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Mittwoch, 22. Mai 2013

VINCENT - eine Geschichte von Reinhard Stammer, zweiter Teil


(c) Reinhard Stammer



VINCENT (Teil 2)

Vincent flog alleine, dann wieder gemeinsam mit anderen Vögeln. Mit großen und mit kleinen. Er entwickelte Fähigkeiten, die keiner seiner vielen Freunde hatte. Er flog höher und schneller. War wendiger und nutzte geschickter den Wind und die Strömungen der Luft. Für alle Zeiten hätte er so weiterfliegen können, wenn da nicht manchmal etwas wäre, dass seinen Flug ausbremste. Für einen Moment nur tauchten Bilder in seinem Kopf auf, die aus einer anderen Welt zu kommen schienen, aber doch so wirklich waren. Er sah sich auf einem kalten Boden liegen, ohne Federn am Körper, und er fror. Diese Welt war klein und beengt und ohne Freude. Das Vergessen hatte nicht alle Erinnerungen löschen können, und so setzte er sich auf einen Zweig oder einen Dachfirst oder auf einen Felsvorsprung, Plätze, an denen er diese Bilder zu verarbeiten versuchte. Er konnte sie nicht einfach beiseite drängen, denn er wusste nun, dass sie wiederkommen würden. Seine Flügel wurden in solchen Momenten sehr schwer.

Dies war der Moment, in dem sich etwas wie eine Frage in seinem Kopf ausbreitete. Etwas war anders als bei den anderen. Er war anders als die anderen. Und so fing er langsam an, sich aus seinem Universum herauszulösen. Er sprach mit seinen Freunden, die anfänglich nicht begeistert darüber waren, dass Vincent sich seiner Vergangenheit zu erinnern begann. Sie versuchten ihn auf andere Gedanken zu bringen. Aber es nützte nichts. Vincent wollte wissen, was anders an ihm war.

Er verlor das Gefühl dafür, dass alles zusammengehörte. Seine Flügel waren Teil der Lüfte, wie auch sein Flügelschlag, die Luft nicht unbewegt ließ. Er ernährte sich von dem, was die Natur ihm bot und er gab es wieder zurück. Die Sonne wärmte die Erde und die Wolken schütteten Regen aus. Bäume wuchsen, auf denen er sich unter schattenspendenden Blättern niederlassen und ausruhen konnte. Es war eine große, schöne Welt, und nichts fehlte, und nichts war zuviel. Alles war miteinander verwoben, und nun fing dieses Bild an, sich vor seinen Augen aufzulösen. Wer war er? Ein Vogel, der vor seiner Vogelzeit in einem Raum lebte, ohne Pflanzen, ohne Sonne und ohne seine Freunde? Der kein Federkleid besaß und nicht fliegen konnte? War das möglich?

Verwirrt flog er mal hierhin, mal dorthin. Es gab Gegenden, die ihn nicht sonderlich interessierten und die er niemals anflog. Aber irgendwie spürte er, dass er sich diesen Orten nähern musste. Orte, die so anders waren, als die freie wildwachsende Natur und der unbegrenzte Luftraum, in dem er sich so wohlfühlte. Dort unten war es laut und stickig.

Aber die Geräusche waren ihm nicht fremd. Er hatte sie schon vernommen. Auch fremd und von Ferne, denn auch damals hatte er sich ihnen nicht nähern können. Er sah sich gefangen in einem Zimmer, einer kleinen dunklen Welt - bevor er ein Vogel wurde. Irgendwann einmal kein Vogel gewesen zu sein, sondern eines jener Wesen, wie es sie dort unten so viele zu sehen gab, denn sie sahen so aus, wie er sich in seiner Erinnerung selbst sah, ließ ihn beinahe abstürzen. Er lief Gefahr, die Kontrolle über seine Flügel zu verlieren. Es lösten sich auch einige Federn aus seinem Gewand, was zur Folge hatte, dass er ziemlich hilflos gegen den Sog nach unten anzukämpfen versuchte. Ich kann fliegen, redete er sich ein. Ich kann doch fliegen. Was passiert mit mir?

Er stürzte auf genau jenen Fenstersims, der ihm vor langer Zeit als Basis für seinen ersten Flugversuch gedient hatte. Ein Blick durch das Fenster ließ seine Befürchtung zur Gewissheit werden. Er war hier aufgewachsen, vor langer Zeit. Er war nicht immer ein Vogel gewesen.

Diese Erkenntnis erschütterte ihn zutiefst. So sehr, dass er anfing zu zittern. Vor Angst? Vor Kälte?

