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Mittwoch, 8. Januar 2014

Prosa: TEUFELSKINDER (16) - Vom Mahle der Lästerer (3) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly

Vom Mahle der Lästerer


3

Akt um 1860
»Eigentlich war es gar keine Ironie«, fuhr Mesnilgrand fort, »daß wir die Rosalba Pudika nannten, denn dieser Name stand ihr auf der Stirn. Die Schöpfung hatte ihn mit Rosenschrift darauf geschrieben. Sie machte nicht nur in Anbetracht dessen, was die doch war, einen zum Verwundern keuschen Eindruck. Es schien, als hätte sich die Natur in ihr den Scherz gewagt, Wollust und Keuschheit zu mischen und mit dieser himmlischen oder teuflischen Mischung die höchste Sinnenfreude, die ein Weib einem Mann zu gewähren vermag, in die Welt zu setzen. Es war keine Heuchelei dabei. Die Rosalba war keusch wie sie wollüstig war, und das Allermerkwürdigste: sie war beides zugleich. Sie konnte die gewagtesten Dinge sagen oder tun, es war etwas entzückend Verschämtes in ihrem Wesen, etwas in hohem Grade Rätselhaftes. Das ist mir unvergeßbar. Sie ging aus dem tollsten Bacchanal hervor wie Eva vor dem ersten Sündenfall. Dieses nach grenzenloser Hingabe kaum mehr lebende, zu Tod erschöpfte Weib war dann wieder die unberührbare Jungfrau, voll von neuem Zauber holdester Verwirrung und rosiger Schamhaftigkeit. Dieser Wandel machte einen rasend vernarrt in sie. Die Sprache hat nicht die Mittel, dies in die rechten Worte zu fassen.«

Der Erzähler machte eine nachdenkliche Pause. Keiner der ganzen Tafelrunde brach das Schweigen.

»Ihr könnt euch denken«, fuhr Mesnilgrand fort, »daß diese Seltsamkeit erst nach und nach bekannt wurde. Zunächst sah man an ihr nichts als ein hübsches junges Mädchen. Hätte der Major, als er zum Regiment kam, sie uns als seine rechtmäßige Frau oder als seine Tochter vorgestellt, so hätten wir es ihm ruhig geglaubt. >Ein verteufelt schönes Weib!‹ flüsterten die Weiberkenner. ›Aber eine Zierpuppe !‹ Damals lagen wir an der Grenze zwischen Spanien und Portugal. Wir waren hinter den Engländern her und rasteten in Orten, die unserem König Joseph nicht ganz feindselig waren. Der Major und die Rosalba lebten wie in einer heimatlichen Garnison.

Gewiß erinnert ihr euch, mit welcher Erbitterung der Krieg in Spanien geführt wurde, dieser langwierige Krieg, dem kein anderer glich. Aber zwischen den heißen Kämpfen und blutigen Schlachten gab es doch Zeiten, wo wir uns mitten in dem halberoberten Lande damit belustigten, den nicht ganz ›Afrancesadas‹ unserer Standorte Feste zu geben. In jenen Tagen war es, wo die Rosalba, die längst die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, allgemein berühmt wurde. Sie leuchtete unter den dunkelhäutigen Schönheiten des Landes wie ein Diamant in einem Diadem von Similisteinen, wie eine echte Perle an einer Perlmutterkette. Und es dauerte nicht lange, so waren alle Offiziere in sie verschossen, vom jüngsten Leutnant bis zum Divisionsgeneral. Sie war mit einem Male zum Mittelpunkt eines Kreises zügelloser Männer geworden. Wie ein Sultan warf sie ihr Taschentuch dem zu, der ihr gefiel – und es gefielen ihr viele. Der Major tat, als sähe er nichts von alledem. War er zu selbstgefällig, um eifersüchtig zu sein, oder schmeichelte es ihm, seine Kameraden, die ihn, wie er wohl wußte, verachteten oder haßten, unter dem Bann dieses Weibes zu sehen, deren Herr und Gebieter er war? Manchmal sprühte dunkles Feuer in seinen smaragdgrünen Augen, wenn sie sich auf einen unter uns richteten, von dem man gerade munkelte, er sei der Auserkorene seiner Gefährtin. Und da man immer das Niederträchtigste annahm, so legte man seine Gleichgültigkeit oder Blindheit in der für ihn übelsten Weise aus. Man meinte, sie sei weniger das Aushängeschild seiner Eitelkeit als vielmehr ein Köder, den sein Ehrgeiz auswarf. Dies und ähnliches ward gesagt, wie derlei eben gesagt wird. Er wußte davon nichts. Mir, der ich Anlaß hatte, ihn zu beobachten, war die unerschütterliche Haltung dieses Mannes, der Tag für Tag von seiner Geliebten betrogen wurde, ein Rätsel.

Bei der Zügellosigkeit, die sie in die Arme so vieler in Liebesdingen nichts weniger als heiklen Offiziere trieb, war Rosalba sehr bald im ärgsten Ruf, aber vor der Welt vergab sie sich nichts. Man gestatte mir diesen spitzfindigen Unterschied.

Wenn sie einen Geliebten hatte, war dies für sie ein Geheimnis ihres Schlafzimmers. Ob ihres Benehmens vor der Welt hatte der Major nicht den geringsten Anhalt, der Rosalba Vorwürfe zu machen. Wenn sie gewollt hätte, wäre es ihr wohl möglich gewesen, ihr Geschick an einen andern zu ketten. Einmal war ein Marschall so vernarrt in sie, daß er ihr aus seinem Marschallstock einen Sonnenschirmstock machen ließ. Aber wie die Frauen nun einmal sind. Die Karpfen sehnen sich nach ihrem Schlamm zurück, sagt Frau von Maintenon. Die Rosalba brauchte sich gar nicht erst zurückzusehnen. Sie blieb gleich drin, und ich sprang auch hinein ...«

»Bis dahin aber?« warf Mautravers wißbegierig ein.

»Wahrlich, da gibt es nicht viel zu berichten. Ihr kennt alle das schöne Lied aus der Regentschaft:

Quand Boufflers parut à la cour,
On crut voir la reine d'amour.
Chancun s'empressait à lui plaire,
Et chacun lavait... à son tour.

Eines Tages kam auch ich an die Reihe. Ich hatte bis dahin schon Weiber gehabt die schwere Menge. Das kann ich wohl sagen. Aber daß es solche wie die Rosalba gab, hatte ich mir nicht träumen lassen. Der Schlamm war ein Paradies. Ich bin kein Romanschreiber. Also kann ich es euch nicht bis eins einzelne schildern. Ich war ein Mann der Tat, der die Weiber nahm wie der Graf Almaviva – brutal. Ich war auch bei der Rosalba kein Romantiker. In dem Glück, das sie mir gewährte, spielten Seele, Geist, Eitelkeit nicht die geringste Rolle. Und doch hatte auch diese Liebe ihre Tiefe. Den Abgrund der Sinnlichkeit. Wie soll ich das deutlicher machen? Ich finde kein einigermaßen passendes Bild.

Ihr könnt euch vorstellen, daß ein Weib, das schon bei dem flüchtigsten Blick erglüht, vor Wollust lodert, wenn man es nicht bloß mit den Augen reizt. Ihr Leib war im Genuß ein Erlebnis. Und mit diesem, Leibe bereitete sie mir eines Abends ein Fest. Sie hatte die Kühnheit, mich zu empfangen, angetan nichts als ein durchsichtiges Gewand aus indischem Musselin. Ihr Körper schimmerte durch diesen Schleier, der zart wie ein Hauch war, dem Beben, mit seinen reinen Linien, mit dem Rosenrot der Scham und der Wollust. Sie sah in ihrer wolkigen Hülle aus wie ein lebendiges Bildwerk aus mattem Korall. Seitdem habe ich keinen Gefallen mehr an der weißen Haut der andern Weiber. Sie reizen mich nicht...«

Er warf eine Orangenschale, mit der er gespielt hatte, mit der Gebärde der Geringschätzung von sich.

»Unser Verhältnis dauerte einige Zeit«, fuhr Mesnilgrand fort, »ohne daß ich es satt bekam. Man kriegt solch ein Weib nicht satt. Sie verstand es, in das Erdenhafte etwas Überirdisches zu bringen. Trotzdem gab ich sie auf. Aus Selbstachtung. Aus Verachtung ihres Stolzes, der sogar in der tollsten Raserei jedwede Liebe und Achtung zu mir leugnete. Sie war eine Sphinx. Ein unerforschbares Rätsel. Aber eine glühende Sphinx. Ihre Doppelnatur reizte und verdroß mich. Überdies hatte ich die Gewißheit, daß sie sich gleichzeitig noch andere Seitensprünge erlaubte. Das alles gab mir die Kraft, mit einem Ruck die Zügel zu zerreißen, durch die mich diese Sirene an sich gefesselt hatte. Ich verließ sie, oder besser gesagt, ich ging nicht mehr zu ihr. Ich mied sie mit der Überzeugung, daß es kein zweites Weib wie sie gab. Das feite mich vor allen Weibern. Erst jetzt ward ich Soldat im eigentlichen Sinne. Ich lebte nur noch für den Krieg. Die Rosalba hatte mir das Wasser der Vergessenheit gereicht...«

»Und so bist du ein Achill geworden!« sagte der alte Mesnilgrand voll Stolz vor sich hin.

»Ein paar Monate, nachdem ich mit ihr gebrochen hatte«, erzählte der Rittmeister weiter, »setzte sich der Major Ydow im Kaffeehaus an meinen Tisch, und ich erfuhr von ihm beiläufig, daß seine Geliebte Gefährtin einem gewissen Ereignis entgegensah. Die Herren, die mit am Tisch saßen, blickten einander bedeutungsvoll an. Man lächelte. Aber der Major merkte es nicht oder wollte es nicht bemerken. Als er gegangen war, fragte mich einer meiner Regimentskameraden: ›Ist das dein Kind?‹ Heimlich hatte ich mir bereits die nämliche Frage vorgelegt. Ich getraute mir weder laut noch leise eine Antwort. Die Rosalba hatte mir nie eine Andeutung davon gemacht, auch nicht in der vertrautesten Stunde, und so konnte das Kind von mir, vom Major, von wer weiß wem sein ...«

»Das Kind des Regiments!« warf Mautravers dazwischen.

Mesnilgrand fuhr fort:

»Wie schon gesagt, die Rosalba war eine Sphinx, die ihre Geheimnisse wahrte. Sie in anderen Umständen zu wissen, machte einen merkwürdigen Eindruck auf mich. Ein paar Tage dachte ich an nichts anderes als daran: Ist dies Kind von mir? Schließlich aber legte sich diese kleine väterliche Beunruhigung. Es kamen Dinge, die mich stärker in Anspruch nahmen als der Zustand der Rosalba. Wir schlugen uns bei Talavera. Der Eskadronchef Titan fiel, und ich übernahm seine Schwadron.

Das wüste Gemetzel jener Tage steigerte die Feindseligkeit des Landes auf das äußerste. Wir kamen keinen Augenblick zur Ruhe. Die Rosalba folgte dem Regiment auf einem der Gepäckwagen, und dort kam auch ihr Kind zur Welt. Wenige Tage alt starb es. Der Major, der das kleine Geschöpf abgöttisch liebte – er glaubte offenbar, es sei unbedingt sein Kind –, war tiefbetrübt darüber und zeigte seinen übertriebenen Schmerz derartig aller Welt, daß man das Lächerliche daran übersah. Man vergaß, daß er unbeliebt war. Man bedauerte ihn. Die Rosalba hatte nichts an ihrer Schönheit eingebüßt. Sie trotzte jedwedem Angriff des Lebens. Bei dieser ihrer Natur hätte sie uralt werden können...«

»Sie ist also nicht uralt geworden, die Landstürzerin?« unterbrach ihn Ranconnet, den das Schicksal dieser Frau in Spannung versetzt hatte. Die Begegnung in der Kirche hatte er für den Augenblick vergessen. »Und du weißt etwas von ihrem Ende?«

»Etwas, ja!« erwiderte der Rittmeister mit eigentümlicher Betonung, wie um darauf zu deuten, daß er jetzt zum Kern seiner Geschichte gelange.

»Alle Welt hat geglaubt, und du auch, daß sie zusammen mit dem Major in den wilden Tagen von Talavera umgekommen sei. Es sind damals so viele verschollen. Aber das Schicksal der Rosalba war besonders seltsam. Ich will es erzählen.«

Mesnilgrand stützte die Ellbogen, auf den Tisch. Der Rittmeister Ranconnet umfaßte mit der Rechten den Stengel seines Weinglases wie den Griff seines Säbels.

Mesnilgrand begann von neuem:

»Der Krieg nahm kein Ende. Die wütenden Spanier, die fünfhundert Jahre darauf verwendet haben, die Mauren aus dem Lande zu vertreiben, hätten die gleiche Zeit auch uns gewidmet, wenn es hätte sein müssen. Wir drangen nur schrittweise vorwärts. Die eroberten Ortschaften mußten wir sofort befestigen und als Wall gegen den Feind verwenden. So kamen wir in den kleinen Ort Alcudia und blieben dort eine Zeitlang. Das große Kloster ward zur Kaserne verwandelt. Die Offiziere des Regiments lagen in den Häusern. Der Major beim Dorfschulzen. Da das Haus geräumig war, kamen die anderen Herren manchmal hin. Mit den Einwohnern verkehrten wir nicht. Der Franzosenhaß war zu toll geworden.

Die Rosalba war an diesen Empfangsabenden die Dame des Hauses und bewirtete uns mit einem Glas Punsch in ihrer unnahbaren Haltung, die mich immer ein Witz des Teufels dünkte. Draußen krachten die Schüsse der Vorposten.

Ich kümmerte mich nicht darum, wer meine Nachfolger in ihrer Gunst waren. Ich hatte mich völlig von ihr befreit und empfand weder Groll noch Eifersucht, noch die Bitternis der verletzten Eitelkeit. Ich war Zuschauer geworden. So scheute ich auch nicht das Haus des Majors. Die Rosalba unterhielt sich mit mir im Kreise der ändern, als hätten wir einander nie nahegestanden. Der Sinnenrausch von ehedem war verweht. Mitunter aber verspürte ich doch leise Sehnsucht nach dem Nocheinmal, ähnlich wie vor einem letzten Glas Sekt, das man schon beiseite geschoben hat, das man aber doch wieder ergreifen möchte, weil irgendein Lichtschimmer den Rest verlockend durchfunkelt.

Dies sagte ich ihr eines Abends, als ich einmal allein mit ihr war. Früher denn sonst hatte ich das Kaffeehaus verlassen, wo die Offiziere zusammensaßen beim Billard- und Kartenspiel. Es war ein heißer, beinahe afrikanischer Abend. Die glühende Sonne wollte sich nicht losreißen vom Himmel. Ich fand die Rosalba, kaum bekleidet, mit nackten Schultern, die schönen Arme bloß. Das Haar fiel ihr schwer in den Nacken, der in der Abendbeleuchtung erdbeerfarben schimmerte. Sie war verführerisch wie eine Teufelin.

So halbnackt saß sie am Tisch und neigte sich über einen Brief, den sie schrieb. Wenn sie etwas zu schreiben hatte, war es natürlich an einen Liebhaber zwecks erneuter Untreue. Als ich eintrat, war der Brief gerade fertig. Rosalba siegelte ihn zu und hielt eben die blaue silbergesprenkelte Siegellackstange in die Flamme einer vor ihr brennenden Kerze. Ich sehe alles das noch deutlich vor mir. Warum, das werdet ihr nun hören. ›Wo ist mein Mann?‹ fragte sie mich, in jener merkwürdigen Verwirrung, in die sie stets geriet, wenn sie in Gegenwart eines Mannes war.

