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Mittwoch, 8. Januar 2014

Prosa: TEUFELSKINDER (16) - Vom Mahle der Lästerer (3) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly

Vom Mahle der Lästerer


3

Akt um 1860
»Eigentlich war es gar keine Ironie«, fuhr Mesnilgrand fort, »daß wir die Rosalba Pudika nannten, denn dieser Name stand ihr auf der Stirn. Die Schöpfung hatte ihn mit Rosenschrift darauf geschrieben. Sie machte nicht nur in Anbetracht dessen, was die doch war, einen zum Verwundern keuschen Eindruck. Es schien, als hätte sich die Natur in ihr den Scherz gewagt, Wollust und Keuschheit zu mischen und mit dieser himmlischen oder teuflischen Mischung die höchste Sinnenfreude, die ein Weib einem Mann zu gewähren vermag, in die Welt zu setzen. Es war keine Heuchelei dabei. Die Rosalba war keusch wie sie wollüstig war, und das Allermerkwürdigste: sie war beides zugleich. Sie konnte die gewagtesten Dinge sagen oder tun, es war etwas entzückend Verschämtes in ihrem Wesen, etwas in hohem Grade Rätselhaftes. Das ist mir unvergeßbar. Sie ging aus dem tollsten Bacchanal hervor wie Eva vor dem ersten Sündenfall. Dieses nach grenzenloser Hingabe kaum mehr lebende, zu Tod erschöpfte Weib war dann wieder die unberührbare Jungfrau, voll von neuem Zauber holdester Verwirrung und rosiger Schamhaftigkeit. Dieser Wandel machte einen rasend vernarrt in sie. Die Sprache hat nicht die Mittel, dies in die rechten Worte zu fassen.«

Der Erzähler machte eine nachdenkliche Pause. Keiner der ganzen Tafelrunde brach das Schweigen.

»Ihr könnt euch denken«, fuhr Mesnilgrand fort, »daß diese Seltsamkeit erst nach und nach bekannt wurde. Zunächst sah man an ihr nichts als ein hübsches junges Mädchen. Hätte der Major, als er zum Regiment kam, sie uns als seine rechtmäßige Frau oder als seine Tochter vorgestellt, so hätten wir es ihm ruhig geglaubt. >Ein verteufelt schönes Weib!‹ flüsterten die Weiberkenner. ›Aber eine Zierpuppe !‹ Damals lagen wir an der Grenze zwischen Spanien und Portugal. Wir waren hinter den Engländern her und rasteten in Orten, die unserem König Joseph nicht ganz feindselig waren. Der Major und die Rosalba lebten wie in einer heimatlichen Garnison.

Gewiß erinnert ihr euch, mit welcher Erbitterung der Krieg in Spanien geführt wurde, dieser langwierige Krieg, dem kein anderer glich. Aber zwischen den heißen Kämpfen und blutigen Schlachten gab es doch Zeiten, wo wir uns mitten in dem halberoberten Lande damit belustigten, den nicht ganz ›Afrancesadas‹ unserer Standorte Feste zu geben. In jenen Tagen war es, wo die Rosalba, die längst die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, allgemein berühmt wurde. Sie leuchtete unter den dunkelhäutigen Schönheiten des Landes wie ein Diamant in einem Diadem von Similisteinen, wie eine echte Perle an einer Perlmutterkette. Und es dauerte nicht lange, so waren alle Offiziere in sie verschossen, vom jüngsten Leutnant bis zum Divisionsgeneral. Sie war mit einem Male zum Mittelpunkt eines Kreises zügelloser Männer geworden. Wie ein Sultan warf sie ihr Taschentuch dem zu, der ihr gefiel – und es gefielen ihr viele. Der Major tat, als sähe er nichts von alledem. War er zu selbstgefällig, um eifersüchtig zu sein, oder schmeichelte es ihm, seine Kameraden, die ihn, wie er wohl wußte, verachteten oder haßten, unter dem Bann dieses Weibes zu sehen, deren Herr und Gebieter er war? Manchmal sprühte dunkles Feuer in seinen smaragdgrünen Augen, wenn sie sich auf einen unter uns richteten, von dem man gerade munkelte, er sei der Auserkorene seiner Gefährtin. Und da man immer das Niederträchtigste annahm, so legte man seine Gleichgültigkeit oder Blindheit in der für ihn übelsten Weise aus. Man meinte, sie sei weniger das Aushängeschild seiner Eitelkeit als vielmehr ein Köder, den sein Ehrgeiz auswarf. Dies und ähnliches ward gesagt, wie derlei eben gesagt wird. Er wußte davon nichts. Mir, der ich Anlaß hatte, ihn zu beobachten, war die unerschütterliche Haltung dieses Mannes, der Tag für Tag von seiner Geliebten betrogen wurde, ein Rätsel.

Bei der Zügellosigkeit, die sie in die Arme so vieler in Liebesdingen nichts weniger als heiklen Offiziere trieb, war Rosalba sehr bald im ärgsten Ruf, aber vor der Welt vergab sie sich nichts. Man gestatte mir diesen spitzfindigen Unterschied.

Wenn sie einen Geliebten hatte, war dies für sie ein Geheimnis ihres Schlafzimmers. Ob ihres Benehmens vor der Welt hatte der Major nicht den geringsten Anhalt, der Rosalba Vorwürfe zu machen. Wenn sie gewollt hätte, wäre es ihr wohl möglich gewesen, ihr Geschick an einen andern zu ketten. Einmal war ein Marschall so vernarrt in sie, daß er ihr aus seinem Marschallstock einen Sonnenschirmstock machen ließ. Aber wie die Frauen nun einmal sind. Die Karpfen sehnen sich nach ihrem Schlamm zurück, sagt Frau von Maintenon. Die Rosalba brauchte sich gar nicht erst zurückzusehnen. Sie blieb gleich drin, und ich sprang auch hinein ...«

»Bis dahin aber?« warf Mautravers wißbegierig ein.

»Wahrlich, da gibt es nicht viel zu berichten. Ihr kennt alle das schöne Lied aus der Regentschaft:

Quand Boufflers parut à la cour,
On crut voir la reine d'amour.
Chancun s'empressait à lui plaire,
Et chacun lavait... à son tour.

Eines Tages kam auch ich an die Reihe. Ich hatte bis dahin schon Weiber gehabt die schwere Menge. Das kann ich wohl sagen. Aber daß es solche wie die Rosalba gab, hatte ich mir nicht träumen lassen. Der Schlamm war ein Paradies. Ich bin kein Romanschreiber. Also kann ich es euch nicht bis eins einzelne schildern. Ich war ein Mann der Tat, der die Weiber nahm wie der Graf Almaviva – brutal. Ich war auch bei der Rosalba kein Romantiker. In dem Glück, das sie mir gewährte, spielten Seele, Geist, Eitelkeit nicht die geringste Rolle. Und doch hatte auch diese Liebe ihre Tiefe. Den Abgrund der Sinnlichkeit. Wie soll ich das deutlicher machen? Ich finde kein einigermaßen passendes Bild.

