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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dichterhain, Bände 5 bis 8

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Mittwoch, 4. Dezember 2013

Dichterhain: SCHRIFTSTELLER von Thomas Reich



Schriftsteller


Die Abende

wo du in der Küche sitzt
und am Zocken bist
um dir
die Zeit zu vertreiben

während ich

neue Welten erschaffe
die Worte
in meine Schreibmaschine haue
wie ein Garnknäuel
welches ich
zu entwirren versuche
Satz um Satz

manchmal

hätte ich dich
öfter in den Arm nehmen sollen
bei dir bleiben
weil du
mein Rückgrat bist.

Dienstag, 3. Dezember 2013

Roman: BABYLONS LETZTER WÄCHTER von Thomas Reich

Ausschnitt aus "Babylons letzter Wächter"


Als ich aufwachte, fand ich mich in einem weißen Raum ohne Fenster wieder. Ich wusste nicht, wie ich hierher gekommen war, noch meinen Namen. Mein Gedächtnis war so leer wie dieser Raum. Ich schlug die Bettdecke zur Seite und versuchte, die Dimensionen meiner Heimstatt zu untersuchen. Neben dem bereits erwähnten Bett besaß ich einen Stuhl, einen Tisch, und einen Kleiderschrank. Weiß lackiert. Im Schrank hingen weiße Hosen aus derbem Baumwollstoff, sowie dazu passende Hemden. In der Schublade fand ich weiße Socken und Unterhosen.
Ich begann die Wände abzuschreiten. Ich schätzte die Weite meiner Schritte und kam auf ein ungefähres Raummaß von fünf mal fünf Metern. Ein Zollstock hätte mir das bestätigt, was ich insgeheim schon wusste: Der Raum war absolut quadratisch. Ich fand zwei Türen, von der die eine nur durch die dünne Linie, die die glatte Wand unterbrach, zu erkennen war. Sie hatte keinen Griff. Zu ihrer Rechten hing ein kleiner Kasten an der Wand, der eine milchige Platte in der Mitte trug. Als ich neugierig mit der Hand darüber fuhr, ging ein trübes Leuchten durch das Glas.
„Fingerabdruck  nicht erkannt. Zugang verweigert.“
Was aber auch hieß, dass der richtige Fingerabdruck nach draußen führte. Und dass der Kasten anderen Menschen diente. Ich war nicht alleine. Ich suchte mit den Augen die Decke ab, und fand auch Zeichen für sie. Eine Kamera, die sich mit meinen Bewegungen drehte. An ihrem Schaft blinkte ein rotes Lämpchen. Möglicherweise ein Modell mit Bewegungssensor.
Die andere Tür hatte einen normalen Griff. Als ich ihn drückte, wurde ich enttäuscht. Kein Tor zur Freiheit, sondern mein Badezimmer. Auf der Ablage über dem Waschbecken standen neutrale weiße Plastikflaschen. Keine Werbebildchen, kein Firmenaufdruck. Auf einer stand Shampoo. Auf der anderen Duschgel. Eine Plastiktube mit der Aufschrift Zahnpasta. Ich öffnete den Verschluss, quetschte einen kleinen weißen Klecks heraus und leckte vorsichtig daran. Es schmeckte nach Minze. Schien alles ganz normal zu sein.
Wer war ich? Der Blick in den Badezimmerspiegel zeigte mir einen Mann von vielleicht fünfzig Jahren mit graumeliertem langem Haar. Buschige Augenbrauen. Hakennase. Volle Lippen. Wie im Traum berührte ich meine Wange, befühlte ihre bartstoppelige Oberfläche. Der Mann im Spiegel tat es mir gleich. Ich sah einem völlig Fremden in die Augen. Von mir aus hätte ich alles sein können. Ein Banker, ein Straßenpenner, ein Politiker, ein Müllmann. Das Gesicht eine leere Fläche tausender Lebensentwürfe und Möglichkeiten. War es denn wirklich wichtig, wer ich war? Oder sollte ich nicht die Möglichkeit nutzen, der zu sein, der ich immer sein wollte? Würde ich bei dem Versuch nicht wieder zu dem werden, der ich einst war?