›Beim Jeu. Er spielt wieder einmal wie wahnsinnig‹, berichtete ich ihr, die goldige Locke in ihrem Nacken betrachtend, die ich so oft geküßt hatte, und fügte scherzend hinzu: ›Irgendeine Tollheit ergreift an solch einem Abend jeden ...‹

Sie verstand mich, ohne davon überrascht zu sein. Sie war an die Lüsternheit der Männer genugsam gewöhnt. ›Torheit!‹ erwiderte sie langsam, während sich das heiße Rot ihrer Wangen zu Purpur wandelte. ›Ihre Tollheit ist vorüber.‹ Während sie dies sagte, drückte sie das Siegel auf das siedende Wachs, das alsbald erstarrte. ›Sehen Sie da‹, fuhr sie im Ton der Herausforderung fort. ›Ein Gleichnis Ihres Herzens! Im Augenblick noch siedend heiß und gleich darauf starr und kalt!‹

Damit drehte sie den Brief um und wollte die Aufschrift beginnen. Ich war wahrlich nicht eifersüchtig, aber doch begehrte ich zu wissen, an wen der Brief gerichtet sei. Ich beugte mich von rückwärts über sie. Indem ich sie dabei berührte, lehnte sie sich zurück und sah mich ver- wirrt-lüstern an, wie einen die Rosalba anzusehen pflegte, mit halbgeöffneten Lippen...

Da hörten wir den Major die Treppe heraufkommen.

Die Rosalba sprang auf.

›Er wird uns eine schreckliche Szene machen! Sicherlich hat er viel verloren, und dann ist er immer eifersüchtig und heftig. Schnell! Verstecken Sie sich in dem Schrank da!‹

Sie öffnete einen großen Kleiderschrank und drängte mich ohne weiteres hinein. Was sollte ich tun? Übrigens glaube ich, es gibt kaum Männer, die nie in ihrem Leben in einem Kleiderschrank oder in etwas Ähnlichem gesteckt haben, um dem Ehegatten oder dem rechtmäßigen Eigentümer eines weiblichen Wesens zu entgehen...« »Ich hab' einmal in einen Kohlenkasten kriechen müssen!« warf Selune lachend ein. »Ich war damals weißer Husar. Man stelle sich vor, wie ich ausgesehen habe, als ich wieder heraus durfte.« »Ja«, nahm der Rittmeister Mesnilgrand wieder das Wort. »Unter gewissen Umständen sind die verwegensten Kerle Feiglinge, einer zitternden Frau zuliebe. Wenn ich an den Schrank denke, wird mir noch heute übel, nach so vielen inhaltsreichen Jahren. Den Säbel an der Seite, in einem Kleiderschrank zu stecken, das ist der Gipfelpunkt der Lächerlichkeit! Noch dazu eines Frauenzimmers wegen, die gar keine Ehre zu verlieren hatte!

An derlei zu denken, hatte ich natürlich keine Zeit. Der Major war inzwischen in die Stube getreten. Die Rosalba hatte richtig vorausgesehen. Ydow befand sich in rasender Stimmung. Seine Anfälle von Eifersucht waren um so maßloser, gerade weil er sie vor uns zu verbergen ängstlich bemüht war. Offenbar fiel sein erster Blick auf den Brief, der auf dem Tisch liegengeblieben war und dank unserer verliebten Anwandlung noch keine Aufschrift trug. ›Was ist das für ein Brief?‹ fragte er mit rauher Stimme. ›Ein Brief nach Italien!‹ gab die Rosalba gelassen zur Antwort. Mit diesem Bescheid gab er sich nicht zufrieden. ›Das ist nicht wahr!< rief er grob. Seine Gemeinheit trat zutage. An diesem kurzen Wortwechsel erkannte ich den Ton, der zwischen den beiden Eheleuten herrschte. Sie hatten tagtäglich derartige Auftritte. Ich in meinem Schrank sah nichts, hörte aber alles. Ich vernahm sozusagen aus ihren Worten ihre Gesten, aus dem Klang ihrer Stimmen den Ausdruck ihrer Wut. Der Major verharrte dabei, den Brief lesen zu wollen, aber Rosalba weigerte sich hartnäckig, ihn herzugeben. Nun wollte er ihn mit Gewalt entreißen. Die Tritte der Füße und das Rascheln der Kleider zeigten mir an, daß sie miteinander rangen. Natürlich war der Major stärker als sie. Er entwand ihr den Brief und las ihn. Er ersah daraus, daß sie einen Liebhaber zu einem Stelldichein einlud, daß der Betreffende bereits beglückt worden war und daß er abermals von neuem beglückt werden sollte. Nur war der Name des Geliebten nicht genannt. Maßlos neugierig wie alle Eifersüchtigen war der Major auf den Namen dessen erpicht, mit dem er betrogen wurde. Aber umsonst. Das war die Vergeltung für den rohen Raub des Briefes und die vielleicht blutige Mißhandlung der Hand, die ihn festhalten wollte. Rosalba hatte im Kampf geschrien: ›Lump, du reißt mir die Hand ab!‹ In Ungewißheit gelassen, vernarrt, verhöhnt durch diesen Brief, der ihm nichts verriet, als daß Rosalba einen Liebhaber hatte – einen mehr –, geriet der Major in rasende, würdelose Wut und überschüttete seine Geliebte mit gemeinen Schimpfworten, mit groben Landsknechtsflüchen. In den rohesten Worten warf er ihr vor, sie sei – nun, was sie ja war. Er fand kein Maß. Auf alles das antwortete sie als echtes Weib, das keine Rücksicht mehr nimmt, das den Mann, an den sie gekettet ist, bis in die Eingeweide kennt und das längst weiß, daß in der Tiefe solch tierischen Zusammenhalts der ewige Krieg lauert. Sie war nicht so gemein wie er in seiner Wut, dafür aber grausamer, höhnischer. Sie lachte mit dem wahnsinnigen Lachen des erbittertsten Hasses und warf ihrem Beschimpfer Worte entgegen, wie sie die Frauen zu finden wissen, wenn sie einen Mann um den Verstand bringen wollen, Worte, die in die Fülle seines Ingrimms einschlagen wie Handgranaten in ein Pulverhaus. Mit eiskalten Worten schrie sie ihm ins Gesicht, sie liebe ihn nicht, habe ihn nie geliebt: ›Nie! Nie! Nie!‹ rief sie ihm zu, wild und frohlockend, als tanze sie auf seinen Nerven. Der Gedanke, daß dies wahr sein könne, war ihm das Schrecklichste, das Grausamste, das ihn am tiefsten Verwundende, denn im Grunde war seine Leidenschaft nichts als Eitelkeit. ›Und unser Kind!‹ warf er ein, als müsse dies ein Beweis ihrer Liebe zu ihm sein. ›Ach, unser Kind!‹ rief sie aus und begann höhnisch aufzulachen. ›Das war nicht von dir!‹ Der Major fauchte wie eine wilde Katze. Ich konnte mir deutlich vorstellen, wie unheimlich seine grünen Augen dabei funkeln mußten. Er stieß einen tollen Fluch aus und fragte: ›Na, von wem denn? Ich will den Kerl wissen, du verdammte ...‹ In seiner Stimme klang nichts Menschliches mehr. Sie lachte von neuem auf wie eine Hyäne. ›Das wirst du nicht erfahren!< erklärte sie und wiederholte diese Worte immer wieder. Und als sie ihn genugsam damit verhöhnt und gepeitscht hatte, begann sie eine lange Reihe von Namen aufzuzählen, deren Träger allesamt ihre Liebhaber gewesen waren. Jedem fügte sie den vollen Titel bei. Es war das ganze Regiment. ›Alle diese Herren habe ich gehabt! Aber keinen habe ich geliebt. Nur einen einzigen. Und von dem war mein Kind, das du so töricht bist, für deins zu halten! Den einen habe ich geliebt! Vergöttert! Hast du es nicht geahnt? Weißt du nicht, wer es ist?‹ Sie log. Nie hatte sie einen geliebt. Aber sie wußte, daß dieses falsche Bekenntnis den eitlen Major wie ein Dolchstoß treffen mußte. Sie stieß ihm die grausame Waffe tiefer und tiefer in den Leib, und zuletzt drehte sie sie gleichsam in der Wunde noch um, indem sie ihm die Worte zuzischte: ›Du Esel, da du es nicht herauskriegst, will ich's dir gestehen. Es war der Mesnilgrand!<

Nach diesem angeblichen – oder wirklichen? – Geständnis trat Totenstille ein.

›Hat er sie als stumme Antwort einfach erdrosselt?‹ fragte ich mich.

Da vernahm ich das Klirren von Glas, das in tausend Scherben bricht, mit aller Macht zu Boden geschleudert.

Wie schon erzählt, hielt der Major das Kind der Rosalba für das seine. Er hatte es maßlos geliebt und war über seinen Tod tief betrübt. Da es ihm im Bewegungskrieg, wo man jeden Tag an einem anderen Ort lebt, unmöglich war, dem Kind ein Grabmal zu errichten, um aber doch eine Art Totenkult zu treiben, hatte er das Herz des kleinen Toten einbalsamieren lassen und führte es in einer kleinen Glasurne überall herum. Es pflegte in einer Ecke des Schlafzimmers seinen Platz zu haben.

Diese Urne war in Scherben gegangen.

›Es war also nicht mein Kind!‹ schrie er. ›Du verruchte Metze!‹

Ich hörte, wie er mit seinen schweren Reiterstiefeln über die knirschenden Scherben trat. Er zertrat das Herz, das sein Abgott gewesen. Wahrscheinlich wollte Rosalba es der Vernichtung entreißen und es retten. Ich vernahm, daß die beiden abermals wild gegeneinander rangen. Ich hörte Schläge fallen.

Dann erscholl wieder die rauhe Stimme des Majors: ›So, wenn du ihn haben willst, hier hast da deinen Wechselbalg, alte Kokotte!«

Damit warf er ihr das Herz, das einst zärtlich geliebte, an den Kopf. Rosalba tat offenbar das nämliche. Eine Schandtat erzeugt die andere. Etwas Unerhörtes! Ein Vater und eine Mutter, die sich einander das Herz ihres toten Kindes in das Gesicht warfen!

Der ruchlose Kampf dauerte einige Minuten. Er war so erschütternd, daß ich zu keinem Entschluß kam. Ich hätte mich gegen die Schranktür stemmen, sie aufsprengen und in den Auftritt eingreifen können. Da erscholl ein Schrei, wie ich nie einen vernommen, und Sie, meine Herren, gewiß auch nicht – und wir haben doch genug Entsetzliches auf den Schlachtfeldern gehört! Jetzt hatte ich die Kraft, aus dem Schrank hervorzubrechen, und ich sah ... Unglaubliches! Die Rosalba war bezwungen über den Tisch gefallen, an dem sie ihren Brief geschrieben hatte. Der Major hielt ihren aller Hülle beraubten nackten Körper mit der einen Hand nieder. Sie wand sich unter dem ehernen Griff hin und her. Und was tat er mit der ändern Hand? Der Schreibtisch, die brennende Kerze und die Siegellackstange daneben hatten ihn auf den satanischen Einfall gebracht, sich mit diesen Dingen zu rächen: die Untreue zu besiegeln, wie sie den Brief gesiegelt hatte! In tollem Eifer vollzog er die entsetzliche Rache!

›Du Hure verdienst keine andere Strafe«, rief er aus, ›als an deiner gottverdammten.. .‹

Der Major bemerkte mein Erscheinen nicht. Über sein verstummtes Opfer gebeugt, drückte er eben den Säbelknauf als Siegel auf die Stelle mit dem siedenden Wachs. Ich ging auf ihn los und stieß ihm meinen Säbel von hinten in den Rücken, tief hinein, bis zum Korb, ohne ihn vorher anzurufen.«

»Das hast du recht gemacht!« rief Sélune. »So ein Kerl verdient es nicht anders!«

»Die umgekehrte Geschichte von Abälard und Heloise!« spottete der Ex-Pfaffe.

»Ein ebenso merkwürdiger wie seltener Fall!« bemerkte der Doktor Bleny. Ohne darauf, einzugehen, fuhr Mesnilgrand in seiner Erzählung fort: »Der Major sank tot auf die Ohnmächtige. Ich riß ihn weg und warf ihn zu Boden. Inzwischen war die Dienerin herbeigekommen, ebenfalls auf den grellen Schrei hin.

›Holen Sie sofort den Feldscher!‹ rief ich ihr zu.

Ich hatte aber nicht die Zeit, sein Erscheinen abzuwarten. Das Alarmsignal erklang. Ich mußte zu meiner Schwadron. Der Feind hatte den Ort überfallen. Die Posten waren meuchlings niedergestochen.

Ehe ich zu meinen Pferden ging, warf ich einen letzten Blick auf den schönen starren mißhandelten Weibeskörper und hob das Herz auf, das im Staub lag. War es doch das Herz meines Kindes! Ich steckte es in die Feldbinde.«

Mesnilgrand hielt inne. Es klang etwas wie leise Rührung aus seiner weltmännischen Stimme.

»Und die Rosalba?« fragte Ranconnet.

»Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört«, erwiderte der Rittmeister.

»Ist sie daran gestorben? Ist sie am Leben geblieben? Hat der Feldscher noch kommen können? Ich weiß es nicht. Nach dem Gefecht – es war der Überfall von Alcudia, der uns so verhängnisvoll ward! – suchte ich ihn, vermochte ihn aber nicht zu finden. Er wurde vermißt wie damals so viele andre. Unser Regiment hatte schlimme Verluste.«

»Die Geschichte ist famos!« erklärte Mautravers. »Schade, daß sie zu Ende ist! Aber gestatte eine Frage! Sie wäre eigentlich Sache Ranconnets; aber ich sehe, er sitzt traumverloren hinter seinem Humpen. Sage einmal, in welchem Zusammenhang steht deine Geschichte nun zu deinem Beichtgäng am vergangenen Sonntag? Das möchten wir doch alle gern wissen.«

»Gewiß! Das soll nicht vergessen werden!« antwortete Mesnilgrand. »Also hört! Jahrelang habe ich das Herz bei mir herumgeschleppt wie eine Reliquie. Ich war abergläubisch. Seit ich aber nach Waterloo nicht mehr Soldat bin, wollte ich immer und immer das schon arg geschändete Herz nicht länger schänden. Doch es verging Zeit um Zeit. Schließlich hab' ich mich hier an einen Priester gewandt und hab' es ihm am vergangenen Sonntag in seinen Beichtstuhl gereicht. Er wird es in geweihter Erde zur Ruhe bestattet haben.«

Der Rittmeister Ranconnet blieb still und stumm. Auch die andern hatten nichts zu fragen. Dachten sie insgeheim nach, wie gut und schön es wäre, wenn die Kirchen keinen andern Zweck hätten, als dann und wann ein totes oder auch ein lebendiges Herz in ihrem Dämmerdunkel aufzunehmen, das sonst nirgends in der Welt eine Zufluchtsstätte fände?