Ihr könnt euch vorstellen, daß ein Weib, das schon bei dem flüchtigsten Blick erglüht, vor Wollust lodert, wenn man es nicht bloß mit den Augen reizt. Ihr Leib war im Genuß ein Erlebnis. Und mit diesem, Leibe bereitete sie mir eines Abends ein Fest. Sie hatte die Kühnheit, mich zu empfangen, angetan nichts als ein durchsichtiges Gewand aus indischem Musselin. Ihr Körper schimmerte durch diesen Schleier, der zart wie ein Hauch war, dem Beben, mit seinen reinen Linien, mit dem Rosenrot der Scham und der Wollust. Sie sah in ihrer wolkigen Hülle aus wie ein lebendiges Bildwerk aus mattem Korall. Seitdem habe ich keinen Gefallen mehr an der weißen Haut der andern Weiber. Sie reizen mich nicht...«

Er warf eine Orangenschale, mit der er gespielt hatte, mit der Gebärde der Geringschätzung von sich.

»Unser Verhältnis dauerte einige Zeit«, fuhr Mesnilgrand fort, »ohne daß ich es satt bekam. Man kriegt solch ein Weib nicht satt. Sie verstand es, in das Erdenhafte etwas Überirdisches zu bringen. Trotzdem gab ich sie auf. Aus Selbstachtung. Aus Verachtung ihres Stolzes, der sogar in der tollsten Raserei jedwede Liebe und Achtung zu mir leugnete. Sie war eine Sphinx. Ein unerforschbares Rätsel. Aber eine glühende Sphinx. Ihre Doppelnatur reizte und verdroß mich. Überdies hatte ich die Gewißheit, daß sie sich gleichzeitig noch andere Seitensprünge erlaubte. Das alles gab mir die Kraft, mit einem Ruck die Zügel zu zerreißen, durch die mich diese Sirene an sich gefesselt hatte. Ich verließ sie, oder besser gesagt, ich ging nicht mehr zu ihr. Ich mied sie mit der Überzeugung, daß es kein zweites Weib wie sie gab. Das feite mich vor allen Weibern. Erst jetzt ward ich Soldat im eigentlichen Sinne. Ich lebte nur noch für den Krieg. Die Rosalba hatte mir das Wasser der Vergessenheit gereicht...«

»Und so bist du ein Achill geworden!« sagte der alte Mesnilgrand voll Stolz vor sich hin.

»Ein paar Monate, nachdem ich mit ihr gebrochen hatte«, erzählte der Rittmeister weiter, »setzte sich der Major Ydow im Kaffeehaus an meinen Tisch, und ich erfuhr von ihm beiläufig, daß seine Geliebte Gefährtin einem gewissen Ereignis entgegensah. Die Herren, die mit am Tisch saßen, blickten einander bedeutungsvoll an. Man lächelte. Aber der Major merkte es nicht oder wollte es nicht bemerken. Als er gegangen war, fragte mich einer meiner Regimentskameraden: ›Ist das dein Kind?‹ Heimlich hatte ich mir bereits die nämliche Frage vorgelegt. Ich getraute mir weder laut noch leise eine Antwort. Die Rosalba hatte mir nie eine Andeutung davon gemacht, auch nicht in der vertrautesten Stunde, und so konnte das Kind von mir, vom Major, von wer weiß wem sein ...«

»Das Kind des Regiments!« warf Mautravers dazwischen.

Mesnilgrand fuhr fort:

»Wie schon gesagt, die Rosalba war eine Sphinx, die ihre Geheimnisse wahrte. Sie in anderen Umständen zu wissen, machte einen merkwürdigen Eindruck auf mich. Ein paar Tage dachte ich an nichts anderes als daran: Ist dies Kind von mir? Schließlich aber legte sich diese kleine väterliche Beunruhigung. Es kamen Dinge, die mich stärker in Anspruch nahmen als der Zustand der Rosalba. Wir schlugen uns bei Talavera. Der Eskadronchef Titan fiel, und ich übernahm seine Schwadron.

Das wüste Gemetzel jener Tage steigerte die Feindseligkeit des Landes auf das äußerste. Wir kamen keinen Augenblick zur Ruhe. Die Rosalba folgte dem Regiment auf einem der Gepäckwagen, und dort kam auch ihr Kind zur Welt. Wenige Tage alt starb es. Der Major, der das kleine Geschöpf abgöttisch liebte – er glaubte offenbar, es sei unbedingt sein Kind –, war tiefbetrübt darüber und zeigte seinen übertriebenen Schmerz derartig aller Welt, daß man das Lächerliche daran übersah. Man vergaß, daß er unbeliebt war. Man bedauerte ihn. Die Rosalba hatte nichts an ihrer Schönheit eingebüßt. Sie trotzte jedwedem Angriff des Lebens. Bei dieser ihrer Natur hätte sie uralt werden können...«

»Sie ist also nicht uralt geworden, die Landstürzerin?« unterbrach ihn Ranconnet, den das Schicksal dieser Frau in Spannung versetzt hatte. Die Begegnung in der Kirche hatte er für den Augenblick vergessen. »Und du weißt etwas von ihrem Ende?«

»Etwas, ja!« erwiderte der Rittmeister mit eigentümlicher Betonung, wie um darauf zu deuten, daß er jetzt zum Kern seiner Geschichte gelange.

»Alle Welt hat geglaubt, und du auch, daß sie zusammen mit dem Major in den wilden Tagen von Talavera umgekommen sei. Es sind damals so viele verschollen. Aber das Schicksal der Rosalba war besonders seltsam. Ich will es erzählen.«

Mesnilgrand stützte die Ellbogen, auf den Tisch. Der Rittmeister Ranconnet umfaßte mit der Rechten den Stengel seines Weinglases wie den Griff seines Säbels.

Mesnilgrand begann von neuem:

»Der Krieg nahm kein Ende. Die wütenden Spanier, die fünfhundert Jahre darauf verwendet haben, die Mauren aus dem Lande zu vertreiben, hätten die gleiche Zeit auch uns gewidmet, wenn es hätte sein müssen. Wir drangen nur schrittweise vorwärts. Die eroberten Ortschaften mußten wir sofort befestigen und als Wall gegen den Feind verwenden. So kamen wir in den kleinen Ort Alcudia und blieben dort eine Zeitlang. Das große Kloster ward zur Kaserne verwandelt. Die Offiziere des Regiments lagen in den Häusern. Der Major beim Dorfschulzen. Da das Haus geräumig war, kamen die anderen Herren manchmal hin. Mit den Einwohnern verkehrten wir nicht. Der Franzosenhaß war zu toll geworden.

