Der Spiegel des Narziss, Franticek Klossner, 2013 |
Eines Abends begab sich Narziß unter die Menschen. Er war es leid, sein eigenes Spiegelbild zu betrachten. Manchmal erschienen ihm die eigenen Konturen so fremd, dass Angst in ihm aufstieg. Tot und leer, eine sterile Hülle oder gar Hölle, die ihn langsam einspann wie einen Kokon, der die tote Frucht gleich einer Missgeburt ausspeien wollte. Er hatte sein Spiegelbild verloren, seine Achtung zu sich selbst, überhaupt den Bezug zum Leben.
Narziß machte sich auf die Suche nach einem neuen Spiegelbild, nicht seines, sondern ein anderes, aber mit gleichen Zügen.
Durch den Traumtaumel eines Hades fiel er ins Getümmel der Insekten, ganze Stürme kleiner intelligenter Gesichter, Ärzte/Exorzisten seiner Seele, die ihm das Blut aus seinem Fleisch treiben wollten, nur durch ihre Anwesenheit/ ihre Aufdringlichkeit/ die fehlende Fluchtmöglichkeit vor ihnen. Und wieder Leere, endlose Reflektion in seinem Quecksilber, dass, so schien es, seine Substanz war. Edel, kühl und silbern. Kalt kalt kalt. Er war der wahre Prinz der Nacht, Opfer des Fluchs der Kassandra, herabgestiegen von seinem Bergsee klarsten Wassers, der ihm Trost zu spenden pflegte.
Gerade als sein Abstieg zu einem Fall zu werden drohte, erspähte er ein Gesicht in der Menge, dass ihm bekannt vorkam. Er wusste nicht, wo er es gesehen hatte, vielleicht in seine Träumen, die ihm morgens immer so vage erschienen. Seltsam vertraut erschien es ihm, auch wenn er im Moment nicht wusste, warum, wo er es einordnen sollte. Woran lag es? Was war der Grund, warum er seine Augen nicht abwenden konnte?
Der Zug der Lippen, voll und fest. Die Art, beim Nachdenken mit den Vorderzähne die Unterlippe vorbeizuziehen. Die braunen Augen, deren Blick so tief war.
Wir finden uns wieder in den Gesichtern der Masse, ein Jedermann im Angesicht des Todes, eines davon ist das unsere. Wir lieben uns selbst in der Projektion. Blicke sind Augen=projektile Patronenhülsen, Gewehrschoten, aufschürfend das Innere versenkend seinen Blick hinein, gierig besessen Geheimnisse reißend, Wolf unter den Menschen/auch unter den Nichtmenschen.
Wir zerfleischen uns selbst auf der Suche nach uns, wir weiden uns aus. Hier und da blutige Markknochen über den Asphalt verteilt, einzelne Haarsträhnen in Grubenschächten, Milliardenheere der Versehrten; Legion, denn ihrer sind viele.
In dieser Situation, in diesem Gesicht zeigt sich das Schicksal grobkörnig und offen wie Sand in einem Stundenglas.
Wann beginnt man, sich in anderen zu suchen? Wenn man sich selbst verloren hat. Wanderung, Gralssuche, trübe Spiegel/blinde schwarze Löcher, wo Herzlichkeit gestern noch hauste. Tote Häuser Fassaden abgefackelte Felder Ruinen.
In einem Haus brennt noch Licht. Es könnte Narziß neue Heimat werden.
Narziß war wieder hilflos, doch er war es gerne. Er fiel in den Spiegel und ertrank.
(c) Thomas Reich
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