»Der Kaffee soll aufgetragen werden!« befahl der alte Herr von Mesnilgrand mit dürrer Stimme. »Wenn er wie deine Geschichte so stark ist, wird er gut sein!«

Montag, 30. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (15) - Vom Mahle der Lästerer (2) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Vom Mahle der Lästerer


2

Es braucht kaum gesagt zu werden, daß die fünfundzwanzig Gäste in der Mehrzahl Soldaten waren. Aber es waren auch einige Ärzte, große Realisten, darunter sowie etliche ehemalige, nicht im besten Ruf stehende Geistliche, Altersgenossen des alten Mesnilgrand, und als Krone des Ganzen ein Volksvertreter aus der Umsturzzeit, der für die Hinrichtung des Königs gestimmt hatte. Es waren also Landsknechte oder Jakobiner, leidenschaftliche Bonapartisten oder eingefleischte Volksmänner, alle bereit, aufeinander loszugehen und sich gegenseitig zu vernichten, alle nur in einem gleichgesinnt: in der Mißachtung Gottes und der Kirche.
Der Rittmeister von Mesnilgrand hob sich von diesem Kreis in jeder Weise glänzend ab. Die anwesenden Offiziere, die einstigen Dandys der Kaiserzeit, waren zweifellos schöne und fesche Männer, aber ihre Schönheit war Mittelware, Alltagsgut; körperlich rein oder unrein, entbehrte sie des Seelischen, und ihre Eleganz war zu komissig. Man sah ihnen noch in ihrer jetzigen Bürgertracht das Steife der abgelegten Uniform an. Die anderen Kumpane, die ärztlichen Weltverächter und die entgleisten Pfaffen, hielten nicht auf ihr Äußeres; sie sahen beinahe verkommen aus. Nur Mesnilgrand war, wie die Frauen sich ausdrückten, adorabel angezogen. Da noch Vormittag war, trug er einen entzückenden schwarzen offenen Gehrock (von der Firma Staub in Paris), eine Krawatte von mattgelber Seide mit winzigen, kaum erkennbaren, handgestickten, goldenen Sternchen, dunkle, ins Bläuliche schimmernde Tuchhosen, eine unauffällige Weste aus schwarzem Kaschmir, durchbrochene seidene Strümpfe und – da er im eigenen Hause war, keine Schuhe, sondern – tiefausgeschnittene Halbschuhe mit hohen Absätzen, wie sie Chateaubriand bevorzugte, der bestbeschuhte Kavalier seiner Zeit nach dem Großfürsten Constantin; an Schmuck nichts aus Gold, nur – über den breiten Falten seiner nicht verschlungenen, militärisch schlichten Krawatte – eine kostbare antike Kamee mit einem Alexanderkopf. Man brauchte nur das Erlesene dieser Kleidung zu sehen, um sofort zu wissen, daß der Künstler über den Soldaten gekommen war und ihn gewandelt hatte und daß ihr Träger von anderer Art war als alle übrigen, obwohl er sich mit den meisten auf du stand.
Punkt zwölf Uhr mittags begann die Tafel. Auch darin lag Spott. In der Normandie herrscht nämlich der Glaube, der Papst setze sich um diese Zeit an seine Tafel und wünsche dabei der ganzen Christenheit: Gesegnete Mahlzeit. Dieses Benedicite sollte lächerlich gemacht werden. Wenn es vom Doppelturm der Stadtkirche Mittag zu läuten begann, versäumte es der alte Herr von Mesnilgrand nie, unter voltairischem Lächeln mit seiner schrillen Stimme zu rufen: »Zu Tisch, meine Herren! So fromme Christen wie wir dürfen sich des römischen Segens nicht berauben!« Und dies war gleichsam das Losungswort für alle die Lästereien, die nun das Tischgespräch bildeten. Was an einer Tafelrunde von Männern geredet wird, ist immer leichtfertig, noch dazu von solchen Männern wie hier. Man kann wohl sagen, alle Herrenessen, bei denen keine Dame den Vorsitz hat, Einklang schaffend und Milde ausströmend, arten, selbst wenn geistreiche Köpfe zusammen sind, in ein schreckliches Handgemenge aus, wie die Gelage der Lapithen und Kentauren, bei denen es vermutlich auch keine Frauen gab. Bei solchen Festmählern verlieren die gesittetsten und besterzogenen Männer etwas von ihrer Höflichkeit und Vornehmheit. Das ist nicht weiter verwunderlich; fehlt doch die Galerie, der sie gefallen wollen. Sie verfallen einer gewissen Nachlässigkeit, die beim geringsten Anprall, beim geringsten Widerstreit der Meinungen, ins Gröbliche geht. Wenn dies schon bei den Gelagen der edelsten alten Athener geschah, so mußte es erst recht der Fall sein bei den Gastmählern im Hause Mesnilgrand, deren Teilnehmer immer ein wenig im Kasino oder in der Kantine wenn nicht an ärgeren Orten zu sein dünkten.
Beim dritten Gang ging es bereits hoch her. Man hatte erst über politische Dinge geredet, voller Haß gegen die Bourbonen; dann war man zu den Frauen übergegangen, dem unerschöpflichen Gesprächsstoff, besonders in Frankreich, dem geckenhaftesten Lande der Erde.
Man begann Abenteuer zu erzählen. Jeder wollte den anderen überbieten. Die teuflischen Beichten wurden immer gepfefferter. Der ehemalige Abbé Reniant, ein Kurpfuscher, der in den Wirren der Umsturzzeit aus einem Priester ohne Glauben ein Arzt ohne Wissenschaft geworden war, kam an das Wort. Nachdem er noch einmal bedächtig aus seinem Glas geschlürft hatte, begann er:
»Es war schon eine Weile her, daß ich meine Kutte an den Nagel gehängt hatte. Die Revolution war im schönsten Gange. Es war um die Zeit, Bürger Lecarpentier, als Sie sich auf Ihrer Rundreise als Volksvertreter hier in *** aufhielten. Erinnern Sie sich an ein junges Mädchen aus Hémevès, das Sie eines Tages einsperren ließen? Ein übergeschnapptes Frauenzimmer. Eine Epileptikerin.«
Der Volksmann vermochte sich nicht zu entsinnen.
»Man nannte sie die Tesson«, begann der ehemalige Abbé wieder. »Josefine Tesson, wenn ich mich nicht irre. Ein großes dickbackiges Frauenzimmer. Die Chouans und die Pfaffen hatten ihr den Kopf verdreht. Sie machte es sich geradezu zur Lebensaufgabe, diese Kerle zu verstecken, diese gottverdammten Pfaffen. Wo es galt, so einem Halunken das Leben zu retten, trotzte sie Tod und Teufel. Sie verschaffte ihnen die unglaublichsten Zufluchtsorte; versteckte sie, wenn's sein mußte, in ihrem Bett, unter ihrem Unterrock. Wäre es gegangen, so hatte sie einen dort versteckt, wo sie die Büchse mit den Hostien trug, zwischen ihren Brüsten ...«
»Potztausend!« warf Rançonnet ein, den die Geschichte in Wallung versetzte.
»Bloß zwei!« scherzte Reniant. »Dafür aber von anständigem Kaliber ...«
Es erhob sich allgemeines Gelächter.
»Ein sonderbares Ciborium«, meinte der Doktor Bleny verträumt, »so ein Weiberbusen!«
»Das Ciborium der Not!« erklärte Reniant, dessen Erregung sich inzwischen gelegt hatte. »Alle die heimatlosen, verfolgten und gehetzten Priester, denen sie sich verbergen half, vertrauten ihr die Hostien an, die sie in ihrem Busen überall dahin trug, wo sie benötigt wurden. Man setzte das größte Vertrauen in sie und redete ihr ein, sie sei eine Heilige. Das stieg ihr zu Kopf. Am liebsten wäre sie eine Märtyrerin geworden. Unerschrocken eilte sie mit der Hostienbüchse hin und her, bei Tag und Nacht, bei Wind und Wetter, über Stock und Stein, zu den verborgenen Priestern, um Sterbenden das Viatikum zu verschaffen.
Eines Abends erwischten wir das Frauenzimmer, ich und ein paar brave Burschen der Teufelskompagnie von Rossignol, in einem Bauernhof, wo ein Chounan abfahren wollte. Einer von uns, der durch ihre strammen Vorgebirge Appetit auf sie gekriegt hatte, karessierte ' sie ein bißchen. Aber es bekam ihm schlecht. Die Katze schlug ihm ihre zehn Krallen in die Visage, so fest, daß er zeitlebens an sie denkt. Trotzdem ließ der Kerl nicht locker. Ein kecker Griff förderte die Herrgottsbüchse zutage. Wir zählten ein Dutzend Hostien, die ich in Gegenwart des schreienden und uns wie eine Rasende anfallenden Weibstückes vor die Säue werfen ließ ...«
Er hielt inne und brüstete sich wie der Hahn auf dem Mist.
»Abbé, das war wohl das letztemal, daß Sie das Abendmahl gereicht haben?« fragte der alte Herr von Mesnilgrand im Fistelton.
»Die lieben Tierchen werden sich doch den Magen nicht verdorben haben?« spottete einer der Tafelrunde.
Nach diesen groben Lästereien herrschte eine kleine Weile Stille.
»Und du, Mesnil?« rief Rançonnet seinem Kameraden zu. Dem darauf Lauernden dünkte es eine gute Gelegenheit, auf den Kirchgang zu kommen. »Sagst du gar nichts zu dieser famosen Geschichte des trefflichen Abbé?«
Mesnilgrand sagte in der Tat nichts. Den Kopf in die Hand gestützt, saß er am Tisch und hörte ohne Abscheu, aber auch ohne Vergnügen, den Scheußlichkeiten zu, die seine verrohten Genossen vorbrachten. Er hatte sich über all das hinausgelebt. Es berührte ihn nicht. Er hatte schon zuviel davon hören und sehen müssen, in den vielen Jahren und in der Umgebung, in der er lebte. Die Umwelt ist das Schicksal des Menschen. Im Mittelalter wäre Mesnilgrand ein begeisterter Kreuzritter geworden; im neunzehnten Jahrhundert konnte er nichts anderes als napoleonischer Soldat werden. Namentlich während des Feldzuges in Spanien hatte er Greueltaten miterlebt, die denen der Landsknechte des Konnetabel von Bourbon bei der Einnahme Roms kaum nachstanden. Zum Glück ist die Umgebung nur für gemeine Geister und Gemüter ein böses Verhängnis. In starken Seelen lebt und webt etwas, das nicht verdirbt. Und dies war in Mesnilgrand untilgbar.
Müde, fast schwermütig erwiderte er dem Frager:
»Was soll ich dazu sagen? Herr Reniant hat da keine Heldentat vollbracht. Hätte er im Glauben, daß es einen Gott gäbe, einen lebendigen Gott, einen Gott der Rache, das Wahrzeichen dieses Gottes den Säuen vorgeworfen, auf die Gefahr hin, auf der Stelle vom Blitz erschlagen zu werden und in die Hölle zu kommen, ja, dann läge zum mindesten Bravour darin, dem Tod und noch Schlimmerem zu trotzen. Denn wenn es einen Gott gäbe, hätte er ihn zu ewigen Martern verdammen können. Sinnlos war die Tat in jedem Fall, aber dann wäre sie immerhin tapfer gewesen. Doch dieser gewisse Reiz an der Sache fehlt völlig. Der Abbé glaubt nicht an Gott, und der Glaube an das Symbol ist ihm nur lächerlicher Aberglauben. Er war somit von der Gefahrlosigkeit seines Tuns überzeugt. Für ihn war es nichts Mutigeres, als hätte er den Inhalt einer Schnupftabaksdose in den Koben geschüttet.«
»Ja, ja!« ließ sich der alte Herr von Mesnilgrand vernehmen, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und seinen Sohn unter dem Schild seiner vorgehaltenen Hand betrachtete. Er hatte stets Verständnis für das, was sein Sohn sagte, mochte er der nämlichen oder anderer Meinung sein. Hier war er übrigens derselben Ansicht. Er wiederholte darum auch seinen Ausruf: »Ja, ja!«
Mesnilgrand fuhr fort:
»Was ich aber an der Geschichte schön finde, und zwar wunderschön, mein lieber Rançonnet, und was ich mir zu bewundern erlaube, obgleich auch ich an nichts besonders viel glaube, das ist dieses Mädel, diese Tesson, wie Sie sie nennen, Herr Reniant. Indem sie das, was sie für ihren Gott hielt, an ihrem jungfräulichen Busen durch alle Gefahr und Gemeinheit der Welt zuversichtlich und kühn trug, machte sie ihre Brust zum Tabernakel ihres Gottes und sich selbst zum Altar, der jeden Augenblick mit ihrem eigenen Blut übergossen werden konnte. Meine Herren, wir, wir Offiziere – du, Rançonnet! Du, Mautravers! Du, Sélune! – wir, die wir das Kreuz der Ehrenlegion tragen, erworben in so vielen blutigen Schlachten, haben wir nicht mit diesem Symbol den Kaiser auf unserer Brust getragen? Und hat es nicht so manches Mal unsern Mut erhöht, daß wir ihn so trugen? Gibt es einen Unterschied zwischen dem und jenem? Bei meiner Ehre, ich finde die Tat des Mädchens einfach erhaben! Ich möchte wissen, was aus ihr geworden ist. Vielleicht ist sie tot. Vielleicht lebt sie, armselig irgendwo in einem Winkel. Und wenn ich Marschall von Frankreich wäre und sie begegnete mir barfuß, im Schmutz, um ein Stück Brot bettelnd, ich würde von meinem Pferd steigen und den Hut vor ihr abnehmen, vor diesem edlen Wesen, als trüge es wirklich einen Gott im Herzen.« Er stützte sein Haupt nicht mehr auf die Hand. Er hatte den Kopf nach rückwärts geworfen, und während er diese demütigen Worte sprach, wuchs er in die Höhe wie die Braut von Korinth in Goethes Gedicht. Ohne daß er aufgestanden wäre, überragte er alle die andern um sich herum.
»Geht die Welt aus ihren Fugen?« rief Mautravers, indem er mit der Faust auf einen Pfirsichkern schlug und ihn wie mit einem Hammer zertrümmerte. »Husarenrittmeister und Frontsoldaten ducken sich vor Betschwestern?«
Da erhob Rançonnet seine Stimme:
»Schließlich sind das nicht die schlechtesten Liebsten, die bei jeder Freude, die sie uns spenden oder wir ihnen, der ewigen Verdammnis zu verfallen wähnen. Aber, verehrter Mautravers, es gibt etwas Schlimmeres als Betschwestern zu Bettschwestern zu machen. Und das ist, wenn einer, der den Säbel geführt, selber zum Betbruder herabsinkt. Wißt ihr, wo ich den Rittmeister von Mesnilgrand erst am vorigen Sonntag gegen Abend angetroffen habe?«
Niemand gab eine Antwort. Alle aber waren nachdenklich geworden, und alle schauten nach dem Rittmeister Rançonnet hin.