Die Rosalba war an diesen Empfangsabenden die Dame des Hauses und bewirtete uns mit einem Glas Punsch in ihrer unnahbaren Haltung, die mich immer ein Witz des Teufels dünkte. Draußen krachten die Schüsse der Vorposten.

Ich kümmerte mich nicht darum, wer meine Nachfolger in ihrer Gunst waren. Ich hatte mich völlig von ihr befreit und empfand weder Groll noch Eifersucht, noch die Bitternis der verletzten Eitelkeit. Ich war Zuschauer geworden. So scheute ich auch nicht das Haus des Majors. Die Rosalba unterhielt sich mit mir im Kreise der ändern, als hätten wir einander nie nahegestanden. Der Sinnenrausch von ehedem war verweht. Mitunter aber verspürte ich doch leise Sehnsucht nach dem Nocheinmal, ähnlich wie vor einem letzten Glas Sekt, das man schon beiseite geschoben hat, das man aber doch wieder ergreifen möchte, weil irgendein Lichtschimmer den Rest verlockend durchfunkelt.

Dies sagte ich ihr eines Abends, als ich einmal allein mit ihr war. Früher denn sonst hatte ich das Kaffeehaus verlassen, wo die Offiziere zusammensaßen beim Billard- und Kartenspiel. Es war ein heißer, beinahe afrikanischer Abend. Die glühende Sonne wollte sich nicht losreißen vom Himmel. Ich fand die Rosalba, kaum bekleidet, mit nackten Schultern, die schönen Arme bloß. Das Haar fiel ihr schwer in den Nacken, der in der Abendbeleuchtung erdbeerfarben schimmerte. Sie war verführerisch wie eine Teufelin.

So halbnackt saß sie am Tisch und neigte sich über einen Brief, den sie schrieb. Wenn sie etwas zu schreiben hatte, war es natürlich an einen Liebhaber zwecks erneuter Untreue. Als ich eintrat, war der Brief gerade fertig. Rosalba siegelte ihn zu und hielt eben die blaue silbergesprenkelte Siegellackstange in die Flamme einer vor ihr brennenden Kerze. Ich sehe alles das noch deutlich vor mir. Warum, das werdet ihr nun hören. ›Wo ist mein Mann?‹ fragte sie mich, in jener merkwürdigen Verwirrung, in die sie stets geriet, wenn sie in Gegenwart eines Mannes war.

›Beim Jeu. Er spielt wieder einmal wie wahnsinnig‹, berichtete ich ihr, die goldige Locke in ihrem Nacken betrachtend, die ich so oft geküßt hatte, und fügte scherzend hinzu: ›Irgendeine Tollheit ergreift an solch einem Abend jeden ...‹

Sie verstand mich, ohne davon überrascht zu sein. Sie war an die Lüsternheit der Männer genugsam gewöhnt. ›Torheit!‹ erwiderte sie langsam, während sich das heiße Rot ihrer Wangen zu Purpur wandelte. ›Ihre Tollheit ist vorüber.‹ Während sie dies sagte, drückte sie das Siegel auf das siedende Wachs, das alsbald erstarrte. ›Sehen Sie da‹, fuhr sie im Ton der Herausforderung fort. ›Ein Gleichnis Ihres Herzens! Im Augenblick noch siedend heiß und gleich darauf starr und kalt!‹

Damit drehte sie den Brief um und wollte die Aufschrift beginnen. Ich war wahrlich nicht eifersüchtig, aber doch begehrte ich zu wissen, an wen der Brief gerichtet sei. Ich beugte mich von rückwärts über sie. Indem ich sie dabei berührte, lehnte sie sich zurück und sah mich ver- wirrt-lüstern an, wie einen die Rosalba anzusehen pflegte, mit halbgeöffneten Lippen...

Da hörten wir den Major die Treppe heraufkommen.

Die Rosalba sprang auf.

›Er wird uns eine schreckliche Szene machen! Sicherlich hat er viel verloren, und dann ist er immer eifersüchtig und heftig. Schnell! Verstecken Sie sich in dem Schrank da!‹

Sie öffnete einen großen Kleiderschrank und drängte mich ohne weiteres hinein. Was sollte ich tun? Übrigens glaube ich, es gibt kaum Männer, die nie in ihrem Leben in einem Kleiderschrank oder in etwas Ähnlichem gesteckt haben, um dem Ehegatten oder dem rechtmäßigen Eigentümer eines weiblichen Wesens zu entgehen...« »Ich hab' einmal in einen Kohlenkasten kriechen müssen!« warf Selune lachend ein. »Ich war damals weißer Husar. Man stelle sich vor, wie ich ausgesehen habe, als ich wieder heraus durfte.« »Ja«, nahm der Rittmeister Mesnilgrand wieder das Wort. »Unter gewissen Umständen sind die verwegensten Kerle Feiglinge, einer zitternden Frau zuliebe. Wenn ich an den Schrank denke, wird mir noch heute übel, nach so vielen inhaltsreichen Jahren. Den Säbel an der Seite, in einem Kleiderschrank zu stecken, das ist der Gipfelpunkt der Lächerlichkeit! Noch dazu eines Frauenzimmers wegen, die gar keine Ehre zu verlieren hatte!

