VINCENT (Teil 1)
Eine Geschichte für Kinder ab 10 Jahren.
(Ich habe diese Geschichte für mein Buch "Kann ein Vogel träumen?" mit etlichen Bildern illustriert. Die Bilder werden demnächst in der
GALLERIA ARTISTICA flashlight gezeigt.)
Vincent flog hoch über den Wolken. Für ihn schien es keine Schwerkraft zu geben, er umkreiste die Erde, kam der Sonne nah und überlegte, ob er die Sterne erreichen könnte.
Je höher er flog, desto kühner wurden seine Gedanken.
Vincent war noch jung und unbedarft. Die einzige Sorge, die ihn quälte, war die, vielleicht irgendwann einmal wieder zurück zur Erde kehren zu müssen. Aber diese Sorge verflog genauso schnell, wie er mit ausgebreiteten Armen, einem Adler gleich, durch die Lüfte schoss.
Es ist nicht anzunehmen, dass jemand auf der Erde ahnte, was dort über ihm passierte.
Vincent war einfach drei Jahre nach seiner Geburt verschwunden. Seine Eltern waren nicht einen Moment verzweifelt. Für sie trat das ein, wenn auch verspätet, worum sie auch schon vor seiner Geburt bemüht gewesen waren: ihn gar nicht erst zur Welt kommen lassen.
Die ersten zwei Jahre, in denen Vincent mit seinen Eltern leben musste, waren, wie man sich denken konnte, nicht die glücklichsten. Er bekam wenig zu essen, wurde geschlagen und er fühlte, dass er unerwünscht war. Er schrie wenig, denn er hätte sowieso niemanden damit erreichen können. Auch aß er nicht sehr viel, kaum mehr als ein kleiner Vogel. Sowenig, dass ein Blick auf seinen kleinen, dünnen Körper den Eindruck erwecken musste, Vincent würde bald wie eine Feder davonschweben. Es war natürlich niemand da, der einen Blick auf Vincent geworfen hat und wenn es jemanden gegeben hätte, wäre das Jugendamt eingeschaltet worden.
Seine Eltern interessierte es nicht, wie es ihrem Kind ging. Sie schienen sogar etwas beglückt darüber zu sein, dass Vincent sehr krank wurde und ihnen vielleicht nicht mehr lange zur Last fallen würde. Er war wohl auch sehr krank, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite durchlebte er in dieser Krankheit einen Prozess, der ihn von Grund auf veränderte. Er wurde immer schwächer und das Stehen fiel ihm zunehmend schwerer. Er begann sich immer häufiger unterhalb des Zimmerfensters zu legen und in den Himmel zu schauen. Es sei erwähnt, dass ihn seine Eltern niemals mit nach draußen nahmen, aus Angst davor, Nachbarn könnten das Elend, in dem sie Vincent dahinvegetieren ließen, erkennen, um es alsdann bei staatlicher Stelle zu melden. Abgesehen davon, hatten sie auch gar nicht das Bedürfnis ihm mehr von der Welt zu zeigen.
Vincent fing an zu träumen. Ärzte würden vielleicht gesagt sagen haben, so sie ihn gesehen hätten: Der Junge fängt zu halluzinieren an. Aber alles im Leben kann man von zwei Seiten betrachten. Vincent natürlich nicht. Er erreichte nicht das Alter, um so differenziert denken zu können. Er sah Bilder und fing an, die gewohnten schmerzvollen Eindrücke, die damit verbunden waren, durch Bilder, die ihm durch das Schauen nach draußen vermittelt wurden, auszutauschen.
Die Sonne, für die er keinen Begriff kannte, spendete ihm Wärme, das Blau des Himmels, wofür er natürlich ebenfalls keine Worte hatte, erfüllte ihn mit Sehnsucht. Der Mond, der sich immer wieder verändernd, sein karges Zimmer, in ein fahles, unwirkliches Licht hüllte. Die Sterne, die ihm aus weiter, weiter Ferne zuzuwinken schienen. Dann die Vögel, die er auch nur als Erscheinungen in seinem Blickfeld wahrnahm und sich einfügten in das eine große Ganze, die dort oben so unbeschwert und leicht, manchmal wie Pfeile hin und herschossen und manchmal, ohne die Flügel zu bewegen, auf unsichtbaren Wellen dahinglitten. Einige schienen in der Luft stehen zu bleiben. Es kam vor, dass sich ein kleiner Vogel auf den Fenstersims setzte und zu ihm hereinschaute. Er neigte seinen kleinen Kopf zur Seite und fing an, auf seine Art mit Vincent zu sprechen.