»Bei meinem Säbel«, fuhr dieser fort. »Angetroffen ist falsch ausgedrückt; denn ich hüte meine Reiterbotten vor dem Staub der Kapellen. Ich sah zufällig, wie er durch das Nebenpförtchen in den Tempel hineinschlich. Starr vor Erstaunen fragte ich mich: Donnerwetter, seh' ich Gespenster? War das nicht Mesnils Gestalt? Aber was hat der in der Kirche zu suchen? Mir schossen die verliebten Abenteuer mit den Satansweibern der spanischen Klöster durch den Schädel. Also auch hier? dachte ich bei mir. Er kann die Unterröcke noch nicht lassen? Der Teufel soll mich holen! Ich muß sehen, welche Farbe der hat! Und so trat ich in den Gebetsladen. Es war verflucht duster drinnen. Ich stieg und stolperte über ein Dutzend alter Weiber, die ihren Rosenkranz ableierten. Schließlich aber erwischte ich meinen Mesnil, gerade als er durch das Seitenschiff wieder hinauswollte. Aber – glaubt ihr mir? – er hat mir nicht eingestanden, was er im Pfaffenzwinger zu suchen hatte. Und das ist es, warum ich ihn hier vor euch festnagle. Er soll uns jetzt Rede und Antwort stehen!«
»Na also, Mesnil! Rede! Sprich! Rechtfertige dich!« erklang es von allen Seiten.
»Mich rechtfertigen?« wiederholte Mesnilgrand belustigt. »Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen, wenn ich tue, was mir Vergnügen macht. Ihr, die ihr die Inquisition in Grund und Boden verdammt, am Ende seid ihr selber Inquisitoren. Ich bin am vergangenen Sonntag in der Kirche gewesen, weil es mir so beliebte.«
»Und warum hat es dir beliebt?« fragte der Rittmeister Mautravers.
»Das möchtet ihr wohl gern wissen?« meinte Mesnilgrand lachend. »Ich bin hineingegangen – wer weiß, vielleicht um zu beichten? In jedem Fall bin ich an einem Beichtstuhl gewesen. Na, Rançonnet, du wirst nicht behaupten können, daß meine Beichte lange gedauert habe.« Sie merkten, daß er sich über sie lustig machte; aber es lag etwas Geheimnisvolles in der ganzen Sache, das die Tafelrunde reizte.
»Deine Beichte!« sagte Rançonnet betrübt, denn er nahm die Worte seines Kameraden ernst. »Himmelkreuzdonnerwetter! So bist du also für uns verloren!« Aber schon schreckte er vor seinem Gedanken zurück wie ein bodenscheues Pferd vor seinem eigenen Schatten. Er bäumte sich auf und rief: »Hol mich der Henker! Das ist ganz unmöglich! Nein, keiner von uns allen hier kann sich das vorstellen: der Eskadronchef Mesnilgrand wie ein altes Weib, die Knie auf dem Betschemel, die Nase am Gitter vor dem Schilderhaus eines neugierigen Pfaffen! Dieses Bild will: nicht in meinen Schädel! Hunderttausend Granaten sollen mich treffen!«
»Du bist sehr gütig. Ich danke dir«, sagte Mesnilgrand voll drolliger Nachsicht.
»Scherz beiseite!« meinte Mautravers. »Mir geht es wie Rançonnet. Ich kann auch nicht an die Kapuzinade eines Mannes von deinem Schlag glauben. Die Sorte macht selbst in der Todesstunde nicht den Froschsprung ins Weihwasserbecken!«
»Was andere in ihrer Todesstunde tun, das weiß ich nicht«, erwiderte Mesnilgrand langsam. »Aber was mich anbelangt, so liegt mir daran, ehe ich zur Ewigen Armee abreite, mein Packzeug fix und fertig zu haben.«
Dies Soldatenwort ward so ernst ausgesprochen, daß Stille eintrat. Mesnilgrand fuhr fort:
»Lassen wir das! Aber da Rançonnet um jeden Preis wissen will, warum ich am Sonntag in der Kirche war, ich, der ich vielleicht ein ebenso großer Heide bin wie mein alter Kamerad, so soll die Geschichte erzählt werden. Eine Geschichte steckt nämlich dahinter. Wenn er sie vernommen hat, ist sein ungläubiges Gemüt vielleicht imstande, meinen Kirchgang zu begreifen.« Er machte eine Pause, wie um der Geschichte, die jetzt anhob, eine gewisse Weihe zu geben. Dann begann er:
»Rançonnet, du erwähntest vorhin Spanien. Just in diesem Lande hat sich meine Geschichte zugetragen. Mancher von euch hat wie ich den unseligen Feldzug von 1808 mitgemacht. Es war der Anfang vom Ende des Kaiserreichs und all unseres Mißgeschicks. Wer dort gefochten hat, der wird diesen Krieg nie vergessen. Vor allem du nicht, Sélune!«
Der Major Sélune saß dem Erzähler gegenüber, neben dem alten Herrn von Mesnilgrand. Er war ein Mann von stattlichem soldatischem Äußeren. Bei einem Vorpostengefecht in Spanien hatte er einen Säbelhieb bekommen, quer über das Gesicht, von der linken Schläfe mitten durch die Nase bis zum rechten Ohr. Die gewaltige Wunde war schlecht geflickt worden, in der Eile und aus Ungeschicklichkeit des Feldschers. Wenn der Major erregt wurde und ihm das Blut in den Kopf stieg, flammte die gräßliche Narbe auf, und es sah aus, als liefe um sein sonnenbraunes Gesicht ein breites blutrotes Band.
»Wir haben dort manches Grauenhafte gesehen«, fuhr Mesnilgrand fort, »und manchmal auch, selber begangen. Aber das Ärgste, was ich wohl erlebt habe, das will ich jetzt erzählen!«
»Jawohl«, sagte der Major Sélune mit der Selbstgefälligkeit eines hartgesottenen Kriegsmannes, den nichts mehr rührt. »Gesehen und erlebt! Ich erinnere mich, einmal Zeuge gewesen zu sein, wie man achtzig Nonnen übereinander in einen tiefen Brunnen warf, alle halbtot, nachdem sie von den Leuten zweier Schwadronen der Reihe nach vorgenommen worden waren ...«
»Vieherei von Mannschaften!« sagte Mesnilgrand. »Hier aber handelt es sich um die barbarische Tat eines Offiziers.« Er nippte an seinem Glas, ließ den Blick über die Tafelrunde schweifen und fragte: »Hat einer der Herren den Major Ydow gekannt?«
Nur Rançonnet antwortete:
»Ich zum Beispiel! Den hab' ich gut gekannt. Er stand mit mir bei den achten Dragonern.«
»Da du ihn also gekannt hast«, fuhr Mesnilgrand fort, »so wirst du auch noch jemanden gekannt haben. Als er zum Regiment kam, brachte er ein Frauenzimmer mit ...«
»Die Rosalba!« ergänzte Rançonnet. »Sein berühmtes Verhältnis. Ein Saumensch!«
»Gewiß. Sie verdient die übelste Bezeichnung ...« Mesnilgrand sann nach. Dann begann er von neuem: »Der Major brachte sie aus Italien mit, wo er vordem gewesen war, bei einem Reservekorps, als Hauptmann. Da ihn von den Anwesenden nur Rançonnet kennt, muß ich ihn näher schildern, damit sich auch die andern Herren ein Bild von diesem Teufelskerl machen, dessen Ankunft bei den achten Dragonern mit einem Frauenzimmer im Gefolge großes Aufsehen erregte.
Er war wohl kein Franzose – ein Umstand, bei dem Frankreich nicht viel verliert. Ich weiß nicht mehr, woher er stammte. Aus Böhmen oder Illyrien. Ich habe es vergessen. Aber wo er auch geboren sein mag, er war ein sonderbarer Mensch. Er war sichtlich ein Gemisch verschiedener Rassen, und er selber sagte, er sei von griechischer Abkunft. Seine Schönheit stützte diese Behauptung. Er war, weiß der Teufel, fast zu schön für einen Soldaten. Die Furcht, seine hübsche Larve verschandelt zu bekommen, soll einen Kriegsmann nicht bedrücken. Er ging ins Feuer wie alle andern und tat seine Pflicht, wenn auch nie einen Zoll mehr; aber das, was der Kaiser das heilige Feuer genannt hat, besaß er nicht. Im Grunde fand ich sogar seine Schönheit unangenehm. Später, als ich die Bekanntschaft mit der Antike machte, einer dem Feldsoldaten unbekannten Sache, da habe ich den Grundzug seines Gesichts wiedergefunden, in den Antinousbüsten. Besonders eine hat eine überraschende Ähnlichkeit mit ihm, eine aus Marmor, der ihr Schöpfer aus verrückter Laune oder aus schlechtem Geschmack Smaragde als, Augensterne eingesetzt hat. Solche meergrünen Augen hatte der Major, die zu seinem klassisch geschnittenen Gesicht mit dem warmen Oliventon in seltsamem Widerspruch standen. Sie schimmerten wie wehmütige Abendsterne, aber es war nicht Endymion, dessen Wollust darin schlummerte. Ein Tiger lauerte dahinter. Und eines Tages sollte ich den kennenlernen.
Ydow war braun und blond zugleich. Sein Haupthaar lockte sich dicht und dunkel um die schmale Stirn mit ihren eingedrückten Schläfen, während sein langer seidiger Schnurrbart fuchsrot war. Man pflegt zu sagen, Kopfhaar und Bart von verschiedener Farbe seien ein Zeichen von Verrat und Tücke. Vielleicht wäre der Major später ein Verräter wie so manch andrer geworden – am Kaiser. Das Schicksal hat es nicht dazu kommen lassen. Er war vielleicht gar nicht falsch und tückisch. Wie dem auch sei, vermutlich trug diese Äußerlichkeit bei, daß Ydow unter seinen Kameraden allgemein unbeliebt war. Sehr bald, nachdem er ins Regiment gekommen war, haßte man ihn.
Er war damals fünfunddreißig Jahre alt, und ihr könnt euch denken, daß ein so schöner Mann von den Frauen schrecklich verwöhnt und in jeder Beziehung verdorben wurde. Er gefiel auch den Unnahbarsten. Er war ein lasterhafter Mensch. Aber genug! Wir waren alle miteinander keine Tugendbolde. Wir liefen den Weibern nach und waren überdiesSäufer, Verschwender, Spieler, Duellanten und mitunter große Spitzbuben. Er war in tausend Händel verstrickt. Er galt als der Allerschlimmste, und er hatte wohl auch Dinge getan, deren wir andern doch nicht fähig waren. Ihm traute man alles zu. Dabei war er ein gräßlicher Streber, ein widerlicher Kriecher vor seinen Vorgesetzten. Man verdächtigte ihn aus Haß. Zweimal kam es zum Zweikampf. Er schlug sich brav, aber das änderte unsre Meinung über ihn keineswegs. Er blieb für uns ein zweifelhafter Kavalier. Glück im Spiel hatte er übrigens dem bekannten Sprichwort zum Trotz auch. Mit einem Wort, er war ein gefährlicher Kumpan. Es ließe sich noch viel über ihn sagen, aber ich denke, meine Schilderung genügt.«
»Das denke ich auch!« bemerkte Rançonnet ungeduldig. »Zum Kuckuck! Was hat der verdammte Major von den achten Dragonern samt seinem Luder von einem Weibsbilde, für die er am liebsten alle Dome Spaniens und der gesamten Christenheit geplündert hätte, mit dem Kirchgang am verflossenen Sonntag zu tun?«
»Prell nicht immer vor und warte ab!« wies ihn Mesnilgrand zurecht. »Du bist und bleibst der unverbesserliche Hitzkopf. Erst müssen die Personen meiner Geschichte sozusagen aufmarschieren!«
»Na denn laß sie aufmarschieren! Galopp marsch!« sagte der alte Draufgänger und stürzte zu seiner Beruhigung ein Glas Picardan hinunter.
Mesnilgrand fuhr fort:
»Wenn der Major Ydow ohne die Frau, die nicht seine Gattin, nur seine Geliebte war, zum Regiment gekommen wäre, wäre er wahrscheinlich von den Offizieren ziemlich geschnitten worden. Aber dieses Frauenzimmer, das den Major wer weiß wie an sich gefesselt hatte, verhinderte, daß dies dem Major widerfuhr. Das Weib ist der Magnet des Teufels. Die Herren, die mit ihm nur die unvermeidliche dienstliche Berührung gehabt hätten, verkehrten kameradschaftlich mit ihm – dieser Frau wegen. Wäre der Major unbeweibt gewesen, so hätte ihm im Kaffeehaus, wo sich alle Offiziere trafen, keiner einen Kognak angeboten. Aber man tat es mit dem Hintergedanken, einmal zu ihm eingeladen zu werden und mit ihr zusammenzukommen. Es ist eine alte Wahrheit: Ist man nicht der erste Liebhaber einer Frau, so ist man der zehnte! Und in der Tat, es dauerte nicht lange, da wußte man bei den achten Dragonern, daß diese Hoffnung keinen betrog. Rosalba war die Schlimmste der Schlimmen. Ich übertreibe nicht. Rançonnet, der gewiß einer der vielen Glücklichen war, wird mir das zugeben. Er weiß auch, daß sie eine blendende Sünderin war, daß sie alle Reize wie alle Laster des Weibes in sich einte.
Wo hatte der Major sie aufgegabelt? Woher stammte dies junge Geschöpf? Man fragte zunächst nicht danach. Es war nichts Ungewöhnliches, daß Offiziere ihre Geliebten beim Regiment hatten. Die Hauptsache war, daß sich der Betreffende den Aufwand leisten konnte. Die Kommandeure drückten angesichts dieser Ungehörigkeit schon eine Auge zu. Oft begingen sie sie selber. Eine Frau aber von der Art der Rosalba hatten wir noch nicht bei uns gesehen.
Hübsche Mädel fanden wir überall die Menge. Sie waren beinahe alle von derselben Sorte: abenteuerliche, schneidige, kaum noch weibliche, recht freche Frauenzimmer, fast durchweg Brünetten, mit mehr oder weniger Feuer, angezogen wie junge Burschen, in herausfordernden Phantasieuniformen, die ihnen ihre Liebhaber hatten machen lassen. Wenn sich schon die wirklichen und anständigen Offiziersdamen durch ein gewisses ganz besonderes Etwas von anderen Frauen abhoben, so war das noch mehr bei den Offiziersgeliebten der Fall. Diesen Soldatendirnen glich die Rosalba nicht im geringsten- Zunächst hatte man ein schlankes blasses Mädchen vor sich, mit auffällig reichem blondem Haar. Das war nichts weiter Verblüffendes. Sie besaß eines jener Kameengesichter, die durch ihre Gleichförmigkeit und Unbeweglichkeit gerade leidenschaftliche Gemüter stark erregen. Aber auch das ist nichts Besonderes. Alles in allem war sie gewiß eine schöne,Frau. Aber ihr Zauber auf die Männer hatte nichts mit der Schönheit zu schaffen. Der entquoll einer andern Quelle. Sie war ein Ungeheuer an Schamlosigkeit im Widerspruch zu ihrem Namen Rosalba und noch mehr zu ihrem Spitznamen: Pudika – die Keusche ...«
»Virgil hat sich auch den Keuschen genannt«, warf der ehemalige Abbé ein, der gern mit seiner lateinischen Bildung protzte, »was ihn nicht abgehalten hat, gewisse kleine Sanskulotterien zu schreiben!«