An derlei zu denken, hatte ich natürlich keine Zeit. Der Major war inzwischen in die Stube getreten. Die Rosalba hatte richtig vorausgesehen. Ydow befand sich in rasender Stimmung. Seine Anfälle von Eifersucht waren um so maßloser, gerade weil er sie vor uns zu verbergen ängstlich bemüht war. Offenbar fiel sein erster Blick auf den Brief, der auf dem Tisch liegengeblieben war und dank unserer verliebten Anwandlung noch keine Aufschrift trug. ›Was ist das für ein Brief?‹ fragte er mit rauher Stimme. ›Ein Brief nach Italien!‹ gab die Rosalba gelassen zur Antwort. Mit diesem Bescheid gab er sich nicht zufrieden. ›Das ist nicht wahr!< rief er grob. Seine Gemeinheit trat zutage. An diesem kurzen Wortwechsel erkannte ich den Ton, der zwischen den beiden Eheleuten herrschte. Sie hatten tagtäglich derartige Auftritte. Ich in meinem Schrank sah nichts, hörte aber alles. Ich vernahm sozusagen aus ihren Worten ihre Gesten, aus dem Klang ihrer Stimmen den Ausdruck ihrer Wut. Der Major verharrte dabei, den Brief lesen zu wollen, aber Rosalba weigerte sich hartnäckig, ihn herzugeben. Nun wollte er ihn mit Gewalt entreißen. Die Tritte der Füße und das Rascheln der Kleider zeigten mir an, daß sie miteinander rangen. Natürlich war der Major stärker als sie. Er entwand ihr den Brief und las ihn. Er ersah daraus, daß sie einen Liebhaber zu einem Stelldichein einlud, daß der Betreffende bereits beglückt worden war und daß er abermals von neuem beglückt werden sollte. Nur war der Name des Geliebten nicht genannt. Maßlos neugierig wie alle Eifersüchtigen war der Major auf den Namen dessen erpicht, mit dem er betrogen wurde. Aber umsonst. Das war die Vergeltung für den rohen Raub des Briefes und die vielleicht blutige Mißhandlung der Hand, die ihn festhalten wollte. Rosalba hatte im Kampf geschrien: ›Lump, du reißt mir die Hand ab!‹ In Ungewißheit gelassen, vernarrt, verhöhnt durch diesen Brief, der ihm nichts verriet, als daß Rosalba einen Liebhaber hatte – einen mehr –, geriet der Major in rasende, würdelose Wut und überschüttete seine Geliebte mit gemeinen Schimpfworten, mit groben Landsknechtsflüchen. In den rohesten Worten warf er ihr vor, sie sei – nun, was sie ja war. Er fand kein Maß. Auf alles das antwortete sie als echtes Weib, das keine Rücksicht mehr nimmt, das den Mann, an den sie gekettet ist, bis in die Eingeweide kennt und das längst weiß, daß in der Tiefe solch tierischen Zusammenhalts der ewige Krieg lauert. Sie war nicht so gemein wie er in seiner Wut, dafür aber grausamer, höhnischer. Sie lachte mit dem wahnsinnigen Lachen des erbittertsten Hasses und warf ihrem Beschimpfer Worte entgegen, wie sie die Frauen zu finden wissen, wenn sie einen Mann um den Verstand bringen wollen, Worte, die in die Fülle seines Ingrimms einschlagen wie Handgranaten in ein Pulverhaus. Mit eiskalten Worten schrie sie ihm ins Gesicht, sie liebe ihn nicht, habe ihn nie geliebt: ›Nie! Nie! Nie!‹ rief sie ihm zu, wild und frohlockend, als tanze sie auf seinen Nerven. Der Gedanke, daß dies wahr sein könne, war ihm das Schrecklichste, das Grausamste, das ihn am tiefsten Verwundende, denn im Grunde war seine Leidenschaft nichts als Eitelkeit. ›Und unser Kind!‹ warf er ein, als müsse dies ein Beweis ihrer Liebe zu ihm sein. ›Ach, unser Kind!‹ rief sie aus und begann höhnisch aufzulachen. ›Das war nicht von dir!‹ Der Major fauchte wie eine wilde Katze. Ich konnte mir deutlich vorstellen, wie unheimlich seine grünen Augen dabei funkeln mußten. Er stieß einen tollen Fluch aus und fragte: ›Na, von wem denn? Ich will den Kerl wissen, du verdammte ...‹ In seiner Stimme klang nichts Menschliches mehr. Sie lachte von neuem auf wie eine Hyäne. ›Das wirst du nicht erfahren!< erklärte sie und wiederholte diese Worte immer wieder. Und als sie ihn genugsam damit verhöhnt und gepeitscht hatte, begann sie eine lange Reihe von Namen aufzuzählen, deren Träger allesamt ihre Liebhaber gewesen waren. Jedem fügte sie den vollen Titel bei. Es war das ganze Regiment. ›Alle diese Herren habe ich gehabt! Aber keinen habe ich geliebt. Nur einen einzigen. Und von dem war mein Kind, das du so töricht bist, für deins zu halten! Den einen habe ich geliebt! Vergöttert! Hast du es nicht geahnt? Weißt du nicht, wer es ist?‹ Sie log. Nie hatte sie einen geliebt. Aber sie wußte, daß dieses falsche Bekenntnis den eitlen Major wie ein Dolchstoß treffen mußte. Sie stieß ihm die grausame Waffe tiefer und tiefer in den Leib, und zuletzt drehte sie sie gleichsam in der Wunde noch um, indem sie ihm die Worte zuzischte: ›Du Esel, da du es nicht herauskriegst, will ich's dir gestehen. Es war der Mesnilgrand!<

Nach diesem angeblichen – oder wirklichen? – Geständnis trat Totenstille ein.

›Hat er sie als stumme Antwort einfach erdrosselt?‹ fragte ich mich.

Da vernahm ich das Klirren von Glas, das in tausend Scherben bricht, mit aller Macht zu Boden geschleudert.

Wie schon erzählt, hielt der Major das Kind der Rosalba für das seine. Er hatte es maßlos geliebt und war über seinen Tod tief betrübt. Da es ihm im Bewegungskrieg, wo man jeden Tag an einem anderen Ort lebt, unmöglich war, dem Kind ein Grabmal zu errichten, um aber doch eine Art Totenkult zu treiben, hatte er das Herz des kleinen Toten einbalsamieren lassen und führte es in einer kleinen Glasurne überall herum. Es pflegte in einer Ecke des Schlafzimmers seinen Platz zu haben.

Diese Urne war in Scherben gegangen.

›Es war also nicht mein Kind!‹ schrie er. ›Du verruchte Metze!‹

Ich hörte, wie er mit seinen schweren Reiterstiefeln über die knirschenden Scherben trat. Er zertrat das Herz, das sein Abgott gewesen. Wahrscheinlich wollte Rosalba es der Vernichtung entreißen und es retten. Ich vernahm, daß die beiden abermals wild gegeneinander rangen. Ich hörte Schläge fallen.

Dann erscholl wieder die rauhe Stimme des Majors: ›So, wenn du ihn haben willst, hier hast da deinen Wechselbalg, alte Kokotte!«

Damit warf er ihr das Herz, das einst zärtlich geliebte, an den Kopf. Rosalba tat offenbar das nämliche. Eine Schandtat erzeugt die andere. Etwas Unerhörtes! Ein Vater und eine Mutter, die sich einander das Herz ihres toten Kindes in das Gesicht warfen!

Der ruchlose Kampf dauerte einige Minuten. Er war so erschütternd, daß ich zu keinem Entschluß kam. Ich hätte mich gegen die Schranktür stemmen, sie aufsprengen und in den Auftritt eingreifen können. Da erscholl ein Schrei, wie ich nie einen vernommen, und Sie, meine Herren, gewiß auch nicht – und wir haben doch genug Entsetzliches auf den Schlachtfeldern gehört! Jetzt hatte ich die Kraft, aus dem Schrank hervorzubrechen, und ich sah ... Unglaubliches! Die Rosalba war bezwungen über den Tisch gefallen, an dem sie ihren Brief geschrieben hatte. Der Major hielt ihren aller Hülle beraubten nackten Körper mit der einen Hand nieder. Sie wand sich unter dem ehernen Griff hin und her. Und was tat er mit der ändern Hand? Der Schreibtisch, die brennende Kerze und die Siegellackstange daneben hatten ihn auf den satanischen Einfall gebracht, sich mit diesen Dingen zu rächen: die Untreue zu besiegeln, wie sie den Brief gesiegelt hatte! In tollem Eifer vollzog er die entsetzliche Rache!