*

Stundenlang starrte ich auf die weiße Wand in der Hoffnung, Formen und Muster zu sehen. Teile meiner Erinnerung. Doch die Wand blieb weiß. Sie schien mich zu verspotten.
Die Tür ohne Griff öffnete sich. Ich drehte mich um, um meinen ersten Besuch zu empfangen. Zwei Krankenschwestern traten ein, ohne ein Wort an mich zu richten. Sie nickten mir kurz zu, und machten sich dann an ihre Arbeit. Die eine wechselte mein Bettlaken, die andere stellte ein Tablett mit Essen auf dem kleinen Tisch ab. Ein neutrales weißes Plastiktablett. In Folie eingeschweißtes Einweggeschirr aus Plastik. Eine Plastikflasche, die eine durchsichtige Flüssigkeit enthielt.
„Wo bin ich hier?“
Schweigen.
„Warum werde ich eingesperrt?“
Schweigen.
„Wollt ihr nicht mit mir reden?“
Sie wollten nicht. Verrichteten monoton ihre Arbeit. Wahrscheinlich fragte ich die Falschen. Sie waren nur Handlanger, die nicht mehr wussten, als man ihnen sagte. Oder Nonnen, die ein Schweigegelübde abgelegt hatten. Konnte das des Rätsels Lösung sein? Ich war in einem Kloster, wurde gesund gepflegt. Nonnen umschwirrten mich und lasen mir jeden Wunsch von den Augen ab. Bald würde ich genesen sein.
Jede Hoffnung war mir recht und billig. Weinend verzehrte ich mein Abendessen. Mein Talent zur Selbsttäuschung war nicht so ausgeprägt, wie ich gedacht hatte. Kaum hatte ich den letzten Bissen zerkaut, da überfiel mich eine bleierne Müdigkeit. Ich fiel vom Stuhl, die Welt legte eine Dreivierteldrehung hin. Mein Sichtfeld verwandelte sich in ein sinkendes Schiff. Passagiere rutschten das Achterdeck hinunter in die tosende See. Mit letzten Kräften zog ich mich an meinem Bett hoch und legte mich schlafen.

*

Ich durfte dem Essen hier drin nicht trauen. Irgendwas mischten die mir rein, was mir die Füße wegzog. Das Denken fiel schwerer. Auch nach dem Aufstehen fühlte ich mich wie schwer verkatert. Es zerrte an meinen körperlichen Kräften. Genau das wollten sie doch. Warum gerade ich? Warum war ich so wichtig? Ich erinnerte mich nicht an mich. Nachts träumte ich von der Stadt (oder träumte die Stadt mich?). Ich schloss die Augen und sah ihre kleinen Leben. Nicht einmal meine Träume waren meine eigenen. Ich hatte keine Erinnerungen und keine Träume. Alles hatten sie mir genommen. Nacht für Nacht vergewaltigten sie mich, missbrauchten meinen Schädel für ihre gemeinen Leben und Lügen. Soviel Bosheit. Ich war nicht ihr Messias. Der ihnen alle ihre Leiden abnahm. So nicht, meine Lieben, so nicht. Lasst mich in Ruhe, hört ihr mich?

*

Die Neonsonne ging auf, ein neuer Tag begann. Ich erwachte. Der künstliche Rhythmus war mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Ich erwischte mich selbst dabei, wie ich an manchen Tagen im Dunkeln aufwachte, und wenige Sekunden später das Licht anging. Mein Körper hatte sich daran gewöhnt. Genauso wie ich müde wurde, wenn das Licht erlosch. Sie simulierten mir sogar eine Abenddämmerung, wahrscheinlich mit Hilfe eines Dimmers und einer Zeitschaltuhr. Aber konnte ich denn überhaupt den Tagen trauen? Waren sie immer gleich lang? Ich besaß keine Uhr. Wenn sie mir die Nacht für den Tag vormachen würden und den Tag für die Nacht, ich würde es noch nicht einmal bemerken. Im Mittelalter glaubten die Menschen, die Welt wäre eine Scheibe, weil genau das ihrer Wahrnehmung entsprach. Ich besaß keine Beweise, dass sie mich in dieser Form manipulierten. Von Menschen, die einen einsperrten, sollte man stets das Schlechteste annehmen.
Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Meine ersten Vermutungen, ich könnte ein Niemand von der Straße sein, verwarf ich mittlerweile. Ich musste eine gewisse Rolle spielen. Wusste ich zuviel? Lachhaft. Ich wusste ja nicht mal, wer ich selbst war. Wer war ich also?!
Ein Unruhestifter. Ein Terrorist. Das fehlende Bindeglied zur Geheimformel. Ein menschlicher Code, der Schlüssel zu… denk nicht dran. Oh ja, wie schön es wäre, den Schlüssel zu haben, um aus diesem Gefängnis auszubrechen. Sei still! Schüre dein armes Gehirn nicht mit der Glut der Hoffnung. Erforsche deine Umgebung. Am Ende verraten sie sich vielleicht selbst.

