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Freitag, 29. Mai 2015

Wie war die ENDSTATION SEHNSUCHT im Frankfurter Schauspiel?

Blanche und der junge Zeitungskassierer          (c) Birgit Hupfeld

An Tennessee Williams (Thomas Lanier Williams III, geb. 26. März 1911 in Columbus, Mississippi und gest.25. Februar 1983 in New York City, New York) und seinen Welterfolgen auf Bühne und im Film führt kein Weg vorbei. Sein absolut zeit- und gesellschaftskritischer und zugleich psychoanalytischer Stil führte nicht nur der amerikanischen Gesellschaft vor, wie dekadent und getrieben, verlogen und sich selbst wie andere betrügend ihr Leben ablief. Seine Biographie spielt stark in alles hinein, wie auch seine Homosexualität, die er Jahrzehnte, bevor es nun an manchen Orten statthaft ist, als Outsider lebte. Er fühlte sich vom Vater immer stiefväterlich behandelt, der Bruder bevorzugt. Seine Schwester, die wohl auch in die Figur der Blanche DuBois in ENDSTATION SEHNSUCHT einfloss, war psychisch krank. Die Eltern stimmten zu seinem Entsetzen einer Lobotomie zu, Trennschnitte im Gehirn zwischen Frontallappen, Thalamus und Grauer Substanz, um sie ruhiger zu stellen, was aber ihr ganzes Wesen demolierte ... Aus all dieser notwendig anderen Sicht der Dinge schuf er wahre Meisterwerke, die die Leute in Atem hielten.

Von zeitloser Morbidität, gefüllt mit psychischer und gesellschaftlicher Problematik schob er einen Spiegel der Ausweglosigkeit und Destruktion auf die Bühne, die auch die großen Kritiker und Gremien überzeugte. Für seine Theaterstücke "Endstation Sehnsucht (A Streetcar Named Desire)" und "Die Katze auf dem heißen Blechdach (Cat On a Hot Tin Roof)" wurde Tennessee Williams 1948 und 1955 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Für seine enge Freundin, die Schauspielerin Anna Magnani schrieb er die Stücke "The Rose Tattoo (Die tätowierte Rose)" und "Orpheus Descending (Orpheus steigt herab)", in denen sie jeweils auch die Hauptrolle spielte. Gewidmet hat er "The Rose Tattoo" seinem Lebenspartner und Sekretär Frank Merlo, nach dessen Unfalltod er jahrelang in einer tiefen Depression steckte. 1979 eröffnete ein Baptistenprediger die Hatz auf ihn und seine Homosexualität, was mehrere Angriffe zur Folge hatte, u.a. eine Körperverletzung durch mehrere Jugendliche. Sein Tod erscheint so absurd wie das Leben seiner Bühnenfiguren. Am 25. Februar 1983 erstickte Tennessee Williams im New Yorker Hotel Elysee an einem Flaschenverschluss für Nasenspray oder Augentropfen.

Im Frankfurter Schauspiel läuft seit 6. Dezember 2014 die 130-minütige ENDSTATION SEHNSUCHT als ein Alptraum von und mit Alkoholabhängigen, psychisch Deformierten, Spielernaturen, Gewalttätigen und Heruntergekommenen und als Medienexperiment. Der Regieansatz des prämierten Schauspiel- und Opernregisseurs Kay Voges integriert Videokunst und Medienpäsenz gemeinsam mit dem upcoming Daniel Hengst, ein ebenfalls prämierter Videokünstler, der bereits HAMLET mit Kay Voges in Dortmund verwirklichte. Die beiden unerbittlich auf das Geschehen, die Personen, Gesichter und Körper gerichteten Videokameras werden von Jos Diegel und Alexander Dumitran geführt. Sie bewirken ganz Unterschiedliches: Einerseits übersetzen sie das Geschehen in Filmsprache und vergrößern alles, Leid, Liebe, Schwäche, Krankheit, auch das Widerliche, Gewalttätige. Sie werden damit der Inszenierungshistorie des Stücks auf Bühne und im Film gerecht. Andererseits dokumentieren sie auch alles was geschieht, sie sind Zeugen des Geschehens, bannen es in digitale Konserven. Die Filmer können jederzeit auf alle Szenen und Äußerungen zurückgreifen. Es wird alles beweisbar, bei einer imaginären Gerichtsverhandlung zum Beispiel, die dieses ungeheure Geschehen zum Thema hätte. Es gibt erhebliche Geständnisse von Blanche. Das Gesamtvideo wäre der digitale Beweis zur Zeugenschaft der Zuschauer, dass Lügen existieren, die die anderen nerven, eine Wahrheit, ein Vergehen, ein Sündenfall, eine Schuldigwerdung. All das muss aufgedeckt werden, um zu verstehen, warum die Protagonisten so sind, wie sie sind. Die psychoanalytische Interpretationsleistung der Zuschauer ist gefragt.

