treffens mit zwei Autos, bei dem ein Briefumschlag (eventuell mit Geld?) bei heruntergelassenen Scheiben den Besitzer wechselte. Unschwer zu erkennen, dass der Gegner van der Poot hier hineinspielt. Wolff verlor beim Beobachten dieses nächtlichen Deals den Jungen aus den Augen. Der flüchtete in einen der ihm bekannten unterirdischen Gänge im Viertel. Genau an dieser Stelle begannen die Bauarbeiten auf van der Poots Geheiß hin am nächsten Morgen mit der Füllung der Gänge durch Flüssigbeton. Der Junge wurde eingeschlossen und erstickte in seinem Gefängnis. Ein Spürhund fand in dann Tage später. Wolff hatte in der Zwischenzeit - gemobbt und verunglimpft - seine politische Stellung verloren und war von seiner Partei ausgeschlossen worden. Er sucht Poot auf und stellt ihn zur Rede, möchte wissen, ob dieser wusste, dass sich der Junge in den Gängen an dieser Stelle aufhielt, und alles scheint tatsächlich ein Komplott der Rechtspopulisten zu sein. Wolff rächt sich für seine Verunglimpfung, seine Entmachtung und für die Ermordung des Jungen mit Totschlag an Poot. Ob er je zur Verantwortung gezogen wurde, bleibt offen.
Wie eine Folge des berühmten Tatorts fesselt, rekonstruiert und vermittelt das Stück auf hohem Niveau unsere gesellschaftlichen und politischen Probleme wie Machenschaften der Gegenwart. Keine Langeweile, immer am Ball, die Zeit läuft groß im Hintergrund davon, und permanent auf der Spur nach dem Täter und der Wahrheit. Dem Projekt „Safe City“ kommt eine zentrale Bedeutung als Inkarnation des neuen Überwachungs- und Kontrollstaates mit digitalen und postmodernen Errungenschaften zu. Bei hohem Komfort und scheinbarer Herrschaft über die Dinge ist der Bürger nur ein Untertan in einer Diktatur, in der er sich nicht mehr frei und unbemerkt bewegen kann. Alles ist bekannt, wird registriert, so wie Ihr Nachbar oder jeder Interessierte sich in Ihre Wohnung schleichen kann und Ihren Browserverlauf und noch viel mehr in Ihrem PC studieren kann. Das Verhalten nach außen als scheinbar grenzenlos kommunikativer Teilnehmer des großen digitalen Tamtams bei den Social Media oder das persönliche Surfverhalten, Abfragen von individuellen Interessen, ist die andere Seite des gläsernen Bürgers. In Safe City weiß zumindest der (offizielle, inoffizielle oder selbsternannte) Überwacher, in der Regel auch die anderen, wann, wo und wie Sie sich im Raum bewegt haben. Wer auch immer diese indifferente Globalkontrolle mag oder einrichten will, sie wird auch den Arbeitsprozess noch mehr erfassen als jetzt.
Den humanistischen Anschauungen läuft dies alles stark entgegen. Eine geschickte Versklavung bei scheinbarem Luxus ... Autoritäre Macher warten auf den geeigneten Zeitpunkt, die Macht an sich zu reißen. Und es treten wieder Figuren auf, von denen noch nie jemand gehört hat, die alles diktieren wollen, den man trauen muss, weil es keine anderen gibt, weil kein Kontakt zum Bürger mehr da ist, der gar nicht mitsprechen kann!