Letzten Freitag- und Samstagabend wurde im Theater im Pfalzbau das Tanzstück "Titanic" vom prämierten Frédéric Flamand (Choreographie) und dem Ballet National de Marseille gezeigt. Bereits 2012 aufgeführt fesselte und forderte es, denn fern jeglicher Katastrophendarstellung wie im Film schuf Flamand eine abstrakte Bühnenmetapher für die Unbarmherzigkeit des Schicksals und des Todes. Das trügerische Wiegen in Sicherheit kippt ins Unfassbare um, ein entsetzlich anzuhörendes Schrammen bringt alles zum Kippen und zieht das feudale Leben auf dem Atlantikgiganten in den Tod. Fast banal, kausal logisch, unausweichlich, und doch grauenhaft.
Es ist auch ein Hinweis der Geschichte gewesen, dass Technik und Wissenschaft, Stahl und Schiffsbaukunst nicht vor dem Überraschenden bewahren können. Die Natur hat der eingebildeten Gesellschaft des Jahres 1912 gezeigt, wie leicht der Strich des Universums durch die Rechnung des Perfektion nachbilden wollenden Menschen gezogen werden kann. Zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges war dies ein deutlicher Warnschuss des Universums, aber kaiserliche Eitelkeit, Dickköpfigkeit und Blindheit ließen einen Familienstreit innerhalb der wilhelminischen Ära entstehen und zum Grab von 10 Millionen Toten für zwei erschossene Familienmitglieder werden.
Flamand weidet sich nicht am Leiden, der Qual der Passagiere, er deutet an und gibt Hinweise, schafft eine Chronologie des Unglücks - die Zuschauer ergänzen und vollenden das Geschehen selbst. Die Details des Untergangs sind so weit im Bildungsgut der Bürger verbreitet, dass jeder die Signale des Stadiums erkennen kann. Genauso zurückhaltend und dennoch ausreichend die Requisiten und das Bühnenbild. Klar gebaut und modern, ästhetisch ohne Schnörkel besticht die Komposition auch durch die Integration von sehr großen Videosequenzen des venezianischen Künstlers Fabrizio Plessi. Die Musik klassisch modern, mit Spuren von Strawinsky, fügte sich sehr gut zum Ganzen.
Der harmlose, geschäftige Beginn im Hafen von Southhampton (Ziel sollte New York sein), das Beladen des Giganten bringt einen Hauch proletarisches Theater, Brecht und Piscator, ins Spiel, auch wenn die Tänzer sich zu leicht und grazil bei der Arbeit bewegen. Frohsinn, Leistungsbereitschaft, Stolz auf diesen Riesenpott, all das machte das Ablegen zu einem Freudenfest. Fortgesetzt im zweiten Bild mit einer grotesken Schickeriaszene, die Männer beginnen und vertreiben sich die Zeit bei Möwengeschrei, bis die Damenwelt auftritt, und zwar mit futuristischen Hüten, die Jugendstil und Ascot ins Fantasievolle steigern. Die Damen bleiben nach ihrer Umgarnung später alleine, bis die Vorboten eines drohenden Unheils auftauchen, ein starker Sturm jagt alle davon. Bereits im dritten Bild das von fast allen mit Schrecken bemerkte Kollidieren des Schiffs mit dem Eisberg. Die gesamte Länge des Schiffes wurde Steuerbord unter der Wasserlinie aufgeschnitten. Während einer Nachtpromenade (es war 23:40 Uhr in der Realität) erschrecken und stolpern die Spaziergänger, schauen nach dem Schaden, kämpfen mit Schiffsbewegungen und verschwinden bereits von Deck. Die historische Titanic sackte mit dem Bug ab, da die ersten fünf Kammern rasend schnell mit Wasser vollliefen. Den Wassereinbruch erlaubten aber mehr die offenen Bullaugen und Luken und Stellen über der Wasserlinie. Nach 2 Stunden und 40 Minuten war der Koloss von der Meeresoberfläche verschwunden. Eine Videosequenz - sie wird auf die Bühnenschiffswand projiziert - zeigt sie noch ruhig durch die Eisausläufer Grönlands das Meer kreuzend. Im nächsten Bild der Maschinenraum, der Kohleberg und das Kämpfen der Maschinisten darum, die Temperatur zu halten. Der Kampf und sein Verlieren wird durch ein Pas de deux zwischen einem Boxer und einer Frau symbolisiert. Der Boxer verliert, sie (die Natur?) treibt und tritt ihn von der Bühne. Im fünften Bild ein Tanz um Schlaf und Traum, das ganze Schiff ein lebender, schlafender und träumender Organismus kurz vor der Katastrophe. Im Folgebild das schwankende Schiff im Querschnitt mit deutlicher Kammernkonstruktion als Videoprojektion im Hintergrund.
Sehr beeindruckend und abstrahierend das Schlussbild der Tänzer mit sieben Kühlschränken im Hochformat. Als Metapher für die Situation der 1514 sterbenden Passagiere im Eismeer (von 2224 insgesamt) zeigt Flamand im Bemühen die Schränke zu erklimmen abstrahierend den Kampf der Verunglückten, auf Eisschollen oder Rettungsboote zu kommen. Im Hintergrund Eisbergbewegungen per Video. Die Schränke sind final gleichzeitig Symbole für Särge.
Langer und starker Beifall im Pfalzbau. Flamands Bühnenwerk hatte für Begeisterung gesorgt.