›Du Hure verdienst keine andere Strafe«, rief er aus, ›als an deiner gottverdammten.. .‹

Der Major bemerkte mein Erscheinen nicht. Über sein verstummtes Opfer gebeugt, drückte er eben den Säbelknauf als Siegel auf die Stelle mit dem siedenden Wachs. Ich ging auf ihn los und stieß ihm meinen Säbel von hinten in den Rücken, tief hinein, bis zum Korb, ohne ihn vorher anzurufen.«

»Das hast du recht gemacht!« rief Sélune. »So ein Kerl verdient es nicht anders!«

»Die umgekehrte Geschichte von Abälard und Heloise!« spottete der Ex-Pfaffe.

»Ein ebenso merkwürdiger wie seltener Fall!« bemerkte der Doktor Bleny. Ohne darauf, einzugehen, fuhr Mesnilgrand in seiner Erzählung fort: »Der Major sank tot auf die Ohnmächtige. Ich riß ihn weg und warf ihn zu Boden. Inzwischen war die Dienerin herbeigekommen, ebenfalls auf den grellen Schrei hin.

›Holen Sie sofort den Feldscher!‹ rief ich ihr zu.

Ich hatte aber nicht die Zeit, sein Erscheinen abzuwarten. Das Alarmsignal erklang. Ich mußte zu meiner Schwadron. Der Feind hatte den Ort überfallen. Die Posten waren meuchlings niedergestochen.

Ehe ich zu meinen Pferden ging, warf ich einen letzten Blick auf den schönen starren mißhandelten Weibeskörper und hob das Herz auf, das im Staub lag. War es doch das Herz meines Kindes! Ich steckte es in die Feldbinde.«

Mesnilgrand hielt inne. Es klang etwas wie leise Rührung aus seiner weltmännischen Stimme.

»Und die Rosalba?« fragte Ranconnet.

»Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört«, erwiderte der Rittmeister.

»Ist sie daran gestorben? Ist sie am Leben geblieben? Hat der Feldscher noch kommen können? Ich weiß es nicht. Nach dem Gefecht – es war der Überfall von Alcudia, der uns so verhängnisvoll ward! – suchte ich ihn, vermochte ihn aber nicht zu finden. Er wurde vermißt wie damals so viele andre. Unser Regiment hatte schlimme Verluste.«

»Die Geschichte ist famos!« erklärte Mautravers. »Schade, daß sie zu Ende ist! Aber gestatte eine Frage! Sie wäre eigentlich Sache Ranconnets; aber ich sehe, er sitzt traumverloren hinter seinem Humpen. Sage einmal, in welchem Zusammenhang steht deine Geschichte nun zu deinem Beichtgäng am vergangenen Sonntag? Das möchten wir doch alle gern wissen.«

»Gewiß! Das soll nicht vergessen werden!« antwortete Mesnilgrand. »Also hört! Jahrelang habe ich das Herz bei mir herumgeschleppt wie eine Reliquie. Ich war abergläubisch. Seit ich aber nach Waterloo nicht mehr Soldat bin, wollte ich immer und immer das schon arg geschändete Herz nicht länger schänden. Doch es verging Zeit um Zeit. Schließlich hab' ich mich hier an einen Priester gewandt und hab' es ihm am vergangenen Sonntag in seinen Beichtstuhl gereicht. Er wird es in geweihter Erde zur Ruhe bestattet haben.«

Der Rittmeister Ranconnet blieb still und stumm. Auch die andern hatten nichts zu fragen. Dachten sie insgeheim nach, wie gut und schön es wäre, wenn die Kirchen keinen andern Zweck hätten, als dann und wann ein totes oder auch ein lebendiges Herz in ihrem Dämmerdunkel aufzunehmen, das sonst nirgends in der Welt eine Zufluchtsstätte fände?

»Der Kaffee soll aufgetragen werden!« befahl der alte Herr von Mesnilgrand mit dürrer Stimme. »Wenn er wie deine Geschichte so stark ist, wird er gut sein!«

Montag, 30. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (15) - Vom Mahle der Lästerer (2) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Vom Mahle der Lästerer