Beides mag zugetroffen haben, denn als er an sich hinabschaute, war er federlos und seine Haut glich der einer gerupften Gans. So wie er vor nicht allzu langer Zeit oben im Himmel gesungen hatte, weinte er nun hier unten auf dem Fenstersims. Dann merkte er, dass das Fenster nicht verschlossen war. Er stieg in das Zimmer und seine Verwandlung zurück zum Menschenjungen Vincent war vollendet. Es schien niemanden sonst hier zu geben. Alle Türen standen auf. Die Räume waren menschenleer. Ein Fenster klapperte im Wind und alte, vergilbte Vorhänge waren das einzige, was sich hier bewegte. Nein, hier konnte er sich nicht wohlfühlen und hier wollte er nicht bleiben. Der Mond schien wieder durch sein Fenster und tauchte das Zimmer in das fahle Licht. So als wäre nichts geschehen, schaute er direkt in Vincents verstörtes Gesicht. Er lächelte ihm zu und sprach: „Schau Vincent, dies ist Deine Vergangenheit, und das bist Du. Du wirst Dich niemals ganz vergessen können. Vor diesem Fenster bist Du eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Ein Teil Deiner Seele verließ diese Welt, verwandelte sich in einen Vogel und hatte sich so einen Traum von Dir erfüllt. Ein anderer Teil stieg weiter auf, immer weiter. Vorbei an mir und vorbei an der Sonne, verließ dieses Planetensystem und suchte sich einen Platz hoch oben am Nachthimmel, um dort für alle Ewigkeit zu strahlen. Nebenbei sei erwähnt, dass ein Sternengucker einen neuen Stern am Firmament entdeckt hatte und diesem auch gleich einen Namen gab. Was denkst Du, wie er ihn genannt hatte?

"Vincent I, und ich weiß nicht, ob dies ein Zufall war.“ Der Mond lächelte...

Die Geschichte, die der Mond ihm erzählte, überforderte Vincent. Er schloss vor Entkräftung und Übermüdung die Augen. Doch ist das nichts Außergewöhnliches, denn Kinder lieben es, wenn ihnen eine Gutenachtgeschichte erzählt wird, und es war das erste Mal, dass er dies erleben durfte.

Und wieder wuchsen ihm Flügel. Sein Körper bedeckte sich mit Federn und Vincent hob ab. Er flog. Er flog immer höher. Ließ seine Freunde, die sich wieder versammelt hatten, um ihn in ihrem Kreis aufzunehmen weit unter sich, umkreiste den Mond, der ihm zuzwinkerte, nahm Kurs auf die Sonne. Hier tankte er nochmals Wärme auf, denn sein Weg führte ihn in die kältesten und dunkelsten Regionen, die dieses Universum zu bieten hat. Irgendwann traf er einige uralte Sterne. Ihr Licht schien schon schwächer zu werden. Andere wiederum erstrahlten in einer Helligkeit, die ihn fast erblinden ließen. Das mussten die jüngeren Sterne sein. Ungestüm und voller Lebenslust warfen sie leuchtende Bälle aus Licht ins All. Sie kümmerten sich nicht um ihn. Ein kleiner Vogel schien sie nicht zu beeindrucken.

Vincent wusste nicht, wohin er fliegen sollte. Er glitt dahin auf unsichtbaren Wellen, die durch das ganze Weltall liefen. Er gab sich einfach diesen Strömungen hin, bis er eines Tages an einen Ort kam, an dem es nur junge, neue Sterne und Sternchen gab. Sozusagen ein kosmischer Kinderhort. Er spürte eine Kraft, die ihn anzog wie ein riesiger Magnet und da war er: der Stern Vincent I. Was für ein Gefühl von Liebe und Glückseligkeit ging von ihm aus. Er fing an zu pulsieren und erstrahlte in allen nur erdenklichen Farben. Das Herz von unserem Vincent schlug so laut, dass einige Astronomen auf der Erde, glaubten, es als eine Art Sternenbotschaft beschreiben zu müssen. Nun waren sie wieder vereint. Nichts und niemand würde sie jemals wieder voneinander trennen können.
(c) Reinhard Stammer


Vincent umkreiste Vincent I auf einer immer gleichbleibenden Umlaufbahn. Mit einigen ganz besonders starken Fernrohren auf der Erde kann man dies beobachten. Es wurde vermerkt, dass man ein neues Sonnensystem entdeckt hätte und wieder meldeten sich einige Wissenschaftler zu Wort, die vermuteten, dass es doch noch Leben außerhalb der Erde geben könnte.

Vincent interessierte das nicht. Er war endlich richtig glücklich - unendlich glücklich.