*

Ein normaler Mensch legte sich nach einem Alptraum wieder schlafen, während ich nicht zur Ruhe kommen konnte. Denn diese Alpträume waren real, sie passierten auf Babylons Straßen, jeden Tag. Und wenn für mich der Alptraum beendet war, ging er für sie erst los. Ich wusste, dass ich nur die Spitze des Eisbergs zu Gesicht bekam. Dass Lügen, Intrigen und Niedertracht keinen Schlaf kannten.
Meine Haut juckte und spannte. Ihre Geschichten zerrten an mir. Die Grenzen zwischen Traum und Realität, die für mich ohnehin dünner waren, platzten auf wie faules Fleisch. Ich bekam nässende Wunden. Die Schwestern rieben sie regelmäßig mit einer antiseptischen Salbe ein, doch es wollte sich kein dauerhafter Behandlungserfolg einstellen.

*

Die verfluchten weißen Wände. Der verfluchte weiße Boden. Die verfluchten weißen Laken. Damit wollten sie mich kaputtmachen. Ohne äußere Reizeinflüsse traten irgendwann Weisheit und Visionen auf. Oder man wurde vom Wahnsinn innerlich zerfressen. Sie wussten das. Sonst hätten sie mich nicht hier eingesperrt. Was also planten sie? Wenn sie sich irgendwelche Erkenntnisse von mir erhofften, dann sah es gut aus für meine Überlebenschancen. Wenn nicht, dann war ich einer ganz perfiden Form der Folter ausgesetzt. Sie wollten, dass ich den Verstand verlor. Die Vorstellung, dass sie sich an Bildschirmen labten wie Forscher an einer dummen Maus, die den Weg aus dem Labyrinth nicht heraus fand und kläglich verreckte. Bei derzeitigem Stand konnte ich nicht wissen, ob mein Leid ein öffentliches war oder nicht. Vielleicht lief ich als dreiundzwanzigste Staffel von Big brother im Kabelfernsehen? Oder wurde im Internet live übertragen?
Es gab nichts zu tun. Ich machte täglich Liegestütze, damit ich nicht an Kraft verlor. Wer rastet, der rostet. Sonst würde ich mich in diesem dämlichen Bett noch wund liegen. Ich war ja kein Kranker. Ich wurde zu einem gemacht. Oder völlig verblöden. Sich von der Langeweile unterkriegen lassen. Sinnentleert, schlimmer als in jedem westlichen Gefängnis. Kein Hofgang, keine Post von Angehörigen. Manchmal erfand ich Zahlenspiele. Ging in meinem Kopf logische Reihen durch. Wenn es gar nicht mehr ging, sah ich auf meine Hände. Ihre rosa Beschaffenheit. Eine Farbe in dieser leeren Zelle. Zählte die Haare auf ihrem Rücken. Einmal hatte ich in die Ecke gepisst, um diesen verdammten Boden zu verdrecken. Das war ein Fest! Gelb, eine neue Farbe!
Auch das führte zu nichts. Es stank eine Stunde lang. Oder länger. Ich hatte mein Zeitgefühl verloren. Dann wurde es kommentarlos von den Schwestern aufgewischt. Keine Uhr, um die Stunden zu messen, die nicht vergehen wollten. Aber am Ende gab es nichts, womit ich mich wirklich dauerhaft ablenken konnte. Denn ich versuchte nur, vor mir selbst zu fliehen und nicht aus diesem Gefängnis. Ich musste fokussieren. Die Träume waren ein Puzzle, das es zu lösen galt. Wahrscheinlich war jeder Mensch ein Sender. Aber nur einige wenige waren Empfänger. Ich konnte mich glücklich schätzen, über eine so leistungsstarke Antenne zu verfügen. Ich würde mich zurücklehnen und den Träumen lauschen, um meine Erinnerungen darin zu suchen.

(c) Thomas Reich

Freitag, 11. Oktober 2013

Fantasien zur Nacht: DER GROSSE BÖSE WOLF von Thomas Reich


Der große böse Wolf

Baby
erspar mir die ganze Scheiße
von wegen Blickkontakt und so
alberne Gesellschaftsspiele
die du
bei den Primaten gelernt hast.