2

Es braucht kaum gesagt zu werden, daß die fünfundzwanzig Gäste in der Mehrzahl Soldaten waren. Aber es waren auch einige Ärzte, große Realisten, darunter sowie etliche ehemalige, nicht im besten Ruf stehende Geistliche, Altersgenossen des alten Mesnilgrand, und als Krone des Ganzen ein Volksvertreter aus der Umsturzzeit, der für die Hinrichtung des Königs gestimmt hatte. Es waren also Landsknechte oder Jakobiner, leidenschaftliche Bonapartisten oder eingefleischte Volksmänner, alle bereit, aufeinander loszugehen und sich gegenseitig zu vernichten, alle nur in einem gleichgesinnt: in der Mißachtung Gottes und der Kirche.
Der Rittmeister von Mesnilgrand hob sich von diesem Kreis in jeder Weise glänzend ab. Die anwesenden Offiziere, die einstigen Dandys der Kaiserzeit, waren zweifellos schöne und fesche Männer, aber ihre Schönheit war Mittelware, Alltagsgut; körperlich rein oder unrein, entbehrte sie des Seelischen, und ihre Eleganz war zu komissig. Man sah ihnen noch in ihrer jetzigen Bürgertracht das Steife der abgelegten Uniform an. Die anderen Kumpane, die ärztlichen Weltverächter und die entgleisten Pfaffen, hielten nicht auf ihr Äußeres; sie sahen beinahe verkommen aus. Nur Mesnilgrand war, wie die Frauen sich ausdrückten, adorabel angezogen. Da noch Vormittag war, trug er einen entzückenden schwarzen offenen Gehrock (von der Firma Staub in Paris), eine Krawatte von mattgelber Seide mit winzigen, kaum erkennbaren, handgestickten, goldenen Sternchen, dunkle, ins Bläuliche schimmernde Tuchhosen, eine unauffällige Weste aus schwarzem Kaschmir, durchbrochene seidene Strümpfe und – da er im eigenen Hause war, keine Schuhe, sondern – tiefausgeschnittene Halbschuhe mit hohen Absätzen, wie sie Chateaubriand bevorzugte, der bestbeschuhte Kavalier seiner Zeit nach dem Großfürsten Constantin; an Schmuck nichts aus Gold, nur – über den breiten Falten seiner nicht verschlungenen, militärisch schlichten Krawatte – eine kostbare antike Kamee mit einem Alexanderkopf. Man brauchte nur das Erlesene dieser Kleidung zu sehen, um sofort zu wissen, daß der Künstler über den Soldaten gekommen war und ihn gewandelt hatte und daß ihr Träger von anderer Art war als alle übrigen, obwohl er sich mit den meisten auf du stand.
Punkt zwölf Uhr mittags begann die Tafel. Auch darin lag Spott. In der Normandie herrscht nämlich der Glaube, der Papst setze sich um diese Zeit an seine Tafel und wünsche dabei der ganzen Christenheit: Gesegnete Mahlzeit. Dieses Benedicite sollte lächerlich gemacht werden. Wenn es vom Doppelturm der Stadtkirche Mittag zu läuten begann, versäumte es der alte Herr von Mesnilgrand nie, unter voltairischem Lächeln mit seiner schrillen Stimme zu rufen: »Zu Tisch, meine Herren! So fromme Christen wie wir dürfen sich des römischen Segens nicht berauben!« Und dies war gleichsam das Losungswort für alle die Lästereien, die nun das Tischgespräch bildeten. Was an einer Tafelrunde von Männern geredet wird, ist immer leichtfertig, noch dazu von solchen Männern wie hier. Man kann wohl sagen, alle Herrenessen, bei denen keine Dame den Vorsitz hat, Einklang schaffend und Milde ausströmend, arten, selbst wenn geistreiche Köpfe zusammen sind, in ein schreckliches Handgemenge aus, wie die Gelage der Lapithen und Kentauren, bei denen es vermutlich auch keine Frauen gab. Bei solchen Festmählern verlieren die gesittetsten und besterzogenen Männer etwas von ihrer Höflichkeit und Vornehmheit. Das ist nicht weiter verwunderlich; fehlt doch die Galerie, der sie gefallen wollen. Sie verfallen einer gewissen Nachlässigkeit, die beim geringsten Anprall, beim geringsten Widerstreit der Meinungen, ins Gröbliche geht. Wenn dies schon bei den Gelagen der edelsten alten Athener geschah, so mußte es erst recht der Fall sein bei den Gastmählern im Hause Mesnilgrand, deren Teilnehmer immer ein wenig im Kasino oder in der Kantine wenn nicht an ärgeren Orten zu sein dünkten.
Beim dritten Gang ging es bereits hoch her. Man hatte erst über politische Dinge geredet, voller Haß gegen die Bourbonen; dann war man zu den Frauen übergegangen, dem unerschöpflichen Gesprächsstoff, besonders in Frankreich, dem geckenhaftesten Lande der Erde.
Man begann Abenteuer zu erzählen. Jeder wollte den anderen überbieten. Die teuflischen Beichten wurden immer gepfefferter. Der ehemalige Abbé Reniant, ein Kurpfuscher, der in den Wirren der Umsturzzeit aus einem Priester ohne Glauben ein Arzt ohne Wissenschaft geworden war, kam an das Wort. Nachdem er noch einmal bedächtig aus seinem Glas geschlürft hatte, begann er:
»Es war schon eine Weile her, daß ich meine Kutte an den Nagel gehängt hatte. Die Revolution war im schönsten Gange. Es war um die Zeit, Bürger Lecarpentier, als Sie sich auf Ihrer Rundreise als Volksvertreter hier in *** aufhielten. Erinnern Sie sich an ein junges Mädchen aus Hémevès, das Sie eines Tages einsperren ließen? Ein übergeschnapptes Frauenzimmer. Eine Epileptikerin.«
Der Volksmann vermochte sich nicht zu entsinnen.
»Man nannte sie die Tesson«, begann der ehemalige Abbé wieder. »Josefine Tesson, wenn ich mich nicht irre. Ein großes dickbackiges Frauenzimmer. Die Chouans und die Pfaffen hatten ihr den Kopf verdreht. Sie machte es sich geradezu zur Lebensaufgabe, diese Kerle zu verstecken, diese gottverdammten Pfaffen. Wo es galt, so einem Halunken das Leben zu retten, trotzte sie Tod und Teufel. Sie verschaffte ihnen die unglaublichsten Zufluchtsorte; versteckte sie, wenn's sein mußte, in ihrem Bett, unter ihrem Unterrock. Wäre es gegangen, so hatte sie einen dort versteckt, wo sie die Büchse mit den Hostien trug, zwischen ihren Brüsten ...«
»Potztausend!« warf Rançonnet ein, den die Geschichte in Wallung versetzte.
»Bloß zwei!« scherzte Reniant. »Dafür aber von anständigem Kaliber ...«
Es erhob sich allgemeines Gelächter.
»Ein sonderbares Ciborium«, meinte der Doktor Bleny verträumt, »so ein Weiberbusen!«
»Das Ciborium der Not!« erklärte Reniant, dessen Erregung sich inzwischen gelegt hatte. »Alle die heimatlosen, verfolgten und gehetzten Priester, denen sie sich verbergen half, vertrauten ihr die Hostien an, die sie in ihrem Busen überall dahin trug, wo sie benötigt wurden. Man setzte das größte Vertrauen in sie und redete ihr ein, sie sei eine Heilige. Das stieg ihr zu Kopf. Am liebsten wäre sie eine Märtyrerin geworden. Unerschrocken eilte sie mit der Hostienbüchse hin und her, bei Tag und Nacht, bei Wind und Wetter, über Stock und Stein, zu den verborgenen Priestern, um Sterbenden das Viatikum zu verschaffen.