Montag, 16. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (13) - Hinter den Karten (4b) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Hinter den Karten

4b


Ihre Rivalin in spitzen Bemerkungen, Fräulein von Beaumont, beneidete sie darum. Wenn dies nur Heuchelei war, so war es der Gipfel der Verlogenheit. Zwang ihre trockene Natur sie dazu? Aber warum verfiel sie, die durch ihre Stellung und den spottsüchtigen Stolz ihres Wesens die leibhafte Unabhängigkeit war, auf die Verstellung? Wenn sie Karkoël liebte und von ihm geliebt wurde, warum verbarg sie es hinter Bosheiten, warum zerrte sie mit abtrünnigen, treulosen, verräterischen Witzworten das vergötterte Bild in den Staub? War das nicht der ärgste Hochverrat an der Liebe?
Mein Gott! Wer weiß? Vielleicht machte gerade das sie glücklich, Herr Doktor«, fuhr der Erzähler fort, und wandte sich dem Dr. Beylasset zu, der an ein Boule-Schränkchen gelehnt stand und auf dessen schönem kahlem Schädel das Kerzenlicht des Armleuchters widerspiegelte, den der Diener soeben zu seinen Häupten entzündet hatte, »hätte man die Gräfin Stasseville mit einem physiologischen Blick durchschaut, den die Moralisten haben sollten wie ihr Ärzte, dann wäre es sonnenklar, daß bei dieser Frau alles sich nach innen kehren, hineinkriechen mußte, wie die hortensienfarbene Linie, die ihre Lippen andeutete, die sie so stark aneinanderzupressen pflegte, wie ihre Nasenflügel, die zusammenfielen, statt sich zu weiten, und erstarrten, statt zu beben; wie ihre Augen, die sich zuweilen in die Augenhöhlen zurückzuziehen und ins Gehirn zu steigen schienen. Trotz ihrer sichtlichen Zartheit und einem körperlichen Leiden, dessen Spuren man in ihrem ganzen Wesen verspüren konnte wie das Geäder eines Risses in einer spröden Masse, war sie doch die verkörperte Willenskraft. An ihr merkte man tatsächlich, daß es im Innern des Menschen ein Elektrizitätszentrum gibt, die Wurzel unseres Nervensystems. Deutlicher als an ihr habe ich das an niemandem beobachtet. Der Strom ihres dämmernden Willens kreiste besonders machtvoll in ihren aristokratischen Händen, mit ihrem matten Weiß, den feinen Linien und dem Opalglanz ihrer Nägel. Allerdings glichen sie – durch ihre Magerkeit, durch das verästelte Netz ihrer bläulichen Adern und vor allem durch die eigentümliche Art der Bewegung, mit der sie nach den Dingen faßten – den fabelhaften Krallen, welche die Phantasie der alten Völker gewissen Ungeheuern mit weiblichen Gesichtern und Frauenbrüsten angedichtet hat. Wer sie sah, konnte nicht daran zweifeln, daß sie – als Weib – ein Gebilde war, wie es deren in allen Gebieten der Natur gibt, die aus Laune oder Trieb lieber den Grund als die Oberfläche der Dinge suchen, eines jener Wesen, die dazu bestimmt sind, geheimnisvolle Heimsuchungen zu haben, die ins Leben tauchen wie tüchtige Schwimmer und unter dem Wasserspiegel schwimmen, die wie Bergleute unter der Erde atmen. Begeistert für das Geheimnisvolle und Unergründliche schaffen sie tiefes Geheimnis über sich und lieben es bis zur Lüge, denn die Lüge ist ein doppeltes Mysterium, verdichteter Schleier, Dämmerung und Dunkel um jeden Preis.
Vielleicht lieben Naturen dieser Art die Lüge um der Lüge willen, wie man die Kunst um der Kunst willen liebt, wie die Herrenmenschen den Krieg lieben.« (Der Arzt neigte voll Ernst den Kopf zum Zeichen seiner Zustimmung.) »Sie glauben auch daran, Doktor! Ja, ich bin überzeugt, es gibt Seelen, die ein Glücksgefühl beim Lügen finden. Es liegt eine grausige, aber berauschende Seligkeit in dem Gedanken, daß man lügt und trügt; in dem Gedanken, daß man sich selber ganz allein kennt, daß man die Gesellschaft durch eine Komödie narrt, die dem Veranstalter den Hochgenuß der Menschenverachtung einbringt!«
»Aber das ist ja schrecklich, was Sie da sagen!« fiel die Baronin Mascranny mit dem Aufschrei empörter Ehrlichkeit ein.
Alle die zuhörenden Damen (und es war vielleicht manche Kennerin heimlicher Freuden darunter) hatten bei den letzten Worten des Erzählers einen leisen Schauer empfunden. Das konnte ich an der nackten Schulter der Gräfin Damnaglia erkennen, in deren nächster Nähe ich saß. Diese Art Schauer kennt jeder, und jeder hat ihn einmal empfunden. Dichterisch sagt man in solchen Augenblicken: Der Tod geht vorüber! War es damals die Wahrheit, die vorüberschwebte?
»Gewiß«, fuhr der Erzähler fort, »das ist schrecklich. Aber ist es nicht wahr? Die Naturen, die das Herz auf der Hand tragen, ahnen nicht, welche stillen Freuden die Heuchelei denen gewährt, die mit einer Maske über dem Gesicht zu leben und zu atmen vermögen. Auch die Wonnen der Hölle sind überirdisch. Himmlisch und höllisch besagt ja nichts weiter als den hohen Grad der Empfindungen. Genoß die Gräfin Stasseville solche satanischen Freuden? Ich will sie weder anklagen noch verteidigen. Ich erzähle nur, so gut ich kann, ihre Geschichte, die niemand genau gekannt hat, und ich versuche sie psychologisch zu begründen. Das ist alles.
Übrigens habe ich diese Seelenzergliederung damals durchaus nicht angestellt. Ich versuche sie jetzt erst, aus der Erinnerung, nach dem Bildnis, das sich von ihr meinem Gedächtnis eingeprägt hat wie ein scharfgeschnittenes Siegel in weichem Wachs.
Wenn ich diese Frau verstehe, so ist dies viel später geschehen. Ihr allmächtiger Wille – den ich erst durch die nachträgliche Betrachtung erkannt habe, seit die Erfahrung mich gelehrt, wie sehr der Körper die Gußform der Seele ist – hat ihr in stille Gewohnheiten eingeschlossenes Dasein nicht mehr bewegt und erregt, als eine Welle einen fest in seine Ufer gezwängten Salzsee aufrüttelt und zerwühlt.
Ohne das Erscheinen Karkoëls, dieses englischen Kolonialoffiziers, der seine Pension wohl oder übel in der kleinen beinahe englischen Normannenstadt verzehrte, hätte die gebrechliche blasse Spötterin, die man aus Scherz ›Frau Rauhreif‹ nannte, selber nie erfahren, welch gebieterischer Willen in ihrem Busen aus geschmolzenem Schnee (ein Wort von Fräulein Ernstine von Beaumont) herrschte, von dem gleichwohl – moralisch – alles abgeglitten war wie von dem härtesten Eisberg am Nordpol. Erfuhr sie mit einem Male, daß für eine Natur wie die ihrige stark empfinden so viel wie wollen heißt? Riß sie mit ihrem Willen einen Mann mit fort, der, wie es schien, nur noch das Spiel lieben sollte?
Wie hat sie es angefangen, vertraute Beziehungen zwischen ihm und sich anzuspinnen? Welche Empfindungen hatte sie bei seinem ersten Anblick? Außerhalb der großen Städte sind heimliche Liebschaften eine schwierige und gefährliche Sache.
Lauter Rätsel, die auf ewig Geheimnisse bleiben! Später sind so manche Vermutungen laut geworden; aber damals, gegen das Ende des Jahres 182*, ahnte noch niemand das geringste. Gleichwohl muß sich in jenen Zeiten in einem der stillsten Paläste der Stadt, in der das Kartenspiel fast alle Tage und alle Abende die Hauptsache war, hinter stummen Läden und gestickten Vorhängen in einem anscheinend klaren, vornehmen, kaum irgendwie verhüllten friedlichem Kreis ein langer Roman abgespielt hahen, den man für unmöglich gehalten hätte. Tatsächlich gab es einen Roman in diesem tadellos gehaltenen, so peinlichen, spöttischen, krankhaft kalten Leben, wo der Geist so sichtlich alles und das Gefühl nichts bedeutete. Der Roman war da und zerfraß unter dem Deckmantel des guten Rufes und der Heuchelei ein Leben, wie die Würmer den Leib eines Menschen zernagen, schon ehe er gestorben ist...«
»Welch gräßlicher Vergleich!« warf wiederum die Baronin von Mascranny ein. »Meine liebe Sybille hatte doch ein wenig recht, als sie von Ihrer Geschichte nichts wissen wollte. Sie haben heute abend wirklich garstige Einfälle!«
»Wünschen Sie, daß ich aufhöre?« fragte der Erzähler mit hinterhältiger Höflichkeit und der Schelmerei eines Mannes, der einmal erweckter Neugier sicher ist.
»Noch schöner!« rief die Baronin. »Begierig gemacht, sollen wir uns mit einer halben Geschichte begnügen!«
»Das wäre wirklich unangenehm«, meinte Fräulein Laura von Alzanne, eine ihrer schönen blauschwarzen Schmachtlocken aufrollend, das verführerischste Bild wohliger Trägheit, in zierlicher Erschrockenheit über ihre bedrohte lässige Ruhe.
»Und obendrein eine Fopperei!« fügte der Arzt heiter hinzu. »Geradeso wie wenn ein Barbier, nachdem er einem die Hälfte des Gesichtes rasiert hat, sein Messer zuklappen und erklären wollte, er könne unmöglich fortfahren.«
»Ich fahre also fort«, nahm der Erzähler von neuem das Wort, mit der Einfachheit der höchsten Kunst, die vor allem darin besteht, sich gut zu verbergen... »Im Jahre 182* verweilte ich im Haus eines meiner Oheime, des Bürgermeisters jener kleinen Stadt, die ich Ihnen als den Leidenschaften und Abenteuern so feindlich geschildert. Es war ein Feiertag, das Namensfest des Königs, der Tag des heiligen Ludwig, der von den geflüchteten Royalisten, jenen politischen Quietisten, die das mystische Wort reiner Liebe erfunden hatten: ›Vive le roi, quand même!‹, stets feierlich begangen wurde. Gleichwohl tat man in diesem Salon doch nichts anderes als an allen übrigen Tagen. Man spielte Karten. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich von mir spreche; es ist recht geschmacklos, aber es muß sein.
Ich war noch ein Kind. Aber dank einer ungewöhnlichen Erziehung ahnte ich mehr von der Welt und ihren Leidenschaften, als man in diesem Alter gewöhnlich davon weiß. Ich glich weniger einem der linkischen Gymnasiasten, die außer in ihre Schulbücher in noch nichts hineingeschaut haben, eher einem der neugierigen jungen Mädchen, die ihre Kenntnisse dadurch vermehren, daß sie an den Türen lauschen und hinterher über das nachgrübeln, was sie erhascht haben. An jenem Abend drängte sich die ganze Stadt im Salon meines Onkels, und wie immer schied sich die Gesellschaft in zwei Teile, in einen, der sich dem Spiel hingab, und in die jungen Mädchen, die nicht spielten. Diese jungen Mädchen entzückten mit ihrer zwecklosen Frische – die bei fast allen für die Katakomben der Ehelosigkeit bestimmt war – meine lüsternen Augen. Vielleicht nur eine durfte, kraft ihres Reichtums, auf das Mirakel einer Liebesheirat hoffen: Fräulein von Stasseville. Ich war nicht alt genug und doch wieder zu alt, um mich dieser jugendlichen Schar beizugesellen, deren Geflüster von Zeit zu Zeit von einem hellen oder halbunterdrückten Lachen unterbrochen ward. In einem Anfall jener brennenden Schüchternheit, die zugleich Qual und Wolllust ist, hatte ich mich geflüchtet und mich zu dem König der Karten gesetzt, zu Marmor von Karkoël, in den ich sinnlos verliebt war.
Freundschaft konnte zwischen mir und ihm nicht bestehen, aber die Herzen haben ihren Geheimkult. Man findet nicht selten bei noch nicht Entwickelten eine zärtliche Bewunderung, die durch nichts Ausgesprochenes, nichts Sichtbares gerechtfertigt wird, die eben nur beweist, daß junge Leute einen Häuptling brauchen, genau wie die Völker, die trotz ihres Alters immer ein wenig Kinder bleiben. Mein Häuptling wäre Karkoël gewesen. Er kam häufig zu meinem Vater, der wie alle Herren der Gesellschaft in *** ein starker Spieler war. Oft nahm er auch an meinen und meiner Brüder körperlichen Übungen teil, wobei er Kraft und Gewandtheit entwickelte, die ans Wunderbare grenzten.
Wie der Herzog von Enghien sprang er spielend über einen siebzehn Fuß breiten Fluß. Allein das hatte natürlich auf uns Jungen, die wir zum Kriegshandwerk erzogen wurden, große Verführungskraft. Aber mich zog noch etwas anderes Geheimnisvolles an. Offenbar wirkte er auf mich durch die Macht, die Sonderlinge auf Sonderlinge haben, denn das Alltägliche schützt vor dem Höheren wie ein Sandsack vor Gewehrkugeln. Ich kann gar nicht sagen, welche Phantasien ich um die Stirn wob, die wie aus Terrakotta geformt schien; um seine düsteren Augen mit den schmalen Lidern; an alle die Spuren, die unbekannte Leidenschaften im Gesicht des Schotten hinterlassen hatten, gleich den Malen des Henkers auf den Gliedern eines Geräderten; und vor allem um seine Hände, diese überfeinen, vollendet gepflegten Hände, die die Karten in Schwingungen brachten wie Flammenkreise.