Nie werde ich dich
bei der Hand nehmen
ein kosmisches Band schmieden
oder sonst so ein
verkopfter Müll
den sie wöchentlich
in den Besser-Leben-Postillen verzapfen.

Lass uns darüber reden
was dich zu mir geführt hat
das schmutzige Wort
welches mit "F" anfängt
dein oberster Knopf
ist doch nicht
umsonst aufgesprungen.

Wenn du willst
spiele ich dir
den großen bösen Wolf
und du bläst solange
bis es mich
aus meiner Hütte haut. 


(c) Thomas Reich


Donnerstag, 26. September 2013

Dichterhain: VERBLENDET. Prosa von Thomas Reich


VERBLENDET


Er fragte mich, wer ich sein wolle, wenn ich nicht ich selbst sein müsste. Ich erschauderte an den Möglichkeiten, die von Verrat bis heimtückischem Mord reichten. Ich erkannte die Matrizen der westlichen Welt, lernte meinen Ellenbogen das Denken beizubringen.

Manchmal sitze ich da, wische vertrocknete Fliegen von einem staubigen Fenstersims, und frage mich, wie es soweit kommen konnte. Im Mülleimer liegt der Putzplan der letzten Woche. Reliquien einer Zeit, als wir noch alle Entscheidungen in der großen Runde beschlossen. Das war, bevor er kam. Nun sitzt jeder auf seinem Zimmer und schweigt. Nachts höre ich das Schaben von Kugelschreiber auf Papier. Sie tun es heimlich, so wie ich. Und doch öffnet keiner seine Tür, um mit den nackten Füßen in den Flur zu treten. Das geheime Leben der Nacht. Klickende Feuerzeuge, gurgelnde Heizkörper, unterdrückte Schluchzer. So mag es in den Gefangenenlagern dieser Welt klingen, wenn die Wächter schlafen gehen. Blechtassen, die gegen Gitterstäbe aus schwerem Stahl schlagen. Eine eingängige Melodie, fast ein Lied. Ganz Deutschland singt die Internationale.

Wachzuliegen, im Strudel all dieser verzweifelten Geräusche. Wie kann ich ihre Hilferufe ignorieren? Ohne mich selbst schuldig machen? Ich frage mich, wie frei einer ohne Gewissen wäre. Unglaublicher Schub, nun spüre ich es auch. Er hat recht.

Nun der Spiegel. Ich wische mir die Zweifel aus dem Gesicht, wie ich mir die Brauen gerade ziehe. Meine Sorgen waren unbegründet. Mein blütenweißer Kragen ist gestärkt von den Wehklagen der Nacht. Wie konnte ich nur an ihm zweifeln? Oder den Lehren, die er mir zwischen Butterbrot und Schwarztee schmackhaft machte? Draußen zwitschern die Vögel. Der Flur hat alle Klagen vergessen. Man könnte eine Stecknadel fallen lassen, niemand würde sie hören. Meine Mitbewohner schweigen.

Er hat mir versprochen, die Wohnung heute zu verlassen. Noch zweifle ich, doch er versicherte mir, das Tageslicht sei gnädiger als die Nacht. Ich vertraue ihm, weil ich sonst niemandem mehr vertrauen kann. Auch daran ist er schuld, doch seine Worte zerstreuen jeden Zweifel.

Samstag, 24. August 2013

Fantasien zur Nacht: DER GROSSE BÖSE WOLF vom Dirty Dichter Thomas Reich

Anna Maryniak, Collector 70x100cm

Der große böse Wolf

Baby
erspar mir die ganze Scheiße
von wegen Blickkontakt und so
alberne Gesellschaftsspiele
die du
bei den Primaten gelernt hast.

Nie werde ich dich
bei der Hand nehmen
ein kosmisches Band schmieden
oder sonst so ein
verkopfter Müll
den sie wöchentlich
in den Besser-Leben-Postillen verzapfen.

Lass uns darüber reden
was dich zu mir geführt hat
das schmutzige Wort
welches mit "F" anfängt
dein oberster Knopf
ist doch nicht
umsonst aufgesprungen.

Wenn du willst
spiele ich dir
den großen bösen Wolf
und du bläst solange
bis es mich
aus meiner Hütte haut. 