Eines Abends erwischten wir das Frauenzimmer, ich und ein paar brave Burschen der Teufelskompagnie von Rossignol, in einem Bauernhof, wo ein Chounan abfahren wollte. Einer von uns, der durch ihre strammen Vorgebirge Appetit auf sie gekriegt hatte, karessierte ' sie ein bißchen. Aber es bekam ihm schlecht. Die Katze schlug ihm ihre zehn Krallen in die Visage, so fest, daß er zeitlebens an sie denkt. Trotzdem ließ der Kerl nicht locker. Ein kecker Griff förderte die Herrgottsbüchse zutage. Wir zählten ein Dutzend Hostien, die ich in Gegenwart des schreienden und uns wie eine Rasende anfallenden Weibstückes vor die Säue werfen ließ ...«
Er hielt inne und brüstete sich wie der Hahn auf dem Mist.
»Abbé, das war wohl das letztemal, daß Sie das Abendmahl gereicht haben?« fragte der alte Herr von Mesnilgrand im Fistelton.
»Die lieben Tierchen werden sich doch den Magen nicht verdorben haben?« spottete einer der Tafelrunde.
Nach diesen groben Lästereien herrschte eine kleine Weile Stille.
»Und du, Mesnil?« rief Rançonnet seinem Kameraden zu. Dem darauf Lauernden dünkte es eine gute Gelegenheit, auf den Kirchgang zu kommen. »Sagst du gar nichts zu dieser famosen Geschichte des trefflichen Abbé?«
Mesnilgrand sagte in der Tat nichts. Den Kopf in die Hand gestützt, saß er am Tisch und hörte ohne Abscheu, aber auch ohne Vergnügen, den Scheußlichkeiten zu, die seine verrohten Genossen vorbrachten. Er hatte sich über all das hinausgelebt. Es berührte ihn nicht. Er hatte schon zuviel davon hören und sehen müssen, in den vielen Jahren und in der Umgebung, in der er lebte. Die Umwelt ist das Schicksal des Menschen. Im Mittelalter wäre Mesnilgrand ein begeisterter Kreuzritter geworden; im neunzehnten Jahrhundert konnte er nichts anderes als napoleonischer Soldat werden. Namentlich während des Feldzuges in Spanien hatte er Greueltaten miterlebt, die denen der Landsknechte des Konnetabel von Bourbon bei der Einnahme Roms kaum nachstanden. Zum Glück ist die Umgebung nur für gemeine Geister und Gemüter ein böses Verhängnis. In starken Seelen lebt und webt etwas, das nicht verdirbt. Und dies war in Mesnilgrand untilgbar.
Müde, fast schwermütig erwiderte er dem Frager:
»Was soll ich dazu sagen? Herr Reniant hat da keine Heldentat vollbracht. Hätte er im Glauben, daß es einen Gott gäbe, einen lebendigen Gott, einen Gott der Rache, das Wahrzeichen dieses Gottes den Säuen vorgeworfen, auf die Gefahr hin, auf der Stelle vom Blitz erschlagen zu werden und in die Hölle zu kommen, ja, dann läge zum mindesten Bravour darin, dem Tod und noch Schlimmerem zu trotzen. Denn wenn es einen Gott gäbe, hätte er ihn zu ewigen Martern verdammen können. Sinnlos war die Tat in jedem Fall, aber dann wäre sie immerhin tapfer gewesen. Doch dieser gewisse Reiz an der Sache fehlt völlig. Der Abbé glaubt nicht an Gott, und der Glaube an das Symbol ist ihm nur lächerlicher Aberglauben. Er war somit von der Gefahrlosigkeit seines Tuns überzeugt. Für ihn war es nichts Mutigeres, als hätte er den Inhalt einer Schnupftabaksdose in den Koben geschüttet.«
»Ja, ja!« ließ sich der alte Herr von Mesnilgrand vernehmen, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und seinen Sohn unter dem Schild seiner vorgehaltenen Hand betrachtete. Er hatte stets Verständnis für das, was sein Sohn sagte, mochte er der nämlichen oder anderer Meinung sein. Hier war er übrigens derselben Ansicht. Er wiederholte darum auch seinen Ausruf: »Ja, ja!«
Mesnilgrand fuhr fort:
»Was ich aber an der Geschichte schön finde, und zwar wunderschön, mein lieber Rançonnet, und was ich mir zu bewundern erlaube, obgleich auch ich an nichts besonders viel glaube, das ist dieses Mädel, diese Tesson, wie Sie sie nennen, Herr Reniant. Indem sie das, was sie für ihren Gott hielt, an ihrem jungfräulichen Busen durch alle Gefahr und Gemeinheit der Welt zuversichtlich und kühn trug, machte sie ihre Brust zum Tabernakel ihres Gottes und sich selbst zum Altar, der jeden Augenblick mit ihrem eigenen Blut übergossen werden konnte. Meine Herren, wir, wir Offiziere – du, Rançonnet! Du, Mautravers! Du, Sélune! – wir, die wir das Kreuz der Ehrenlegion tragen, erworben in so vielen blutigen Schlachten, haben wir nicht mit diesem Symbol den Kaiser auf unserer Brust getragen? Und hat es nicht so manches Mal unsern Mut erhöht, daß wir ihn so trugen? Gibt es einen Unterschied zwischen dem und jenem? Bei meiner Ehre, ich finde die Tat des Mädchens einfach erhaben! Ich möchte wissen, was aus ihr geworden ist. Vielleicht ist sie tot. Vielleicht lebt sie, armselig irgendwo in einem Winkel. Und wenn ich Marschall von Frankreich wäre und sie begegnete mir barfuß, im Schmutz, um ein Stück Brot bettelnd, ich würde von meinem Pferd steigen und den Hut vor ihr abnehmen, vor diesem edlen Wesen, als trüge es wirklich einen Gott im Herzen.« Er stützte sein Haupt nicht mehr auf die Hand. Er hatte den Kopf nach rückwärts geworfen, und während er diese demütigen Worte sprach, wuchs er in die Höhe wie die Braut von Korinth in Goethes Gedicht. Ohne daß er aufgestanden wäre, überragte er alle die andern um sich herum.
»Geht die Welt aus ihren Fugen?« rief Mautravers, indem er mit der Faust auf einen Pfirsichkern schlug und ihn wie mit einem Hammer zertrümmerte. »Husarenrittmeister und Frontsoldaten ducken sich vor Betschwestern?«
Da erhob Rançonnet seine Stimme:
»Schließlich sind das nicht die schlechtesten Liebsten, die bei jeder Freude, die sie uns spenden oder wir ihnen, der ewigen Verdammnis zu verfallen wähnen. Aber, verehrter Mautravers, es gibt etwas Schlimmeres als Betschwestern zu Bettschwestern zu machen. Und das ist, wenn einer, der den Säbel geführt, selber zum Betbruder herabsinkt. Wißt ihr, wo ich den Rittmeister von Mesnilgrand erst am vorigen Sonntag gegen Abend angetroffen habe?«
Niemand gab eine Antwort. Alle aber waren nachdenklich geworden, und alle schauten nach dem Rittmeister Rançonnet hin.