(c) Reinhard Stammer



Dienstag, 21. Mai 2013

VINCENT - eine Geschichte von Reinhard Stammer, erster Teil


(c) Reinhard Stammer
VINCENT (Teil 1)
  

Eine Geschichte für Kinder ab 10 Jahren.
(Ich habe diese Geschichte für mein Buch "Kann ein Vogel träumen?" mit etlichen Bildern illustriert. Die Bilder werden demnächst in der GALLERIA ARTISTICA flashlight gezeigt.)

Vincent flog hoch über den Wolken. Für ihn schien es keine Schwerkraft zu geben, er umkreiste die Erde, kam der Sonne nah und überlegte, ob er die Sterne erreichen könnte.

Je höher er flog, desto kühner wurden seine Gedanken.

Vincent war noch jung und unbedarft. Die einzige Sorge, die ihn quälte, war die, vielleicht irgendwann einmal wieder zurück zur Erde kehren zu müssen. Aber diese Sorge verflog genauso schnell, wie er mit  ausgebreiteten Armen, einem Adler gleich, durch die Lüfte schoss.

Es ist nicht anzunehmen, dass  jemand auf der Erde ahnte, was dort über ihm passierte.

Vincent war einfach drei Jahre nach seiner Geburt verschwunden. Seine Eltern waren nicht einen Moment verzweifelt. Für sie trat das ein, wenn auch verspätet, worum sie auch schon vor seiner Geburt bemüht gewesen waren: ihn gar nicht erst zur Welt kommen lassen.

Die ersten zwei Jahre, in denen Vincent mit seinen Eltern leben musste, waren, wie man sich denken konnte, nicht die glücklichsten. Er bekam wenig zu essen, wurde geschlagen und er fühlte, dass er unerwünscht war. Er schrie wenig, denn er hätte sowieso niemanden damit erreichen können. Auch aß er nicht sehr viel, kaum mehr als ein kleiner Vogel. Sowenig, dass ein Blick auf seinen kleinen, dünnen Körper den Eindruck erwecken musste, Vincent würde bald wie eine Feder davonschweben. Es war natürlich niemand da, der einen Blick auf Vincent geworfen hat und wenn es jemanden gegeben hätte, wäre das Jugendamt eingeschaltet worden.

Seine Eltern interessierte es nicht, wie es ihrem Kind ging. Sie schienen sogar etwas beglückt darüber zu sein, dass Vincent sehr krank wurde und ihnen vielleicht nicht mehr lange zur Last fallen würde. Er war  wohl auch sehr krank, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite durchlebte er in dieser Krankheit einen Prozess, der ihn von Grund auf veränderte. Er wurde immer schwächer und das Stehen fiel ihm zunehmend schwerer. Er begann sich immer häufiger unterhalb des Zimmerfensters zu legen und in den Himmel zu schauen. Es sei erwähnt, dass ihn seine Eltern niemals mit nach draußen nahmen, aus Angst davor, Nachbarn könnten das Elend, in dem sie Vincent dahinvegetieren ließen, erkennen, um es alsdann bei staatlicher Stelle zu melden. Abgesehen davon, hatten sie auch gar nicht das Bedürfnis ihm mehr von der Welt zu zeigen.

Vincent fing an zu träumen. Ärzte würden vielleicht gesagt sagen haben, so sie ihn gesehen hätten: Der Junge fängt zu halluzinieren an. Aber alles im Leben kann man von zwei Seiten betrachten. Vincent natürlich nicht. Er erreichte nicht das  Alter, um so differenziert denken zu können. Er sah Bilder und fing an, die gewohnten schmerzvollen Eindrücke, die damit verbunden waren, durch Bilder, die ihm durch das Schauen nach draußen vermittelt wurden, auszutauschen.

Die Sonne, für die er keinen Begriff kannte, spendete ihm Wärme, das Blau des Himmels, wofür er natürlich ebenfalls keine Worte hatte, erfüllte ihn mit Sehnsucht. Der Mond, der sich immer wieder verändernd, sein karges Zimmer, in ein fahles, unwirkliches Licht hüllte. Die Sterne, die ihm aus weiter, weiter Ferne zuzuwinken schienen. Dann die Vögel, die er auch nur als Erscheinungen in seinem Blickfeld wahrnahm und sich einfügten in das eine große Ganze,  die dort oben so unbeschwert und leicht, manchmal wie Pfeile hin und herschossen und manchmal, ohne die Flügel zu bewegen, auf unsichtbaren Wellen dahinglitten. Einige schienen in der Luft stehen zu bleiben. Es kam vor, dass sich ein kleiner Vogel auf den Fenstersims setzte und zu ihm hereinschaute. Er neigte seinen kleinen Kopf zur Seite und fing an, auf seine Art mit Vincent zu sprechen.