So zumindest erschien es ihm, denn zu sprechen hatte er in den zweieinhalb Jahren nicht gelernt. Einzelne, ganz wenige Worte, die er hörte und zuordnen konnte, nutzte er manchmal, um ein Bedürfnis auszudrücken, das gemeinhin unerfüllt blieb. Zum Schluss war es meist das Wort Schlafen, wie oft schrie seine Mutter ihn an: „Schlaf endlich ein“. Nun fühlte er mehr, als dass er es sagte, "Ich möchte nur noch schlafen."
Dies änderte sich, nachdem er seine Position unterhalb des Fensters eingenommen hatte. Er schlief kaum noch.
Er nahm die Welt da draußen als ein riesiges bewegtes Bild wahr. Alles gehörte zusammen und verschmolz miteinander. Es schien dort eine wunderbare, fremde Kraft zu geben, die ihm erstmalig in seinem Leben, das Gefühl von Glück und Liebe vermittelte.
Er wurde jedoch durch seine Lebensumstände daran gehindert, ganz in dieser Welt aufzugehen. Seine Sehnsucht von hier fort zu kommen, wuchs von Tag zu Tag. Er nahm seine kleine, von Schmerz erfüllte Welt kaum noch wahr. Eines Tages setzte er sich nackt vor das Fenster und wartete auf den kleinen freundlichen Besucher, der sich auch bald auf die andere Seite des Fensters setzte, seinen Kopf zur Seite neigte und einige fröhliche Strophen zu singen anfing. Vincent fühlte, wie sich etwas in und an ihm veränderte. Er fing zu singen an, allerdings in der Sprache des Vogels und ihm wuchsen kleine Federn.
Seine Eltern nahmen diese Veränderung nicht wahr. Wie üblich bekam er einen Teller Suppe und eine Scheibe Brot. Dann wurde er wieder alleine gelassen.
Er aß immer weniger und wurde immer dünner und leichter. Die Federn bedeckten bald seinen ganzen Körper. Zart strich er sich über sein Federkleid und sang ganz leise in der Sprache, die ihn nun jeden Tag von der anderen Seite des Fensters gelehrt wurde. Manchmal saßen dort viele kleine Vögel und sangen zunehmend intensiver und auffordernder. Komm sangen sie, komm zu uns. Du bist nun einer von uns. Fliege!
Es war eine wunderbare Melodie, mit der diese Aufforderung an ihn herangetragen wurde. Sein Herz schlug laut, als er sich vor das Fenster stellte. Es fiel ihm nicht schwer. Er fühlte sich wie von einer fremden Kraft beseelt, die ihn nun auch das Fenster öffnen ließ.
Er war ziemlich genau drei Jahre alt, als er die Arme weit spannte und sein Federkleid zum ersten Mal in der Sonne glänzte. Er ließ seine alte Welt hinter sich. Anfangs noch etwas unbeholfen, versuchte er in der luftigen Bodenlosigkeit, das Gleichgewicht zu halten. Umringt wurde er von einer ungeheuren Anzahl seiner gefiederten Freunde, die ihm jede nur erdenkliche Hilfe angedeihen ließen. Sie zeigten ihm, wie er die unterschiedlichen Luftströmungen erkennen und für seinen Flug nutzen konnte und wie er mit seinen Kräften haushalten musste. Eigentlich ging alles sehr schnell und es kam auch zu keinen größeren Unfällen. Nur einmal übersah er einen Mast, an dem sich Windflügel drehten und wäre fast hineingeraten. Aber er lernte sehr schnell, auch dass kleine Misserfolge notwendig waren, um aus Fehlern lernen zu können.
Er vergaß die Zeit, als er einsam und vergessen in seinem dunklen Zimmer lebte und nur sein eigenes Herz schlagen hörte das, von den Schreien und Schlägen seiner Eltern angstvoll unterbrochen wurde. Hier oben, in dieser grenzenlosen Freiheit, schlug sein kleines Herz im Puls der Sonne, im Rauschen des Windes, im Prasseln des Regens, der manchmal dicht über ihm aus dunklen Wolken fiel, im Krachen eines Gewitters oder im Zucken eines grellen Blitzes. Er würde niemals Worte finden, die das beschreiben würden. Alles gehörte zusammen und war eins und er gehörte dazu. Von Tag zu Tag verschmolz er mehr mit seiner neuen Umgebung, bis ihn nichts mehr umgab, sondern alles in ihm zu sein schien. Die Welt war er und er war die Welt. Er war erfüllt von Glück, man kann dieses überwältigende Gefühl auch Liebe nennen, allerdings nicht in dem uns gewohnten Sinne, sondern als ein Gefühl, das alles in sich einschloss, nichts ablehnte und nichts bevorzugte.
(...)
(c) Reinhard Stammer