Das Filmische umrahmt spiegelbildlich die Bühne in der Mitte, die sich von links nach rechts oder umgekehrt bewegt. Der Fokus bleibt immer auf das Zentrum des theatralischen Geschehens gerichtet.


Stanley und Freunde sowie Blanche          (cBirgit Hupfeld


Entscheidend für den ganzen Verlauf ist die Entwicklung der Blanche DuBois (mit unglaublicher Ausdauer sehr gut und gänzlich überzeugend gespielt von Stephanie Eidt), von der anfangs noch ehrbar erscheinenden Englischlehrerin an der High-School (die Regie hat Gymnasium daraus gemacht, was das Geschehen auch in deutsche Realitäten holt), über ihr Bemühen, ihrer Gastgeberin und Schwester Stella (sehr, sehr glaubwürdig als arme geblendete Vertuscherin und Leidende Claude de Demo) klarzumachen, dass sie in ihrem Mann Stanley (Oliver Kraushaar gigantisch destruktiv und ein Macho, wie man ihn selten so primitiv trifft) ein "Tier" liebe, "Bleib nicht bei diesem Affen!", der ohne Anstand obendrein auch noch ein "Polacke" sei, bis zu ihrem Niedergang, ihrer Entlarvung, Erniedrigung und vollständigen psychischen Erkrankung. Im wesentlichen streben Realität und Imagination immer mehr auseinander. Die Lady, die sie sein möchte, existiert eigentlich gar nicht mehr.

Der Aufenthalt bei Stella wird von endlosen Reibereien mit Stanley beherrscht, der auch ihre Vergangenheit rücksichtslos aufdeckt. Seine permanente Diffamierung als Polacke, der er nicht sein will, sondern gebürtiger Amerikaner, aber von polnischer Abstammung, trägt auch wesentlich dazu bei, Blanche die Maske vom Gesicht zu reißen. Stanley Kowalski ist ein Scheißkerl, da gibt es nichts zu rütteln, er behandelt seine schwangere Frau wie Dreck, erniedrigt sie, pflegt ihre Hörigkeit, schlägt sie, provoziert sogar eine verfrühte Geburt ihres Kindes. Stella liebt den ehemaligen Soldaten (ob er im zweiten Weltkrieg war kommt nirgends zur Sprache) trotz aller Gemeinheiten. Für sie gehört das zu einem Mann dazu. Er säuft ununterbrochen, ist vulgär, vergewaltigt am Ende auch noch Blanche, die in ihrer Beziehungsproblematik Stanley sowohl anmacht, als auch sich angezogen und abgestoßen fühlt. Stanley verlangt als Ehemann nach dem in den US gültigen Code Napoleon die Unterlagen über die Versteigerung des Besitzes, weil er nicht glauben will, dass seine Frau Stella auch nichts mehr bekäme.

Blanche ist nicht nur erheblich depressiv, sie zeigt auch Borderliner-Symptome, Beziehung suchen - Beziehung verunmöglichen, und ist vor allem auch Alkoholikerin. Whisky fließt in Strömen. Stanleys Freunde, auch ehemalige Soldaten, von allen Illusionen befreit, dennoch wie alle Figuren in diesem Stück voller Sehnsucht nach irgendetwas, sind es auch, es kommt immer wieder zu Trink- und Verhaltensexzessen, nur der alte Freund und Mitarbeiter Mitch (Viktor Tremmel spielt den sensibleren, aber auch ausfällig werdenden Freund sehr angenehm) weniger, der in der reifen Frau Blanche eine Lady sieht, mit ihr zusammensein möchte und sie liebe- und respektvoll behandelt, bis er erfährt, was mit ihr los ist. Danach ist aller Respekt gewichen, er bespuckt sie, die Liebe ist ruiniert, und war auch niemals eine. Er liebte ein Trugbild von gemeinsamer, erfolgreicher und sittsamer Bürgerlichkeit in ihr. Wie sagte Blanche DuBois über ihren Namen: "Weißer Wald wie ein Obstgarten im Frühling, so können Sie sich das merken!"

Das Paar Steve und Eunice Hubbel (Ralf Drexler und Susanne Buchenberger schön dekadent) wohnt oben drüber und wird immer wieder ins Geschehen involviert. Mal flieht die geschlagene Stella zu ihnen, mal haben Sie selbst Krach. Sie sind ein Verstärker und Spiegelbild der Beziehung Stanley-Stella. Bei ihnen läuft es genauso ab.