An jenem Abend war der Whisttisch in der Ecke aufgestellt, und die Gruppe der Spieler hob sich kaum ab in dem Dämmerlicht, das sie beleuchtete. Es war das Whist der Auserlesenen. Der Methusalem der Edelleute, Herr von Saint-Alban, war der Partner Karkoëls. Die Gräfin von Stasseville hatte zu dem ihrigen den Chevalier von Tharsis erwählt, der vor der Revolution Offizier im Regiment der Provence gewesen und Ritter des Heiligen Ludwig-Ordens war, einer jener alten Kavaliere, die es heute nicht mehr gibt, Männer, die zwei Jahrhunderte überbrückten, ohne deshalb Riesen zu sein.
Da, während des Spieles und infolge einer Bewegung, die die Gräfin machte, um ihre Karten aufzuheben, geschah es, daß eine der Facetten des Brillanten, den sie am Finger trug, in der Dämmerung, die den grünen Tisch noch grüner machte, einen jener Strahlen auffing, die menschliche Kunst unmöglich hervorbringen kann, und einen so blendenden Funken entzündete, daß es die Augen schmerzte wie ein Blitz. ›Oh, was funkelt da?‹ fragte der Chevalier von Tharsis mit seiner Stimme, zitterig wie seine Beine.
›Und wer hustet denn so?‹ fragte zu gleicher Zeit der Marquis von Saint-Alban, den ein entsetzlich dumpfer Husten aus seiner Spielversunkenheit aufschreckte. Die Worte galten Hermine von Stasseville, die an einem Kragen für ihre Mutter stickte.
›Mein Brillant und meine Tochter!‹ antwortete die Gräfin von Stasseville unter einem Lächeln ihrer dünnen Lippen auf beide Fragen.
›Mein Gott, ist Ihr Stein schön!‹ hüstelte der Chevalier weiter. ›Ich habe ihn noch nie so blitzen sehen wie heute abend. Ein Blinder muß ihn sehen.‹
Während dieser Reden hatte man die Partie beendet. Der Chevalier ergriff die Hand der Gräfin: ›Gestatten Sie mir!‹ sagte er.
Die Gräfin streifte langsam ihren Ring vom Finger und warf ihn auf den Spieltisch. Der ehemalige Emigrant betrachtete ihn genau, indem er ihn wie ein Kaleidoskop drehte. Aber auch das Licht hat seine Launen und Zufälle. Es spielte mit den Facetten, ohne ihnen ein zweites Mal das Feuer zu entlocken, das ihm eben urplötzlich entquollen war. Hermine erhob sich und stieß den Fensterladen zurück, damit das Licht voller auf den Ring ihrer Mutter falle und man seine Schönheit ganz würdigen könne. Dann setzte sie sich wieder, und den Arm auf den Tisch gestützt, betrachtete sie gleichfalls den feingeschliffenen Stein. Da kam der Husten wieder, ein pfeifender Husten, der ihr das Blut in das feuchtschimmernde reine Perlmutter ihrer blaugesternten Augäpfel trieb.
›Wo haben Sie sich nur diesen abscheulichen Husten geholt, mein liebes Kind?‹ fragte der Marquis von Saint-Alban, den das junge Mädchen mehr beschäftigte als der Ring, der lebende Edelstein mehr als der steinerne.
›Ich weiß nicht, Herr Marquis‹, erwiderte Hermine mit dem Leichtsinn der Jugend, die an kein Ende des Lebens glaubt. ›Vielleicht auf einem Abendgang am Teich in Stasseville.‹
Die Gruppe, die diese fünf Menschen bildete, kam mir mit einem Male ganz seltsam vor. Durch das offene Fenster flutete das Abendrot herein. Der Chevalier betrachtete noch immer den Brillanten, der Marquis das junge Mädchen, die Gräfin Herrn Karkoël, der, mit den Gedanken offenbar woanders, seine Carreau-Dame anstarrte. Aber am meisten war ich betroffen über Hermine. Die Rose von Stasseville war blaß, blasser als ihre Mutter. Der Purpur des sterbenden Tages tropfte über ihre bleichen Wangen, so daß ihr Haupt wie das eines Opfertieres aussah, und ein Spiegel, der Blutflecke zu haben schien, fing dieses Bild auf. Da plötzlich durchlief es mich eiskalt, und durch – ich weiß nicht was für – eine Gedankenverknüpfung packte mich unversehens eine unwillkürliche und nervenerschütternde Erinnerung mit der unwiderstehlichen rohen Gewalt solcher Einfälle, die das erregte Gehirn vergewaltigen und ungeheuerlich befruchten.
Etwa vierzehn Tage vordem hatte ich eines Morgens Herrn von Karkoël besucht. Ich fand ihn allein. Es war noch ganz früh. Von den Spielern, die am Vormittag zu ihm zum Spiel zu kommen pflegten, war noch keiner da. Als ich bei ihm eintrat, stand er vor seinem Schreibtisch, augenscheinlich mit einer sehr schwierigen Sache beschäftigt, die außerordentliche Aufmerksamkeit und große Handfertigkeit erheischte. Sein Gesicht sah ich nicht; er hielt den Kopf vorgebeugt. Zwischen den Fingern der rechten Hand hielt er ein Fläschchen mit schwarzem schimmerndem Inhalt. Es sah aus wie eine abgebrochene Dolchspitze. Daraus träufelte er eine Flüssigkeit in die winzige Öffnung eines Ringes. ›Zum Teufel, was machen Sie da?‹ fragte ich ihn, näher tretend. Da rief er mir in herrischem Ton zu: ›Kommen Sie nicht näher! Bleiben Sie, wo Sie sind! Es könnte mir die Hand zittern, und was ich mache, ist schwieriger und gefährlicher, als auf vierzig Schritt Entfernung auf einen Korkpfropfen mit einer platzenden Pistole zu schießen.‹ Das war eine Anspielung auf einen Vorfall, der sich kurz zuvor ereignet hatte. Wir hatten uns damit belustigt, mit den schlechtesten Pistolen zu schießen, die wir auftreiben konnten, damit sich zeigen sollte, wer der beste Schütze sei. Dabei war eins von den alten Dingern zerplatzt und hätte uns beinahe die Schädel eingeschlagen.
Schließlich hatte er die Tropfen der mir unbekannten Flüssigkeit aus dem langen Schnabel seines Fläschchens in den Ring einfließen lassen. Er schloß ihn und warf ihn in eines der Fächer seines Schreibpultes, offenbar in der Absicht, ihn schnell verschwinden zu lassen. Jetzt erst bemerkte ich, daß er eine Maske aus Glas trug. ›Seit wann‹, fragte ich leichthin, beschäftigen Sie sich mit Chemie? Und ist das ein Schutzmittel gegen Spielverluste, was Sie da gebraut haben?‹ ›Ich braue nichts‹, gab er mir zur Antwort, ›aber das da drinnen‹ – er wies auf das schwarze Fläschchen –, ›das ist ein Allerweltsmittel!‹ Und mit dem grimmigen Humor des Landes der Selbstmörder, seines Vaterlandes, fügte er hinzu: ›Die gezeichnete Karte, mit der man die Entscheidungspartie gegen das Schicksal unfehlbar gewinnt !‹
›Was ist das für Gift?‹ erkundigte ich mich, indem ich nach dem Fläschchen griff, dessen sonderbare Form mich wißbegierig machte.
›Das wunderbarste indische Gift!‹ erwiderte Karkoël, indem er die Maske ablegte. ›Es bloß einzuatmen, kann schon den Tod bringen, und wie man es auch zu sich nimmt, man stirbt, wenn auch nicht sofort. Es wirkt ebenso sicher wie unvermerkt. Es nagt ganz langsam, immerfort und rettungslos an den Wurzeln des Lebens. Indem es sie durchdringt, ruft es an der Körperstelle, auf die es sich legt, Krankheiten hervor, deren äußere Merkmale allbekannt sind und keinen Verdacht aufkommen lassen, und wenn ihn wer erhöbe, jeden Verdacht niederschlagen würde. Die indischen Fakire sollen es aus seltenen, nur ihnen bekannten Stoffen herstellen, die man auf der Hochebene von Tibet findet. Es zerreißt die Fäden des Lebens nicht, es löst sie leise. Das entspricht so recht jenen gelassenen weichlichen Gemütern, die den Tod lieben wie den Schlaf und in ihn versinken wie in ein Pfühl von Lotosblumen. Übrigens ist es höllisch schwer, sich dieses Gift zu verschaffen, ja fast unmöglich. Sie ahnen nicht, was ich gewagt habe, um das Fläschchen von einer Frau zu erlangen, die mich liebte, wie sie mir sagte. Ich habe einen Freund, Offizier in der indischen Armee wie ich und zugleich mit mir von dort zurückgekehrt. Er war sieben Jahre dort. Er hat dieses Gift gesucht mit einer tollen Leidenschaft, wie eben nur ein Engländer hinter etwas her ist. Sie verstehen das vielleicht später einmal, wenn Sie mehr erlebt haben. Es ist ihm aber nicht gelungen, es aufzutreiben. Elende Nachahmungen waren es, die er mit Gold aufwog. Nun hat er mir in seiner Verzweiflung aus England geschrieben und mir einen seiner Ringe geschickt, mit der flehentlichen Bitte, ein paar Tropfen dieser tödlichen Göttertropfen darein zu träufeln. Und dabei haben Sie mich eben angetroffen.‹
Seine Erzählung war mir nicht verwunderlich. Die Menschen haben nun einmal die Neigung, daß sie ohne irgendwelche schlimmen Pläne, ohne Mordgedanken, gern Gift im Haus haben, genauso wie man gern eine Waffe besitzt. So ein Vernichtungsmittel hütet man wie einen Schatz, wie ein Geiziger sein Gold. Mancher sagt sich: ›Wenn ich verschwenden wollte!‹ Hier wie dort dieselbe kindische Liebhaberei! Unerfahren, wie ich damals noch war, fand ich es ganz natürlich, daß Karkoël, der in Indien gewesen war, ein seltenes Gift besaß, das es anderswo gar nicht gab, und daß er unter seinen Waffen und Seltsamkeiten in seinem Feldkoffer auch das Fläschchen aus schwarzem Stein mitgebracht hatte, dieses nette Spielzeug des Todes, das ich da bei ihm sah. Nachdem ich es hin und her gewendet hatte, dieses hübsche Dingelchen, glatt wie Achat, das vielleicht eine indische Fürstin zwischen den Topaskugeln ihrer Brust getragen, legte ich es in eine Schale auf dem Kamin und dachte nicht mehr daran.
Merkwürdig, jenes Fläschchen kam mir plötzlich wieder in den Sinn. Herminens leidendes Gesicht, ihre Blässe, ihr Husten, der offenbar aus einer todkranken Lunge hervordrang, der Ring, der durch einen geheimnisvollen Zufall gerade in dem Augenblick, wo das junge Mädchen hustete, so seltsam aufblitzte wie das Frohlocken eines Mörders, die plötzlich wieder lebendig gewordene Erinnerung an einen längst vergessenen Vorfall, alles das durchflutete mein Gehirn wie ein phantastischer Strom. Daß sich in mir das Vergangene und Gegenwärtige verknüpfte, geschah unwillkürlich, unbegründet, wahnwitzig. Mir schauderte vor meinem eigenen Gedanken. Und so bemühte ich mich, ihn zu unterdrücken, das flackernde Irrlicht in mir auszulöschen, das sich in mir entzündet und meine Seele durchzuckt hatte wie der Blitz jenes Brillanten, der über das grüne Tuch des Spieltisches gefahren war. Um meinen Entschluß zu stärken und ihm die tolle und verbrecherische Eingebung eines Augenblicks zu unterjochen, betrachtete ich aufmerksam Marmor von Karkoël und die Gräfin von Stasseville.
Er wie sie gaben mir durch Haltung und Miene die Antwort, daß das, was ich zu denken gewagt, unmöglich sei. Marmor war noch immer Marmor. Er fuhr fort, seine Carreau-Dame zu betrachten, als sei sie das Sinnbild seiner letzten Liebe, der endgültigen, der des ganzen Lebens. Und die Gräfin? Sie trug auf der Stirn, im Blick und um die Lippen die Ruhe, die sie nie verlor, selbst wenn sie eine ihrer Bosheiten entsandte, denn ihr Witz glich einer Kugel, der einzigen Waffe, die leidenschaftslos tötet, während hingegen der Degen die Leidenschaft der Hand teilt. Er und sie, sie und er, beide waren Abgründe nebeneinander, nur war der eine, Karkoël, finster und schwarz wie die Nacht, und der andere, diese blasse Frau, hell und unerforschlich wie der Weltenraum. Noch immer ruhten ihre gleichgültigen Augen mit ihrem immer unwandelbaren Glanz auf ihrem Gegenüber. Nur, als der Chevalier von Tharsis kein Ende fand in der Betrachtung des Ringes, der das Geheimnis umschloß, das ich so gern ergründet hätte, da nahm sie aus ihrem Gürtel einen Strauß Reseden und sog ihren Duft mit einer Sinnlichkeit ein, der mich an einer Frau überraschte, der die verstandesferne Wollust etwas Fremdes zu sein schien. Ihre Augen schlossen sich, nachdem sie sich in unsagbarer Verzückung verdreht hatten, und mit heißer Gier erfaßten ihre farblosen schmalen Lippen einige Stengel der duftenden Blumen, die ihre Zähne zermalmten, während die sich wieder öffnenden Augen voll wilder Anbetung an Karkoël hingen. War das ein Zeichen des gleichen Sinnes, eine Abmachung, wie Liebende sie unter sich pflegen, dieses stumme Zerbeißen und Verzehren der Blumen? Ehrlich gesagt, ich glaubte es. Dann, als der Chevalier den Ring genug bewundert hatte, steckte sie ihn ruhig wieder an ihren Finger, und das Whist nahm seinen Fortgang, dumpf, lautlos und düster, als hätte nichts es je unterbrochen.«
Hier hielt der Erzähler wiederum ein. Er hatte es nicht mehr nötig, sich zu beeilen. Er hielt uns alle in den Klauen seiner Erzählung. Vielleicht lag der Reiz seiner Erzählung überhaupt in der Art, wie er sie vortrug. Als er schwieg, vernahm man in der Stille des Salons das Ein- und Ausatmen der Anwesenden. Ich, der ich die Blicke über meinen Alabasterwall, den Nacken der Gräfin Damnaglia, hinübersandte, konnte sehen, wie die Erregung sich in verschiedenen Graden auf allen Gesichtern malte. Unwillkürlich suchte ich das der jungen Sibylle, des scheuen Kindes, das sich bei den ersten Worten der Erzählung aufgebäumt hatte. Gern hätte ich die flammende Angst in ihren schwarzen Augen zucken sehen, bei denen ich immer an den düsteren und verhängnisvollen Canale Orfano in Venedig denken mußte, denn mehr als ein Herz wird in ihnen ertrinken. Aber sie saß nicht mehr auf dem Sofa ihrer Mutter. Aus Bange um das, was nachkommen mochte, hatte die besorgte Mutter ihrer Tochter wohl ein Zeichen gegeben, rasch zu verschwinden, und sie war hinausgegangen.