(c) Thomas Reich

Dienstag, 20. August 2013

Dichterhain: SCHAUSPIELER. Prosa von Thomas Reich

SCHAUSPIELER

Ich habe Angst, meine Augen zu schließen. Kurzer Moment des Schlafs, wenn die Welt sich auf ihrer imaginären Achse dreht. Ich falle tief in ein Fuchsloch, kaum eine Wurzel, die mir Halt bietet. Weil ich nicht weiss wer ich bin, wenn ich sie wieder aufschlage.

Unsicher stolpernd wie ein Neugeborenes taste ich mich durch eine Welt, die mir fremder scheint als ein verlassener Tempel, von Schlingpflanzen umrankt. Meine Füße sind nackt, sie bluten unter den Kieselsteinen als wär's ein Wetteifern darum. Ein kreuzritterisches Geifern, wer die Bundeslade aus ihren Angeln heben möchte. Der Heilige Gral ist ein Becher, welcher mit Gottes Blut gefüllt ist. Ich setze an, sabbernd in Rinnsalen den Hals hinab. Lagerfeuerglut macht sich in meinem Magen breit. Die Sonne sengt mir die Flügel, und wie ein Stein stürze ich vom Firmamant. Verstoßen, weil ich die Sonne gesucht habe. Meinte, dem Himmel die Freiheit entlocken zu können.

Die Bühne ist so leer wie die Zuschauerränge. Ein einzelner Spot bringt mir die Welt näher, die ich zu fliehen ersuchte. Wenn niemand da ist, an wem sollte ich mich spiegeln, wer sollte ich sein auf der fahlen Sichel des Mondes? Ein kleiner Schritt für mich, doch ein riesengroßer für die Menschheit. Mich selbst zu überwinden. Um in der Rolle aufzugehen.

Wenn sie Anweisungen geben, aus dem Off heraus der Erzählerstimme, diese Saubande! Eine Wirklichkeit zu pressen in schmale Verse, die doch ihre Hintergründe nicht auszuleuchten vermochte. Gleich gelehrigen Affen, die nach tausend Jahren unermüdlichen Hämmerns in eine Schreibmaschine Shakespeares Worte in ihren Händen glaubten.

Zitternde Lider, lichtscheu. Wenn ich meine Augen öffne, werde ich ein anderer Mensch sein.

(c)  Thomas Reich

Freitag, 9. August 2013

LEUCHTTURMWÄCHTER - von Thomas Reich


Leuchtturmwächter


Zitternde Kerzenflamme, unguter Tremor. Die Nacht hat mich in meiner schwächsten Stunde erwischt. Unten lärmen die Straßenbahnen, wie die weit aufgerissenen Münder von Riesen spucken sie ihre Ladung auf das Backsteinbett haltloser Steine. Staub von den Hüften abklopfend, erheben sie sich. Zerissene Mäntel, flatternd im Atem des Molochs, der keine Pause kennt. Zusammengekauert sitze ich unter der der Etagenklingel. Was, wenn sie-

nein, sie schaffen es nicht in des Leuchtturmwächters Warte.

In den Rolladenkästen rumoren Fledermäuse, als wollten sie sich ein Mahl schmecken lassen. Ich füttere sie mit eingetrockneten Fritten, die unter der Glasur der letzten Reste-

ein Abendmahl, welches nur den geeigneten Verräter sucht. Ich schlafe besser, wenn ich ihre spitzen Zähne besänftigt wisse.

Fahrig furchig fickrig; die letzten Dreckreste aus den Fingernägeln krumend wie ein Vogel, der seine Brut ernähren will. Reste eines Lebens, welches nur als eine Abwehrbewegung zu verstehen ist. Lagen abgeschürfter Haut, die ich auf ihrem Bauch hinterlassen habe. Wie eine Mullbinde, Lage um Lage. Wickelt sich meine Seele ab, und ich bin hilflos. Je näher das Gaze dem Körper kommt, desto blutiger ist der Baumwollstoff. Tapas in einer verlassenen Hafenbar. Gott verspeist dich ohne Besteck.

Sie dachten, sie hätten dich alleine zurückgelassen. Zum Sterben in einem toten Wal verurteilt. Doch je leiser es wird, desto lauter schwillt der Kanon. Ich gleite dahin, doch die Schatten haben ihren Schrecken verloren. Nenn mir die Dunkelheit, die durch diese Rippen atmet! Ich habe mein Antlitz vor ihm gekehrt, wir haben uns nichts mehr zu sagen.