So zumindest erschien es ihm, denn zu sprechen hatte er in den zweieinhalb Jahren nicht gelernt. Einzelne, ganz wenige Worte, die er hörte und zuordnen konnte, nutzte er manchmal, um ein Bedürfnis  auszudrücken, das gemeinhin unerfüllt blieb. Zum Schluss war es meist das Wort Schlafen, wie oft schrie seine Mutter ihn an: „Schlaf endlich ein“. Nun fühlte er mehr, als dass er es sagte, "Ich möchte nur noch schlafen."

Dies änderte sich, nachdem er seine Position unterhalb des Fensters eingenommen hatte. Er schlief kaum noch.

Er nahm die Welt da draußen als ein riesiges bewegtes Bild wahr. Alles gehörte zusammen und verschmolz miteinander. Es schien dort eine wunderbare, fremde Kraft zu geben, die ihm erstmalig in seinem Leben, das Gefühl von Glück und Liebe vermittelte.


(c) Reinhard Stammer
Er wurde jedoch durch seine Lebensumstände daran gehindert, ganz in dieser Welt aufzugehen. Seine Sehnsucht  von hier fort zu kommen, wuchs von Tag zu Tag. Er nahm seine kleine, von Schmerz erfüllte Welt kaum noch wahr. Eines Tages setzte er sich nackt vor das Fenster und wartete auf den kleinen freundlichen Besucher, der sich auch bald auf die andere Seite des Fensters setzte, seinen Kopf zur Seite neigte und einige fröhliche Strophen zu singen anfing. Vincent fühlte, wie sich etwas in und an ihm veränderte. Er fing zu singen an, allerdings in der Sprache des Vogels und ihm wuchsen kleine Federn.

Seine Eltern nahmen diese Veränderung nicht wahr. Wie üblich bekam er einen Teller Suppe und eine Scheibe Brot. Dann wurde er wieder alleine gelassen.

Er aß immer weniger und wurde immer dünner und leichter. Die Federn bedeckten bald seinen ganzen Körper. Zart strich er sich über sein Federkleid und sang ganz leise in der Sprache, die ihn nun jeden Tag von der anderen Seite des Fensters gelehrt wurde. Manchmal saßen dort viele kleine Vögel und sangen zunehmend intensiver und auffordernder. Komm sangen sie, komm zu uns. Du bist nun einer von uns. Fliege!

Es war eine wunderbare Melodie, mit der diese Aufforderung an ihn herangetragen wurde. Sein Herz schlug laut, als er sich vor das Fenster stellte. Es fiel ihm nicht schwer. Er fühlte sich wie von einer fremden Kraft beseelt, die ihn nun auch das Fenster öffnen ließ.

Er war ziemlich genau drei Jahre alt, als er die Arme weit spannte und sein Federkleid  zum ersten Mal in der Sonne glänzte. Er ließ seine alte Welt hinter sich. Anfangs noch etwas unbeholfen, versuchte er in der luftigen Bodenlosigkeit, das Gleichgewicht zu halten. Umringt wurde er von einer ungeheuren Anzahl seiner gefiederten Freunde, die ihm jede nur erdenkliche Hilfe angedeihen ließen. Sie zeigten ihm, wie er  die unterschiedlichen Luftströmungen erkennen und für seinen Flug nutzen konnte und wie er mit seinen Kräften haushalten musste. Eigentlich ging alles sehr schnell und es kam auch zu keinen größeren Unfällen. Nur einmal übersah er einen Mast, an dem sich Windflügel drehten und wäre fast hineingeraten. Aber er lernte sehr schnell, auch dass kleine Misserfolge notwendig waren, um aus Fehlern lernen zu können.
(c) Reinhard Stammer

Er vergaß die Zeit, als er einsam und vergessen in seinem dunklen Zimmer lebte und nur sein eigenes Herz schlagen hörte das, von den Schreien und Schlägen seiner Eltern angstvoll unterbrochen wurde. Hier oben, in dieser grenzenlosen Freiheit, schlug sein kleines Herz im Puls der Sonne, im Rauschen des Windes, im Prasseln des Regens, der manchmal dicht über  ihm aus dunklen Wolken fiel, im Krachen eines Gewitters oder im Zucken eines grellen Blitzes. Er würde niemals Worte finden, die das beschreiben würden. Alles gehörte zusammen und war eins und er gehörte dazu. Von Tag zu Tag verschmolz er mehr mit seiner neuen Umgebung, bis ihn nichts mehr umgab, sondern alles in ihm zu sein schien. Die Welt war er und er war die Welt. Er war erfüllt von Glück, man kann dieses überwältigende Gefühl auch Liebe nennen, allerdings nicht in dem uns gewohnten Sinne, sondern als ein Gefühl, das alles in sich einschloss, nichts ablehnte und nichts bevorzugte.

(...)

(c) Reinhard Stammer