»Und was«, fuhr der Erzähler fort, »was war imstande, mich so stark zu erregen und sich in mein Gedächtnis einzuätzen wie eine Radierung in die Platte? In der Tat, die Zeit hat von dem Eindruck dieses Erlebnisses keine einzige Linie verwischt. Noch sehe ich Karkoëls Gesicht und die Miene der Gräfin, deren kristallisierte Ruhe für einen Augenblick unter dem Duft und Saft der Reseden schmolz, die sie wie mit einem Wollustschauer einsog.
Alles das ist in mir verblieben, und Sie werden erfahren, warum. Jene Vorgänge, deren innerer Zusammenhang mir nicht recht klar war, jene Vorgänge, die ich unter Selbstvorwürfen nur im undeutlichen Licht einer Ahnung durchschaute, in deren wirren Umrissen Mögliches neben ganz Unbegreiflichem lag, wurden später ein wenig mehr aufgehellt, genügend, um mir alles klarzumachen.
Ich habe Ihnen wohl schon erzählt, daß ich ziemlich spät in das Gymnasium kam. Es waren die beiden letzten Jahre meiner Erziehung, die ich dort verbrachte, ohne daß ich während dieser Zeit meine Heimat wiedersah. So erfuhr ich nur durch die Briefe der Meinen den Tod der Hermine von Stasseville und daß sie einer schleichenden Krankheit erlegen sei, von der niemand eine Ahnung gehabt hatte, bis ganz zuletzt, wo sie unheilbar war. Bei dieser Nachricht, die man mir ohne jeden näheren Bericht mitteilte, erstarrte mein Blut genauso wie damals im Salon meines Onkels, als ich zum erstenmal jenen Husten hörte, der nach Tod klang und urplötzlich in mir so schreckliche Ahnungen erweckte. Erfahrene Seelenkenner werden mich verstehen, wenn ich sage, daß ich auch nicht eine Frage wagte über das rasche Hinscheiden des jungen Mädchens, das der Fürsorge ihrer Mutter und den schönsten Erwartungen so jäh entrissen worden war. Ich dachte in zu schmerzlicher Weise darüber, um mit irgend jemand davon zu sprechen. Wieder zu Hause fand ich die Stadt *** sehr verändert. In wenigen Jahren verändern sich die Städte wie die Frauen; man erkennt sie oft kaum wieder. Es war nach 1830. Seit der Durchreise Karls X., der sich in Cherbourg einschiffte, lebten die meisten adeligen Familien, die ich während meiner Kindheit gekannt hatte, zurückgezogen in den nahen Schlössern. Die politischen Ereignisse hatten diese Familien schwer getroffen und aller ihrer Hoffnungen beraubt. Die kleine Stadt, der Schauplatz meiner Erzählung, war wie ausgestorben mit ihren verschlossenen Fensterläden und Haustüren, die sich nicht mehr öffneten. Die Julirevolution hatte die Engländer erschreckt. Sie hatten die Stadt verlassen, nachdem das Leben und Treiben daselbst durch den Umsturz einen so argen Stoß erhalten hatte.
Meine erste Sorge war, danach zu fragen, was aus Herrn Marmor von Karkoёl geworden sei. Man gab mir den Bescheid, er wäre im Auftrag seiner Regierung wieder nach Indien gegangen. Der mir das mitteilte, war zufällig der Chevalier von Tharsis, also einer der vier Partner jener berühmten (zum mindesten für mich berühmten) ›Brillantenpartie‹. Wie er mir das erzählte, kam es mir vor, als schaue er mich an wie einer, der näher befragt werden will, und fast unwillkürlich – denn die Seelen verstehen sich, ehe sich der Wille einmengt – stellte ich die Frage: »Und Frau von Stasseville?‹
»Sie wußten also etwas?« entgegnete er geheimnisvoll, als hätten uns hundert Ohren zugehört, während wir doch ganz allein waren. »Nein, nein«, erklärte ich, »ich weiß von gar nichts.« Er fuhr fort: »Sie ist an der Schwindsucht gestorben wie ihre Tochter, einen Monat nach der Abreise dieses Satans Marmor von Karkoёl.« ›Warum diese genaue Zeitangabe ?‹ fragte ich. ›Steht Karkoël im Zusammenhang damit?‹
›Also wissen Sie wirklich nichts ?‹ antwortete er. ›So will ich erzählen, mein Lieber. Offenbar war sie seine Geliebte. Wenigstens munkelte man das, als man noch leise davon sprach. Jetzt wagt man gar nicht mehr, davon zu reden. Sie war eine Erzheuchlerin, diese Gräfin. Sie war es, wie andere blond oder braun sind. Sie war die geborene Komödiantin. Darum handhabte sie die Lüge so vollendet, daß sie fast zur Wahrheit ward. So einfach und natürlich, unbefangen und ungezwungen war sie in ihrem Lug und Trug.
Trotz dieser Verstellung, die so gründlich war, daß man sie als solche erst in den allerletzten Zeit erkannte, liefen Gerüchte um, die so entsetzlich waren, daß selbst ihre Verbreiter Fragezeichen hinter sie setzten. Danach wäre der Schotte, der nur die Karten zu lieben schien, nicht bloß der Liebhaber der Gräfin gewesen, die ihm – als echte Teufelin – ihre bösen Bemerkungen anhing wie jedem anderen unter uns, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Mein Gott, auch das ginge noch, aber das andere! Er wäre nicht nur der Kartenkönig, sagte man, er wäre der Herzenskönig der ganzen Familie!
In der Tat: die arme liebe Hermine betete ihn im stillen an. Fräulein Emestine von Beaumont kann Ihnen davon erzählen, wenn Sie es wollen. Er war ihr Dämon. Liebte er sie? Liebte er die Mutter? Liebte er beide? Oder keine? War ihm die Gräfin nur gut zum Spiel? Wer weiß das? Hier ist die Geschichte sehr dunkel. Man weiß nur soviel, daß die Mutter, deren Seele ausgedörrt war wie ihr Körper, die Tochter gehaßt hat, und daß dieser Haß nicht zum wenigsten an deren Tod schuld ist.‹
›Sagt man das?‹ warf ich ein, voll Entsetzen darüber, daß meine von mir selbst angezweifelte Vermutung doch richtig gewesen war. ›Aber wer kann es wissen? Karkoël war kein eitler Schwätzer. Er war der letzte, der vertraute Dinge verraten hätte. Nie hat man etwas über sein Leben erfahren. Wie sollte er gerade hinsichtlich der Gräfin von Stasseville plauderhaft gewesen sein?‹
›Gewiß!‹ erwiderte mir der Chevalier, ›diese beiden Heuchler hielten fest zueinander. Er ist gegangen, wie er gekommen war, ohne daß einer von uns hätte sagen können: Er war mehr als Spieler. Aber so vollkommen in Ton und Haltung die makellose Gräfin auch war, die Kammerfrauen, für die es bekanntlich keine Heldinnen gibt, haben doch erzählt, daß sie sich mit ihrer Tochter stundenlang einschloß und daß sie, eine bleicher als die andere, wieder zum Vorschein kamen, die Tochter obendrein mit vom Weinen geröteten Augen.‹ ›Haben Sie keine anderen Beweise, keine anderen Anhaltspunkte, Chevalier?‹ sagte ich, um ihn anzutreiben und noch klarer zu sehen. ›Sie wissen doch, was das Gerede der Dienstboten heißen will. Von Fräulein von Beaumont könnte man wahrscheinlich mehr erfahren.‹
›Fräulein von Beaumont!‹ rief Tharsis. ›Sie mochten sich beide nicht leiden, sie und die Gräfin, denn ihr Geist war von derselben Sorte! Und so spricht die Überlebende von der Toten nur mit bösen Blicken und schändlichen Andeutungen. Zweifellos will sie den Glauben an die entsetzlichsten Dinge erwecken. Bestimmt weiß sie nur von einem, was aber nicht entsetzlich ist, von der Liebe Herminens für Karkoel.‹
›Das ist nicht viel, Chevalier‹, fing ich wieder an. ›Wenn man alles glauben wollte, was junge Mädchen einander anvertrauen, dann wäre jede Backfischschwärmerei eine große Leidenschaft. Und Sie werden mir zugestehen, daß ein Mann wie Karkoel alles an sich hatte, um eine jugendliche Schwärmerei zu erwecken.‹
›Das ist wahr‹, meinte der alte Tharsis, ›aber man hat mehr Beweise als bloß Mädchenbekenntnisse. Erinnern Sie sich? Aber nein, Sie waren noch zu jung! Nun, in der hiesigen Gesellschaft war es sattsam aufgefallen, daß die Gräfin von Stasseville, die sonst nichts liebte ... (Blumen nicht mehr als alles andere; ich wüßte wirklich nicht, welche Vorliebe man ihr nachsagen könnte), daß die Gräfin gegen Ende ihres Lebens öfter einen Strauß Reseden im Gürtel trug und beim Spiel und auch sonst an den Stengeln kaute, die sie davon abbrach. Das war so auffällig, daß Fräulein von Beaumont ihre Freundin Ernestine einmal spöttisch gefragt hat, seit wann ihre Mutter Vegetarianerin wäre.‹
›Ja, an diese Reseden erinnere ich mich‹, sagte ich. Und wirklich, die wilde, grausam lüsterne Art, mit der die Gräfin während jener Whistpartie, die ein Erlebnis für mich war, an den Blumen roch und nagte, hatte ich keineswegs vergessen.
›Hören Sie‹, fuhr der alte Herr fort, ›diese Reseden waren aus einem prächtigen großen Blumentopf, der im Salon der Gräfin stand, seitdem sie keine Feindin mehr vom Blumenduft war. Ehedem hatten wir beobachtet, daß sie ihn nicht ertragen konnte, und zwar, weil sie während ihres letzten Wochenbettes beinahe an einem Strauß Tuberosen gestorben wäre, wie sie uns einmal in ihrer gleichgültigen Art erzählt hat. Mit einem Male liebte sie den Blumenduft wahnsinnig. In ihrem Salon war es zum Ersticken, wie in einem Treibhaus, in dem man zu Mittag noch nicht die Fenster geöffnet hat. Zwei oder drei zartangelegte Damen gingen aus diesem Grund schließlich nicht mehr zu ihr. So änderte sich manches! Man schrieb das ihren Nerven und ihrer Krankheit zu. Wie sie dann tot war und man die Wohnung verschließen mußte – denn der Vormund des kleinen Stasseville hat diesen kleinen Schwachmatikus, der nun so reich ist, wie ein dummer Kerl es nur werden kann, in das Gymnasium gesteckt – da wurden die Reseden aus dem Topf in den Garten umgepflanzt –, und bei dieser Gelegenheit fand man unten am Boden, was glauben Sie wohl?‹«
Den Erzähler unterbrach hier der unverfälschte Aufschrei einiger Damen, die sonst wahrlich dem Natürlichen so fern wie möglich standen. Seit langem hatten sie mit der Natur nichts zu tun gehabt. Die anderen, die sich mehr in der Gewalt hatten, reckten sich nur auf, aber willenlos.
»Nicht gerade das passendste Versteck!« scherzte der leichtfertige, immer anzügliche liebenswürdige Marquis von Gourdes, einer von denen, die noch in ihrem Sarg Witze machen.
»Von wem war das Kind?« fuhr der Chevalier fort. »Wie kam es dorthin? War es eines natürlichen Todes gestorben? Oder getötet worden? Alle diese Fragen vermochte niemand zu beantworten. Man munkelte das Schrecklichste. Es gibt wohl nur zwei Menschen auf der Welt, die den wirklichen Vorfall kennen, die aber vermutlich nie davon reden werden. Der eine ist Karkoel, der wieder nach Indien gegangen ist, samt all dem Geld, das er uns im Whist abgenommen hatte...«
»Und der andere?« fragte ein Neugieriger.
»Ja, der andere!« wiederholte der Chevalier, mit den Augen zwinkernd.
»Der andere wird gleich gar nichts sagen. Es ist der Beichtvater der Gräfin. Der dicke Abbé Trudaine, jetzt Bischof zu Bayeux.«
»Chevalier«, unterbrach ich ihn, »ich bezweifle, daß sich die Gräfin von Stasseville ihm anvertraut hat. Eine so verschlossene und verschwiegene Seele sprengt selbst der nahende Tod nicht auf. Diese Frau, würdig des Cinquecento, ist gestorben, wie sie gelebt hat. Kein Pfaffe hat Macht über sie gehabt. Sie hat ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Hätte sie es dem Geistlichen geoffenbart, dann hätte man in der Jardiniere sicherlich nichts gefunden.«
Der Erzähler war mit seiner Geschichte zu Ende. Mehr wußte er nicht. Alle Anwesenden verharrten in erregtem Schweigen. Ein jeder hing seinen Gedanken nach, indem er den Torso nach seinem Geschmack und nach dem Grad seiner Phantasie zu ergänzen suchte.
»Ein Roman hinter den Karten!« meinte die alte Baronin von Saint- Alban, eine leidenschaftliche Glücksspielerin. »Übrigens haben Sie recht, Chevalier. Halb Gezeigtes regt mehr auf als ganz Enthülltes.«
»Der Mantel der Phantasie über der nackten Wirklichkeit!« bemerkte der Doktor nachdenklich. »Es ist mit dem Leben wie mit der Musik«, sagte Sophie von Revistal schwärmerisch. »Pausen wirken tiefer als Akkorde!«
Sie schaute nach der hochmütigen Gräfin von Damnaglia, die noch immer am goldgezierten Elfenbeingestell ihres Fächers nagte. Sagte ihr das stahlblaue Auge ihrer Busenfreundin etwas? Ich vermochte es nicht zu sehen, aber ihr Nacken, auf dem leichter Schweiß perlte, verriet Erregung. Man behauptete auch von der Gräfin, daß sie Leidenschaft und Glück zu verbergen verstehe, ganz wie die Frau von Stasseville.
»Sie haben mir die Freude an meinen Lieblingsblumen auf immerdar verdorben!« rief die Baronin von Mascranny dem Erzähler zu, und, eine harmlose Rose, die sie am Gürten getragen, zerpflückend, fügte sie versonnen hinzu: »Nie werde ich wieder Reseden tragen!«