(c) Thomas Reich

Sonntag, 30. Juni 2013

Dichterhain: NEW HAMLET von Thomas Reich

New Hamlet


Ich hatte wieder jenen seltsamen Traum. Ich hatte geträumt, dass Blumen wachsen aus den Stiefeln zerfetzter Soldaten. Ich erhob mich aus dem Sessel, ächzend und knackend wie eine alte Frau. Ich erwachte in der U-Bahn. Dutzendweise hingen Menschen erhängt in den Halteschlaufen, sie baumelten in jeder Kurve sie schaukelten wie ein Kinderkarussell bei jeder Erschütterung. Körper werden zur Verfügung gestellt, die Fließbandproduktion kann endlich beginnen, der Tod ist eine haushaltsübliche Menge. Tod für Mami, Tod für Papi, Tod für den Bruder, Tod für die Schwester, Tod für den Nachbarn. Bestattungsunternehmer ziehen die Soutane des Briefträgers an. Versandhauspakete und Eilzustellungen erreichen uns. Grabunterhändler tragen Grundstücksmakler auf ihren Schultern aus der Stadt. Fernseher übertragen die Verwesung: jeder Programmplatz ein Sarg, jede Nachrichtensendung jede Talkshow jede Gameshow eine Hinrichtung. Die Würmer kriechen über unser Abendmahl (Fastfood, also auch schon tot, bevor es geboren wurde, dann gegessen). Wir haben die Todesstrafe längst akzeptiert/ und diskutieren immer noch über sie, als ob sie nicht längst Realität wäre. Ein Schlachthaus: Geruch toten Fleisches so verdichtet in der Luft wie Nebelschwaden, ich griff mir an die Kehle, glaubte selbst dort Male vorzufinden, hatte meine Schwierigkeiten zu atmen. Ich glaubte, das Siegel der Ursünde wieder zu spüren. Wir sind wieder im Garten Eden, unsere Gier nach Wissen lässt Ikarus erblassen/ seine Flügel schmelzen in der Sonne. Wieder der Gedanke: Man müsste eigentlich die Schlange zwingen, den Apfel zu essen. Absolution für alle, eine Möglichkeit, den Wahnsinn zu beenden, den wir begonnen haben. Der Apfel stößt uns allen bitter auf, weil wir ihn nicht verdaut haben. Wir fressen einen Apfel nach dem anderen ohne zu kauen ohne zu schlucken. Wir werden eines Tages daran ersticken. Die Atemnot, ein erstes Zeichen dieses qualvollen Geschehens, betrifft uns alle. Sie entzieht den Babys in der Wiege die Lebenssubstanz, bevor sie überhaupt dazu in der Lage sind, sich zu wehren. Sie landen in einer Welt, die sie nicht geschaffen haben. Eine Wahl?
Ich habe Angst vor diesen Menschen ich habe Angst vor diesen Leibern. Sie machen mich lebendig begraben. Ich schreie auf unter den toten Leibern, die mich erdrücken. Prinz Hamlet erwächst aus Buchstaben und Wörtern, sein Umhang ist eine Redewendung. Seine Haut ist aus Glas. Durchsichtig, man kann seine Gedanken arbeiten sehen. Maden kriechen träge über den Schädel seines Vaters, den er in der Hand hält. Er hat sich selbst gezeugt, dieser Schädel ist sein Schädel seine alte Illusion. Ein Relikt für seine Blindheit. In Wirklichkeit war er immer vital gewesen, noch strotzend vor Kraft selbst in seinen bittersten Niederlagen. Sein Zynismus sein zitternd schiefes Lächeln waren Gesten der Kraft, wie sie sich nur die Mächtigsten erlauben können. Hamlet verfärbt sich Purpur, eine Krone sprießt aus seinen Haaren. Er schreitet die Grenzen seines Reiches ab. Sein Kopf steht kurz vorm Platzen, ein Dauerzustand. Er lebt für seine Grenzen. Ja, für seine Grenzen. Das ist der Lauf der Welt, das ist es, worum sich alles dreht. Schon allein das hätte ihm zeigen müssen, wie stark er ist. Er ist ein Extremist, royal member of the RAF. Einer der
stets aufs Neue seine Grenzen ausloten muss. Der nicht scheut, der nicht zurückweicht, dem das Risiko egal ist, für den nur die Erfahrung zählt. Eine Werterelation gibt es für ihn nicht. Kühn sagt er: Mir ist alles egal. Wenn er leidet, leidet er ehrlich, suhlt sich in seinen Tränen badet in seinem Angstschweiß. Seine Schwächen/ Macken/ Neurosen erhebt er in den Adelsstand.