Blanche und Mitch          (c) Birgit Hupfeld

Tennessee Williams ist hier klar in der Tradition von Henrik Ibsens Hauptthematik zu sehen, wo Lebenslügen ein Scheindasein, Karriere und Ehen ermöglichten, bis die Vergangenheit alles einholt. Auch Blanche hatte eine Vergangenheit. Nicht nur die als Tochter von Farmbesitzern, das Gut nannte Williams "Belle Rêve", ein schöner Traum, der mit der Versteigerung unterging, es blieb nichts davon. Nachdem sie in ihrer letzten Schule eine Affäre mit einem 17-Jährigen hatte, die sie den Job kostete, war der letzte Baustein der reichen und anständigen Südstaaten-Vergangenheit im Eimer. Besitzlos - psychisch, emotional und sexuell auch noch anders - lebte sie in einem Rotlichtcafé und ging nur noch ihrem Zwang nach, für ein bisschen Nähe sich zu prostituieren und junge Erwachsene um die 17 Jahre zu vernaschen. Und hier wird dann klar, unter welchem Wiederholungszwang sie steht. Ihren Freund um die 16/17 Jahre schockierte sie mit einer Absage beim Tanzen so sehr - "Du ekelst mich an!" -, dass dieser rauslief und irgendwann danach sich erschoss. Ihr Ehemann beging ebenfalls Selbstmord. Der 17-Jährige an der Schule in Mississippi weckte wieder die Lust in ihr, er erinnerte so wie später Mitch mit einem gewissen Mutterkomplex an diesen Freund damals, auch an ihren Mann. Ihr Verlobter wendet sich nach der Schulaffäre und dem Cafédasein von ihr ab. Ein Zeitungsjunge, der bei Stella kassieren will, taucht auf und Blanche verfällt im sofort. Er sei ein Prinz aus 1001 Nacht. Mit einem "Ich muss die Finger von Kindern lassen!" zerschlägt sie die Anziehung, der Jugendliche war eh schon vor ihr und ihrer Fahne zurückgewichen. Die Bilder werden eindringlicher, Jugendliche mit Schweinsmasken verfremdet als Boten der Vergangenheit bieten ihr Zigaretten aus einem Etui an, das Mitch mit sich trägt und die Gravur so toll findet. Ihre Form der Pädophilie, hier eigentlich keine Liebe zu vorpubertären unter 14-Jährigen, sondern Liebe zu Adoleszenten, also sog. Parthenophilie bzw. Ephebophilie, wobei die Volljährigkeit in den USA zu dieser Zeit noch wie heute in einigen Bundesstaaten (z.B. Mississippi) 21 Jahre betrug. Die Ausnutzung der Abhängigkeitslage des Schülers hätte sicher ausgereicht. Aber es gab offensichtlich keine Verurteilung.. Bei uns käme zurzeit wohl nur Straffälligkeit bei Zwang zur bezahlten Prositution oder Gefangenhalten bzw. Ausnutzung einer mangelnden sexuellen Selbstbestimmung bzw. eines Abhängigkeitsverhältnisses in Frage (StGB §180, 182). Diese Verfolgerbilder machen sie auch zunehmend krank. An dieser Stelle müssen auch die Glitches erwähnt werden, das sind kurze Störungen und Unterbrechungen im Videofilm, die einen an Tschechows reißende Saiten im "Kirschgarten" erinnern. Diese Indikatoren weisen auf Flashbacks und Brisanz hin. Die Realität entweicht, Blanches Zustand wird bereits psychotisch. Mitch zertritt ihr Geburtstagsgeschenk vor ihren Augen. Weil er zuvor rausgeworfen wurde, hatte er die Einladung ignoriert.
Blanche: "Was wollen Sie?"
Mitch: "Was ich die ganze Zeit nicht bekam. [...] Heirate mich! [...] Nein, ich glaube nicht, dass ich Sie heiraten will. Du ekelst mich an!"
Hier kommt das Abgelehntwerden von der männlichen Opferseite zurück. Blanche wird mit ihrem eigenen Verhalten vor Jahren nun als Opfer konfrontiert, nicht als Täter. Sie träumt dennoch bis zum Schluss von einem reichen Mann aus Dallas, der sie heiraten will.

Blanches fortschreitender Realitätsverlust provoziert Stanley dazu, immer weiter draufzuhalten, sie anzupöbeln, zu beschimpfen und herunterzumachen. Als sie ihn beim Abschied zum Schwimmengehen im Brautkleid küsst, kommt es zu einer Vergewaltigung. Am Ende alles völlig irrational, Realität in kopfstehender Psyche und Unmengen von Jack Daniels aufgelöst. Der Alptraum endet.


Stanley vergewaltigt Blanche          (c) Birgit Hupfeld

Blanche: "Die Glocken der Kathedrale, das ist das einzige hier, das unbefleckt ist."
"Ich will keinen Nihilismus (im Orig. Realismus), ich will Zauber!

»I don’t want realism. I want magic! Yes, yes, magic. I try
to give that to people. I do misrepresent things. I don’t tell
truths. I tell what ought to be truth.«