Samstag, 7. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (13) - Hinter den Karten (4a) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Hinter den Karten

4a

Wenn ich heute auf diesen ausführlich geschilderten Spielabend, der Karkoëls mehrjährigen Aufenthalt in *** einleitete, zurückdenke und mir seine an sich belanglosen und unbedeutenden Einzelheiten vergegenwärtige– was hatte sich weiter abgespielt als eine alltägliche Partie Whist? –, so erscheint er mir doch, an der Kette späterer Ereignisse, sehr merkwürdig und folgenschwer.
Die vierte Person an jenem Whisttisch, die Gräfin von Stasseville, verlor ihr Geld mit der aristokratischen Gleichgültigkeit, die sie allerwegen zur Schau trug. Vielleicht entschied dieses erste Spiel mit dem Fremdling ihr ganzes weiteres Schicksal. Das Leben ist ja so seltsam verknüpft. Damals nahm sich niemand die Mühe, die Gräfin zu beobachten. Das Klappern der Spielmarken und das Knittern der Karten ließ nichts anderes aufkommen. Es hätte sich wohl gelohnt, wenn man in die Seele dieser Frau hätte blicken können, die uns allen wie ein scharfkantiges Stück Eis erschien, sooft man sich Gedanken über sie machte. Wer weiß, ob das, was man sich später entsetzt zuraunte, nicht schon an jenem Abend seinen Anfang genommen hat?
Die Gräfin von Stasseville war eine Dame von vierzig Jahren, von sehr zarter Gesundheit, bleich und schmächtig, aber von einer Blässe und Schlankheit, die ganz außergewöhnlich war. Ihre bourbonische, etwas zusammengedrückte Nase, ihr kastanienbraunes Haar, ihre feinlinigen Lippen, alles das verriet edle Abstammung und einen stolzen Sinn, der wohl leicht in Grausamkeit umschlagen konnte. Ihre schwefelgelbe Hautfarbe war krankhaft. Aber trotz ihrer Blässe, trotz ihrer Lippen von der Farbe verwelkter Hortensien, oder vielmehr gerade in diesen kaum sich abzeichnenden schmalen und wie eine Bogensehne bebenden Lippen konnte der Menschenkenner ein erschreckliches Merkmal von verborgener Willenskraft und unterdrückter Leidenschaft wahrnehmen. Die Hinterländler freilich erkannten das nicht. Sie sahen in der harten dünnen Lippenlinie höchstens die mörderische Sehne, auf der immerdar der Pfeil einer bissigen Bemerkung des Abschnellens harrte.
Goldgrün schillernde Augen – die Gräfin führte wie in ihrem Wappen so auch in ihrem Blick goldene Sterne in grünem Feld – krönten ihr Antlitz gleich zwei Fixsternen, aber ohne ihm Wärme zu verleihen. Diese beiden goldgesprengelten Smaragde, gefaßt vom stumpfen Blond der Wimpern und Brauen, wirkten unter der gewölbten Stirn so kühl und kalt, als hätte man sie eben aus dem Fisch des Polykrates herausgeholt. Nur ihres Spottes glitzernder Geist, scharf wie eine Damaszenerklinge, entzündete zuweilen in dem vereisten Blick zuckende Blitze. Die Frauen haßten den Witz der Gräfin, als wäre er ihre Schönheit gewesen. Und wahrlich, er war ihre Schönheit! Ähnlich dem Fräulein von Retz – von der uns der Kardinal ein literarisches Bildnis geschenkt hat wie ein Liebhaber, dem die Schuppen von den Augen gefallen sind, hatte sie einen Fehler im Wuchs, der strenggenommen ein Gebrechen war. Ihr Vermögen war beträchtlich. Ihr Gatte hatte ihr bei seinem Tode die geringe Last von zwei Kindern hinterlassen, einen entzückend dummen kleinen Bengel, der einem Abbé zur ebenso väterlichen wie erfolglosen Erziehung anvertraut war, und Hermine, deren Schönheit in den anspruchvollsten und kunstsinnigsten Kreisen von Paris bewundert worden wäre. Während man dem Knaben nichts beizubringen vermochte, war das Mädchen tadellos erzogen, vom herkömmlichen Standpunkt betrachtet. Die Tadellosigkeit der Mutter war allerdings immer ein wenig gleichbedeutend mit Hochnäsigkeit. Sogar ihre Tugend hatte etwas Anmaßendes, und wer weiß, ob dies nicht der einzige Grund war, daß sie an ihr festhielt. Wie dem auch sei, tugendhaft war sie. Ihr Ruf gebot der Verleumdung Halt. An seinem Stahl war noch jeder Schlangenzahn abgeglitten, und aus Ärger darüber, daß man dieser Frau nichts anhaben konnte, hatte man sich damit begnügt, sie der Kälte zu zeihen. Und ihre besten Freundinnen hatten an ihr den bekannten Querbalken entdeckt, den man einer berühmten schönen Frau des achtzehnten Jahrhunderts angedichtet hat, um zu erklären, daß sie es fertigbrachte, das gesamte ritterliche Europa zu Füßen schmachten zu lassen, ohne daß auch nur einer einen Zoll höher kam.«
Die Gewagtheit besagter Anspielung, die unter seiner Zuhörerschaft einen kleinen Aufruhr beleidigter Sprödigkeit entfesselt hatte, beschwichtigte der Erzähler durch den heiteren Ton seiner letzten Worte. Der Ausdruck »Sprödigkeit« soll hier indes keine Mißbilligung ausdrücken, denn die Sprödigkeit von Damen, die sich nicht zieren, ist etwas sehr Anmutvolles. Überdies war es bereits so dunkel geworden, daß man diese Empörung mehr spürte als sah.
»Auf Ehre!« warf der alte Vicomte von Rassy ein. »So wie Sie sie schildern, Verehrtester, so war sie wirklich, die Gräfin von Sta... Stasseville!«
Er war Stotterer und bucklig, aber so geistreich, daß er gut auch noch hätte hinken können. Wer kannte in Paris den Vicomte nicht, dieses noch lebende Denkmal der kleinen Verderbtheiten des galanten Jahrhunderts?
In seiner Jugend bildhübsch wie der Marschall von Luxemburg, hatte er wie dieser seine schwache Seite, und selbige war ihm verblieben. Die starke war wer weiß wohin. Wenn ihn die jungen Leute bei einem Anachronismus der Lebensführung ertappten, so pflegte er zu sagen: »Zum mindesten schände ich mein graues Haar nicht!« Er trug nämlich eine kastanienbraune Perücke à la Ninon, mit einem falschen fleischfarbenen Scheitel und ganz unglaublichen und unbeschreiblichen Korkzieherlocken.
»Ah, Sie haben die Gräfin gekannt?« erwiderte der unterbrochene Erzähler. »Trefflich! Dann können Sie mir ja bestätigen, daß ich mich der Wahrheit befleißige!«
»Wie durchs Fenster gezeichnet ist ihr Po...por...trät!« bestätigte der alte Vicomte, indem er sich aus Ärger über seine Stotterei einen leichten Schlag auf die Wange versetzte, auf die Gefahr hin, das aufgelegte Rot zu verwischen. Er schminkte sich nämlich, und zwar schamlos, wie er das in allem war. »Ich habe sie u...un...gefähr um die Zeit gekannt, wo Ihre Geschichte spielt. Sie kam jeden Winter auf ein paar Tage nach Paris. Ich habe sie getroffen bei der Prinzessin von Cou...Cour...tenay, die mit ihr verwandt war. Die Gräfin von Sta...Stasseville, ja, ja, Witz in Eis serviert, das war sie! Man bekam Husten in ihrer Nähe.«
»Mit Ausnahme der paar Tage, die sie jeden Winter in Paris verbrachte«, begann der verwegene Erzähler von neuem, der seinen Personen nicht einmal Halbmasken aufsetzte, »war das Leben der Gräfin von Stasseville eintönig und langweilig, wie eben das Dasein einer anständigen Frau in einer Kleinstadt ist. Sechs Monate des Jahres wohnte sie in ihrem Stadthaus, in dem kleinen Ort, dessen geistiges Gepräge ich Ihnen beschrieben habe, und in den andern sechs Monaten im Herrenhaus ihres schönen Landgutes, vier Stunden von der Stadt. Alle zwei Jahre führte sie ihre Tochter nach Paris. Wenn sie allein hinfuhr, pflegte sie sie bei einer alten Tante, dem Fräulein von Triflevas, zu lassen. Nach Spa, Plombières oder in die Pyrenäen ging sie nie. Sie mied die Badeorte. War es aus Furcht vor der Nachrede? Was munkelt man nicht alles, wenn in der Provinz eine alleinstehende Dame in den Verhältnissen der Frau von Stasseville in ein fernes Bad reist? Was argwöhnt man da nicht? Der Neid derer, die zu Hause bleiben müssen, hält sich damit schadlos an denen, die das Vergnügen haben, auf Reisen zu gehen.
Die so gern spöttische Gräfin war viel zu hochmütig, um auch nur eine ihrer Launen der öffentlichen Meinung zu opfern; aber von Badekuren hielt sie nichts; und ihr Hausarzt hatte sie auch lieber in der Nähe statt dreißig Meilen davon, denn auf so große Entfernung lassen sich die häufigen heuchlerischen Besuche zu je zehn Franken nicht gut machen. Übrigens fragt es sich, ob die Gräfin Launen hatte. Geist und Phantasie sind Dinge, die miteinander nichts zu tun haben. Ihr Geist war so klar, so schneidend, so auf die Wirklichkeit gestellt, daß er das Launenhafte eigentlich ausschloß. Wenn sie lustig war, was selten vorkam, so hatte das den harten Klang einer Kastagnette aus Ebenholz oder einer Schellentrommel, bei der man das gespannte Fell und das dröhnende Metall heraushört. Man vermochte sich nicht vorzustellen, daß aus ihrem trockenen messerscharfen Gehirn jemals etwas könne hervorgehen, was an Phantasie gemahnte, was wie ein Gebilde jener Träumerei oder Sehnsucht gewirkt hätte, die einen dazu drängt, fortzugehen und eine andere Gegend aufzusuchen als die, wo man sich gerade befindet. Während der zehn Jahre, die sie eine reiche Witwe und somit völlig ihre eigene Herrin war, hätte sie ihr Leben überall in der Welt verbringen können, weit weg von diesem adeligen Nest, in dem sie die Abende damit totschlug, Whist zu spielen mit alten Jungfern, die noch die Tage der Chouans erlebt, und mit ergrauten Kavalieren und vergessenen Helden von Anno Tobak. Wie Lord Byron hätte sie mit einer Bibliothek, einer Küche und einem Vogelbauer in ihrem Reisewagen durch die Welt ziehen können, aber sie hatte nicht die geringste Lust dazu. Sie war noch mehr als träg; sie war gleichgültig; genauso unzugänglich wie Marmor von Karkoël wenn er spielte. Nur war Marmor ein leidenschaftlicher Spieler, während die Gräfin auch beim Spiel gleichgültig war. Ihr war alles einerlei. Sie war eine stillstehende Natur. Abgesehen von ihrem Witz führte sie das Leben einer Mumie. Obwohl sie leidend aussah, leugnete ihr Arzt, der nie recht klug aus ihr ward, jede wirkliche Krankheit. War das übertriebene Verschwiegenheit, oder sah er sie tatsächlich nicht? Allerdings klagte sie niemals, weder über körperliche noch seelische Leiden. Es fehlte ihr auch jener fast greifbare Schatten von Schwermut, der gewöhnlich wie ein Mal auf der Stirn einer Vierzigjährigen lastet. Ihre Tage glitten leise, nicht stürmisch von ihr ab. Mit ihren grüngelben Undinenaugen sah sie dem spöttisch zu, wie sie jedwedem Ding zusah. Den ihr anhaftenden Ruf der geistreichen Frau strafte sie Lügen, indem sie an ihrem Wandel nichts von alldem erscheinen ließ, was man am Leben starker Persönlichkeiten Entgleisungen nennt. Sie tat einfach und natürlich, was alle Frauen ihrer Kaste taten, nichts mehr und nichts weniger. Sie bewies damit, daß die ›Gleichheit‹, der Wahn des vierten Standes, nur auf der Höhe der Kultur möglich ist. Nur unter wahrhaft vornehmen Menschen gibt es nichts Höheres mehr. ›Ich bin nichts als der erste meiner Edelleute‹, hat Heinrich der Vierte in diesem Sinne gesagt. Die Gräfin war zu sehr Aristokratin, als daß sie irgendwie aus dem Kreis ihrer Standesgenossinnen hätte hervorragen wollen. Gleich ihnen erfüllte sie ihre äußerlichen gesellschaftlichen und kirchlichen Pflichten mit der schlichten Genauigkeit, die das oberste Gesetz eines Herkommens war, das jeden Überschwang verpönte. In nichts blieb sie hinter ihrer Gesellschaft zurück; in nichts ging sie über sie hinaus. War es ihr schwergefallen, dies eintönige Provinzleben auf sich zu nehmen, worin das, was ihr an Jugend verblieben, einschlief wie ein Weiher unter Seerosen? Die Beweggründe dazu, Gründe der Vernunft, des Gewissens, der Triebkräfte, der Erwägung, des Blutes, der Geschmacksart, aller der innerlichen Flammen, die ihr Licht auf unsere Handlungen werfen, waren bei ihr in nichts zu spüren. Nichts erhellte von innen her die äußere Lebensführung dieser Frau. Müde schließlich, die Gräfin von Stasseville immerdar zu beobachten, ohne dabei etwas zu entdecken, hatten die Leute – die doch in der Provinz die Geduld von Sträflingen oder Anglern haben, wenn es gilt, etwas herauszukriegen – die Lösung dieses Rätsels aufgegeben, wie man eine alte Handschrift beiseite wirft, die man durchaus nicht entziffern kann. ›Wir sind eigentlich recht dumm‹, hatte eines Abends – und das war schon ein paar Jahre her – die verwitwete Gräfin von Hautcardon in lebhaftem Ton erklärt, ›uns den Kopf darüber zu zerbrechen, was in der Seele dieser Frau stecken mag. Vermutlich steckt nichts darin!‹ Diese Ansicht der Gräfin war allgemein angenommen worden, und sie hat geherrscht, wie ein schwacher Fürst herrscht, bis Marmor von Karkoël, der Mann, der vielleicht den Lebensweg der Gräfin von Stasseville am allerwenigsten hätte kreuzen sollen, vom andern Ende der Welt kam und sich an den Spieltisch setzte, an dem gerade ein Spieler fehlte. Wie Hartford, der ihn eingeführt hatte, berichtete, war er in den nebeligen Bergen der shetländischen Inseln geboren. Er stammte aus dem Land, in dem sich Walter Scotts herrlicher Roman ›Der Pirat‹ abspielt, jene lebenswahre Geschichte, die Karkoël mit einigen Abweichungen in der kleinen unbekannten Stadt an der Küste des Kanals wieder aufleben lassen sollte. Er war am Gestade des Meeres, das Clevelands Schiffe durchfurcht hatten, groß geworden. Als Knabe hatte er mit den Töchtern des alten Toil getanzt, wie der junge Mordaunt. Diese Tänze hatte er nicht verlernt und sie mehr als einmal vor mir auf dem Eichenparkett in der nüchtern-ernsten kleinen Stadt getanzt, die so recht das Gegenstück war zur wilden Romantik dieses schottischen Tanzes. Mit fünfzehn Jahren hatte man ihm ein Leutnantspatent in einem englischen Regiment gekauft, das nach Indien ging; und zehn Jahre lang hatte er gegen die Marattahs gefochten. Soviel erfuhr man alsbald von ihm und von Hartford, ferner, daß er von Adel und mit dem berühmten Geschlecht der Douglas ›mit dem blutigen Herzen‹ verwandt war. Aber das war alles. Vom übrigen wußte man nichts und hat nie etwas gewußt. Seine Abenteuer in Indien, diesem großartigen entsetzlichen Land, wo die Menschen mit erweiterten Lungen anders atmen lernen, so daß ihnen die Luft des Abendlandes dann nicht mehr genügt, davon erzählte er nie. Seine Erlebnisse waren in geheimnisvollen Runen auf seiner sonnenbraunen Stirn eingegraben, deren Wand sich ebensowenig öffnete wie die Büchsen mit asiatischem Gift, die indische Fürsten für die Tage der Niederlage und des Unglücks in ihren Schreinen aufbewahren. Sie verrieten sich im scharfen Blitz seiner schwarzen Augen, den er auszulöschen verstand, wenn man ihn anblickte, wie man eine Fackel verlöscht, wenn man nicht gesehen sein will, und in jener erwähnten rastlosen Gebärde, mit der er sein Haar an der Schläfe wohl zehnmal hintereinander niederdrückte, beim Whist oder beim Ecarté. Aber außer jenen Hieroglyphen der Mienen und der Gesten, die nur scharfe Beobachter zu deuten verstehen und die wie die ägyptischen Schriftzeichen nur in großen Zügen reden, war Marmor von Karkoël nicht zu entziffern. Er blieb ebenso unerforschlich in seiner Art wie die Gräfin von Stasseville in der ihren. Er war ein großerSchweiger. Die jungen Edelleute der Stadt – und es gab ein paar sehr geistreiche darunter, neugierig wie die Frauen und gewandt wie die Eidechsen – brannten vor Begier, ihn zu bewegen, die ungedruckten Denkwürdigkeiten seiner Jugend zwischen ein paar amerikanischen Zigaretten zu erzählen; aber sie waren immer abgeblitzt. Dieser Seelöwe der Hebriden, den die Sonne von Lahore gebräunt hatte, ließ sich nicht in den Mausefallen fangen, die ihm die Eitelkeit in den Salons stellte, in den Pfauenfallen, in denen die französische Selbstgefälligkeit so gern ihre Federn läßt, wenn sie sie nur entfalten darf. Dagegen war nichts zu machen. Karkoël war so mäßig wie ein Türke, der an den Koran glaubt. Er war wie ein ganz Stummer, dem das Geheimnis seiner Gedanken niemand entreißt. Ich habe ihn nie etwas anderes als Wasser oder Kaffee trinken sehen. Und die Karten, die seine Leidenschaft zu sein schienen, waren sie wirklich seine Leidenschaft oder nur ein Deckmantel? Verbarg er hinter ihnen wie hinter einer spanischen Wand seine Seele? Ich habe diesen Gedanken immer gehabt, wenn ich ihn beim Whist sah. Er spielte eigentümlich. Er pflanzte, züchtete und pflegte den Spielteufel dermaßen in der spielsüchtigen Seele dieser kleinen Stadt, daß sie nach seinem Fortgang in schrecklichen Spleen verfiel, in den Spleen der betrogenen Leidenschaft, der sie wie der Scirocco überfiel und sie noch englischer machte, als sie sowieso war.
Der Whisttisch war in Karkoëls Wohnung schon am frühen Vormittag aufgestellt, und sein Leben war an den Tagen, die er nicht im Vanillenhof oder sonst in einem Schloß der Umgegend verbrachte, so einfach wie das Leben eines Monomanen. Er stand um neun Uhr auf und frühstückte mit einem oder dem anderen Freund, der zum Whist gekommen war. Das dauerte bis fünf Uhr nachmittags. Da sich dazu immer sehr viele Herren einfanden, so löste man sich nach jedem Robber ab, und die Nichtspielenden wetteten.
Übrigens kamen zu jenen Vormittagspartien nicht nur junge Leute, sondern auch die würdevollsten Männer der Stadt. Familienväter wagten es, ihre Tage in dieser Spielhölle zuzubringen, und die verheirateten Damen versäumten in ihrem Groll keine Gelegenheit, dem Schotten das Böseste nachzusagen, als hätte er dem ganzen Land die Pest eingeimpft. Um fünf Uhr trennte man sich, um sich gegen Abend wieder in der Gesellschaft zu treffen und so zu tun, als füge man sich der Gewohnheit des Hauses, in dem man sich traf, indem man sich zum üblichen Spiel hinsetzte, das in Wahrheit nichts als die Fortsetzung des Vormittags-Whistes bei Karkoël war.
Sie können sich vorstellen, welchen Grad der Vollkommenheit diese Herren erreichten, die sich mit nichts anderem mehr abgaben. Sie erhoben das Whist zur Höhe der schwierigsten und glänzendsten Fechtkunst. Natürlich gab es dabei beträchtliche Verluste; aber Unglücksfälle und Zusammenbrüche, wie sie das Spiel gewöhnlich nach sich zieht, wurden durch die Meisterschaft der Spieler ferngehalten. Alle Mitspieler waren stark genug, um das Gleichgewicht des Glückes zu halten; und es spielte auch jeder allzuoft mit jedem, als daß man sich in gewissen Zeiträumen, wie es in der Spielersprache heißt, nicht revanchiert hätte.
Karkoëls Einfluß, gegen den die Damen des Kreises insgeheim empört waren, nahm keineswegs mit der Zeit ab; im Gegenteil, er ward immer mächtiger. Das ist begreiflich. Er ging weniger von seiner Person und seinem Wesen aus, als vielmehr davon, daß er eine bereits vorhandene Leidenschaft durch seine eigene Neigung vermehrt hatte. Das beste Mittel, vielleicht das einzige, die Menschen zu beherrschen, ist bekanntlich, sie bei ihren Leidenschaften zu packen. Damit mußte Karkoël Macht erlangen. Übrigens wollte er gar nicht herrschen. Er wußte selbst nicht, wie er dazu kam. Aber tatsächlich hatte er Macht wie ein Zauberer. Man riß sich um ihn. Solange er in der Stadt weilte, fand er immer die gleiche Aufnahme. Sie war geradezu ein fieberndes Suchen. Die Frauen, die ihn als Spieler fürchteten, sahen ihn lieber bei sich im Haus, als daß sie ihre Männer und Söhne bei ihm wußten. Sie empfingen ihn, wie Damen einen Herrn empfangen, den sie zwar nicht lieben, der aber der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der Mode oder irgendeiner Bewegung ist. Im Sommer brachte er je vierzehn Tage bis vier Wochen auf den verschiedenen Gütern zu.
Der Marquis von Saint-Alban ließ ihm seine besondere Bewunderung angedeihen. Gönnerschaft würde zuwenig sagen. Auf dem Land wie in der Stadt gab es ein ewiges Whistspielen. Ich erinnere mich (ich verlebte damals als Gymnasiast meine Ferien in der Heimat) einen prächtigen Lachsfang auf der Douve mitgemacht zu haben, wo Karkoël während der ganzen Zeit im Kahn mit einem Kavalier der Gegend Whist mit zwei Strohmännern spielte. Und wenn sie ins Wasser gefallen wären, sie hätten weitergespielt!
Eine einzige Dame sah ihn nie in ihrem Schloß und nur selten in der Stadt bei sich. Das war die Gräfin von Stasseville.
Niemand wunderte sich darüber. Sie war Witwe und hatte eine reizende Tochter. In der Provinz, in einer neidischen abgezirkelten Gesellschaft, wo jeder in das Leben des Nächsten eindringt, kann man nicht vorsichtig genug jenen Schlußfolgerungen vorbeugen, die aus dem, was man sieht, auf das schließen, was man nicht sieht. Die Gräfin übte diese Vorsicht, indem sie Marmor nie auf ihr Schloß einlud und ihn in der Stadt nur sehr öffentlich, an den Tagen, wo sie alle ihre Bekannten bei sich sah, empfing. Ihre Höflichkeit gegen ihn war kühl und unpersönlich. Sie war der Ausdruck der Wohlerzogenheit, die man vor jedermann beweisen soll, nicht um der anderen, sondern seiner selbst wegen. Er seinerseits betätigte die nämliche Artigkeit. Alles dies geschah so ungezwungen, so völlig natürlich bei beiden, daß man sich vier Jahre lang hat täuschen lassen. Ich habe bereits gesagt: abgesehen vom Spiel war Karkoël offensichtlich für nichts zu haben. Wenn er etwas zu verbergen gehabt hat, so deckte er es vortrefflich durch seine schweigsamen Gewohnheiten. Für die spottlustige Gräfin dagegen war es schwerer, sich zu verhüllen. Sie verhüllen, heißt das nicht schon sich verraten? Indessen, da sie die schimmernden Schuppen und die dreifach gespaltene Zunge einer Schlange hatte, so besaß sie auch deren Klugheit. Nichts beeinträchtigte den Glanz und die Schärfe ihres zur Gewohnheit gewordenen Witzes. Wenn man Karkoël in ihrem Beisein erwähnte, bedachte sie ihn öfter mit einem bösen Wort, das wie ein Hieb herniedersauste.

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