Dadurch dass er sich sein Handeln bewusst macht, fängt er an zu handeln. Das Gefühl, vom Leben gelebt zu werden statt umgekehrt, schwindet. Eine Wüste explodiert in grellem grünen Leben. Höhenflug, Ekstase.

(c) Thomas Reich

Samstag, 22. Juni 2013

ALS NARZISS IN DEN SPIEGEL FIEL von Thomas Reich

Der Spiegel des Narziss, Franticek Klossner, 2013

Eines Abends begab sich Narziß unter die Menschen. Er war es leid, sein eigenes Spiegelbild zu betrachten. Manchmal erschienen ihm die eigenen Konturen so fremd, dass Angst in ihm aufstieg. Tot und leer, eine sterile Hülle oder gar Hölle, die ihn langsam einspann wie einen Kokon, der die tote Frucht gleich einer Missgeburt ausspeien wollte. Er hatte sein Spiegelbild verloren, seine Achtung zu sich selbst, überhaupt den Bezug zum Leben.

Narziß machte sich auf die Suche nach einem neuen Spiegelbild, nicht seines, sondern ein anderes, aber mit gleichen Zügen.

Durch den Traumtaumel eines Hades fiel er ins Getümmel der Insekten, ganze Stürme kleiner intelligenter Gesichter, Ärzte/Exorzisten seiner Seele, die ihm das Blut aus seinem Fleisch treiben wollten, nur durch ihre Anwesenheit/ ihre Aufdringlichkeit/ die fehlende Fluchtmöglichkeit vor ihnen. Und wieder Leere, endlose Reflektion in seinem Quecksilber, dass, so schien es, seine Substanz war. Edel, kühl und silbern. Kalt kalt kalt. Er war der wahre Prinz der Nacht, Opfer des Fluchs der Kassandra, herabgestiegen von seinem Bergsee klarsten Wassers, der ihm Trost zu spenden pflegte.


Gerade als sein Abstieg zu einem Fall zu werden drohte, erspähte er ein Gesicht in der Menge, dass ihm bekannt vorkam. Er wusste nicht, wo er es gesehen hatte, vielleicht in seine Träumen, die ihm morgens immer so vage erschienen. Seltsam vertraut erschien es ihm, auch wenn er im Moment nicht wusste, warum, wo er es einordnen sollte. Woran lag es? Was war der Grund, warum er seine Augen nicht abwenden konnte?


Der Zug der Lippen, voll und fest. Die Art, beim Nachdenken mit den Vorderzähne die Unterlippe vorbeizuziehen. Die braunen Augen, deren Blick so tief war.


Wir finden uns wieder in den Gesichtern der Masse, ein Jedermann im Angesicht des Todes, eines davon ist das unsere. Wir lieben uns selbst in der Projektion. Blicke sind Augen=projektile Patronenhülsen, Gewehrschoten, aufschürfend das Innere versenkend seinen Blick hinein, gierig besessen Geheimnisse reißend, Wolf unter den Menschen/auch unter den Nichtmenschen.


Wir zerfleischen uns selbst auf der Suche nach uns, wir weiden uns aus. Hier und da blutige Markknochen über den Asphalt verteilt, einzelne Haarsträhnen in Grubenschächten, Milliardenheere der Versehrten; Legion, denn ihrer sind viele.


In dieser Situation, in diesem Gesicht zeigt sich das Schicksal grobkörnig und offen wie Sand in einem Stundenglas.


Wann beginnt man, sich in anderen zu suchen? Wenn man sich selbst verloren hat. Wanderung, Gralssuche, trübe Spiegel/blinde schwarze Löcher, wo Herzlichkeit gestern noch hauste. Tote Häuser Fassaden abgefackelte Felder Ruinen.


In einem Haus brennt noch Licht. Es könnte Narziß neue Heimat werden.


Narziß war wieder hilflos, doch er war es gerne. Er fiel in den Spiegel und ertrank.


(c) Thomas Reich

Samstag, 1. Juni 2013

Fantasien zur Nacht: WOLFSJUNGE von Thomas Reich

Wolfsjunge

Misstrauisch
die Schnauze in den Himmel gereckt
Gestank nach Müll
Gestank nach Scheiße
Gestank nach Dreck
Gestank nach Lügen
Gestank nach Schmerz
Gestank nach Elend.

Dann wieder Verzückung
dass der aufrechte Gang
uns daran hindert
Hintern zu beschnuppern

wie gerne ich meine Schnauze
in deinen Rosenteich
tunken würde.

Geboren im falschen Tier
all die Stellen meinen Körpers
aus denen
büschelweise Haare sprießen
das tiefe Grollen
in meiner Kehle
geleitet von Instinkten
pfeifend auf die Logik
sie machte mich noch nie glücklich. 

(c) Thomas Reich

Mittwoch, 29. Mai 2013

Fantasien zur Nacht: GEFALLENE ENGEL von Thomas Reich


Gefallene Engel

Und in dem Moment
wo ich komme

entzünden sich
tausend Glasfaserkabel
tausend Gesichter verglühen
wie die Glut der Zigarette
die ich rauchen werde
ein Puzzle
was ich niemals lösen werde
all die Gesichter
die ich erblickt habe
in ihren schwächsten Momenten

Sterbende
auf einem Schlachtfeld

ich fülle die Laken
mit ihren Namen
um der gefallenen Engel
zu gedenken. 

(c) Thomas Reich

Freitag, 15. März 2013

Fantasien zur Nacht: TEPPICHKLOPFEN von Thomas Reich



Teppichklopfen

Es gibt diese Streits
die so viele Grundmauern einreißen
dass man eigentlich
genausogut
Schluss machen könnte
schmerzhafter
könnte es auch nicht sein
wenn das gute Porzellan
zerschlagen wird
und man Angst hat vor dem Tag
wo man den Schrank öffnet
und da ist nichts mehr
was man noch
zerschlagen könnte




Samstag, 9. März 2013

Fantasien zur Nacht: IN DEINEN ARMEN von Thomas Reich

Antonio Canova 1796
















In deinen Armen

Wer als Erstes aufsteht
versucht es zittrig.

Keine Chance.
Ich will dich
nicht loslassen
nicht rausmüssen
über den unwirtlichen Teppichboden
ich könnte
ewig so liegenbleiben
Geborgenheit in deinen Armen.

Wozu
nach draußen gehen
um die Sterne zu zählen
wenn der Himmel
hier beginnt? 

(c) Thomas Reich

Dienstag, 5. März 2013

Die beliebtesten Gedichte der Woche 8 / 2013

Das beliebteste Gedicht war Ankes Fundstück im Klassikerfundus, danach gebürt der Rang 1 bei den lebenden Jetztzeit-Dichtern Hermann Mensing und seiner dargestellten Wertlosigkeit der Dichter im krassen Geldgierbetrieb der Gesellschaft heute, Platz 2 Thomas Reich für sein extremes Beispiel von postmoderner Ich-Auflösung im Schattenreich der Sinne und Platz 3 Ute AnneMarie Schuster für ihre Fantasie zur Nacht.


0     Ankes Fundstücke: Franz Grillparzer  
1    Dichterhain: normal null 90 von Hermann Mensing oder Dichter meets
         
Fleischtüte  
   Dichterhain: SHIFTING von Thomas Reich  
3    Fantasien zur Nacht: LEIBCHEN UND MIEDER von Ute AnneMarie Schuster

Freitag, 22. Februar 2013

Dichterhain: SHIFTING von Thomas Reich


Shifting

V:i:b:r:i:e:r:e:n im Gehäuse
einer Maschine
ich bin nicht mehr
als ![ ]
Sprüh{:nebel aus Öl
schwer & stinkend
es sind die Tränen einer Maschine
Rauch tritt aus
die (Ringe (des (Olymps
unter den Augen
den Hades im=Herzen

//Shifting//

gleite davon
auf einer schiefen Ebene
mit mir die Sterne
die in den Abgrund purzeln

//Shifting//

auf einer Landstraße
der Körper ein Kram!pf
eine Leinwand
das ist der Film
der auf=[mir läuft
Konterbier & Schreie

//Shifting//

allein
aber niemals einsam
sie wispern wie Ratten
kriechen über meinen toten=Schädel
warten
auf einen Moment der Schwäche
flüstern wie Verräter
soll ja nichts mitbekommen
vom Sturz des Königs
die Zofen und Kammerdiener
planen die Welt
nach mir

//Shifting//
//Shifting//
//Shifting//

sieh meine Hände
sie haben aufgehört zu z[i[t[t[e[r[n
wem gehören diese=Hände?

(c) Thomas Reich (aus: Gummizellenblues)