»Bei meinem Säbel«, fuhr dieser fort. »Angetroffen ist falsch ausgedrückt; denn ich hüte meine Reiterbotten vor dem Staub der Kapellen. Ich sah zufällig, wie er durch das Nebenpförtchen in den Tempel hineinschlich. Starr vor Erstaunen fragte ich mich: Donnerwetter, seh' ich Gespenster? War das nicht Mesnils Gestalt? Aber was hat der in der Kirche zu suchen? Mir schossen die verliebten Abenteuer mit den Satansweibern der spanischen Klöster durch den Schädel. Also auch hier? dachte ich bei mir. Er kann die Unterröcke noch nicht lassen? Der Teufel soll mich holen! Ich muß sehen, welche Farbe der hat! Und so trat ich in den Gebetsladen. Es war verflucht duster drinnen. Ich stieg und stolperte über ein Dutzend alter Weiber, die ihren Rosenkranz ableierten. Schließlich aber erwischte ich meinen Mesnil, gerade als er durch das Seitenschiff wieder hinauswollte. Aber – glaubt ihr mir? – er hat mir nicht eingestanden, was er im Pfaffenzwinger zu suchen hatte. Und das ist es, warum ich ihn hier vor euch festnagle. Er soll uns jetzt Rede und Antwort stehen!«
»Na also, Mesnil! Rede! Sprich! Rechtfertige dich!« erklang es von allen Seiten.
»Mich rechtfertigen?« wiederholte Mesnilgrand belustigt. »Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen, wenn ich tue, was mir Vergnügen macht. Ihr, die ihr die Inquisition in Grund und Boden verdammt, am Ende seid ihr selber Inquisitoren. Ich bin am vergangenen Sonntag in der Kirche gewesen, weil es mir so beliebte.«
»Und warum hat es dir beliebt?« fragte der Rittmeister Mautravers.
»Das möchtet ihr wohl gern wissen?« meinte Mesnilgrand lachend. »Ich bin hineingegangen – wer weiß, vielleicht um zu beichten? In jedem Fall bin ich an einem Beichtstuhl gewesen. Na, Rançonnet, du wirst nicht behaupten können, daß meine Beichte lange gedauert habe.« Sie merkten, daß er sich über sie lustig machte; aber es lag etwas Geheimnisvolles in der ganzen Sache, das die Tafelrunde reizte.
»Deine Beichte!« sagte Rançonnet betrübt, denn er nahm die Worte seines Kameraden ernst. »Himmelkreuzdonnerwetter! So bist du also für uns verloren!« Aber schon schreckte er vor seinem Gedanken zurück wie ein bodenscheues Pferd vor seinem eigenen Schatten. Er bäumte sich auf und rief: »Hol mich der Henker! Das ist ganz unmöglich! Nein, keiner von uns allen hier kann sich das vorstellen: der Eskadronchef Mesnilgrand wie ein altes Weib, die Knie auf dem Betschemel, die Nase am Gitter vor dem Schilderhaus eines neugierigen Pfaffen! Dieses Bild will: nicht in meinen Schädel! Hunderttausend Granaten sollen mich treffen!«
»Du bist sehr gütig. Ich danke dir«, sagte Mesnilgrand voll drolliger Nachsicht.
»Scherz beiseite!« meinte Mautravers. »Mir geht es wie Rançonnet. Ich kann auch nicht an die Kapuzinade eines Mannes von deinem Schlag glauben. Die Sorte macht selbst in der Todesstunde nicht den Froschsprung ins Weihwasserbecken!«
»Was andere in ihrer Todesstunde tun, das weiß ich nicht«, erwiderte Mesnilgrand langsam. »Aber was mich anbelangt, so liegt mir daran, ehe ich zur Ewigen Armee abreite, mein Packzeug fix und fertig zu haben.«
Dies Soldatenwort ward so ernst ausgesprochen, daß Stille eintrat. Mesnilgrand fuhr fort:
»Lassen wir das! Aber da Rançonnet um jeden Preis wissen will, warum ich am Sonntag in der Kirche war, ich, der ich vielleicht ein ebenso großer Heide bin wie mein alter Kamerad, so soll die Geschichte erzählt werden. Eine Geschichte steckt nämlich dahinter. Wenn er sie vernommen hat, ist sein ungläubiges Gemüt vielleicht imstande, meinen Kirchgang zu begreifen.« Er machte eine Pause, wie um der Geschichte, die jetzt anhob, eine gewisse Weihe zu geben. Dann begann er:
»Rançonnet, du erwähntest vorhin Spanien. Just in diesem Lande hat sich meine Geschichte zugetragen. Mancher von euch hat wie ich den unseligen Feldzug von 1808 mitgemacht. Es war der Anfang vom Ende des Kaiserreichs und all unseres Mißgeschicks. Wer dort gefochten hat, der wird diesen Krieg nie vergessen. Vor allem du nicht, Sélune!«
Der Major Sélune saß dem Erzähler gegenüber, neben dem alten Herrn von Mesnilgrand. Er war ein Mann von stattlichem soldatischem Äußeren. Bei einem Vorpostengefecht in Spanien hatte er einen Säbelhieb bekommen, quer über das Gesicht, von der linken Schläfe mitten durch die Nase bis zum rechten Ohr. Die gewaltige Wunde war schlecht geflickt worden, in der Eile und aus Ungeschicklichkeit des Feldschers. Wenn der Major erregt wurde und ihm das Blut in den Kopf stieg, flammte die gräßliche Narbe auf, und es sah aus, als liefe um sein sonnenbraunes Gesicht ein breites blutrotes Band.
»Wir haben dort manches Grauenhafte gesehen«, fuhr Mesnilgrand fort, »und manchmal auch, selber begangen. Aber das Ärgste, was ich wohl erlebt habe, das will ich jetzt erzählen!«
»Jawohl«, sagte der Major Sélune mit der Selbstgefälligkeit eines hartgesottenen Kriegsmannes, den nichts mehr rührt. »Gesehen und erlebt! Ich erinnere mich, einmal Zeuge gewesen zu sein, wie man achtzig Nonnen übereinander in einen tiefen Brunnen warf, alle halbtot, nachdem sie von den Leuten zweier Schwadronen der Reihe nach vorgenommen worden waren ...«
»Vieherei von Mannschaften!« sagte Mesnilgrand. »Hier aber handelt es sich um die barbarische Tat eines Offiziers.« Er nippte an seinem Glas, ließ den Blick über die Tafelrunde schweifen und fragte: »Hat einer der Herren den Major Ydow gekannt?«
Nur Rançonnet antwortete:
»Ich zum Beispiel! Den hab' ich gut gekannt. Er stand mit mir bei den achten Dragonern.«
»Da du ihn also gekannt hast«, fuhr Mesnilgrand fort, »so wirst du auch noch jemanden gekannt haben. Als er zum Regiment kam, brachte er ein Frauenzimmer mit ...«
»Die Rosalba!« ergänzte Rançonnet. »Sein berühmtes Verhältnis. Ein Saumensch!«
»Gewiß. Sie verdient die übelste Bezeichnung ...« Mesnilgrand sann nach. Dann begann er von neuem: »Der Major brachte sie aus Italien mit, wo er vordem gewesen war, bei einem Reservekorps, als Hauptmann. Da ihn von den Anwesenden nur Rançonnet kennt, muß ich ihn näher schildern, damit sich auch die andern Herren ein Bild von diesem Teufelskerl machen, dessen Ankunft bei den achten Dragonern mit einem Frauenzimmer im Gefolge großes Aufsehen erregte.
Er war wohl kein Franzose – ein Umstand, bei dem Frankreich nicht viel verliert. Ich weiß nicht mehr, woher er stammte. Aus Böhmen oder Illyrien. Ich habe es vergessen. Aber wo er auch geboren sein mag, er war ein sonderbarer Mensch. Er war sichtlich ein Gemisch verschiedener Rassen, und er selber sagte, er sei von griechischer Abkunft. Seine Schönheit stützte diese Behauptung. Er war, weiß der Teufel, fast zu schön für einen Soldaten. Die Furcht, seine hübsche Larve verschandelt zu bekommen, soll einen Kriegsmann nicht bedrücken. Er ging ins Feuer wie alle andern und tat seine Pflicht, wenn auch nie einen Zoll mehr; aber das, was der Kaiser das heilige Feuer genannt hat, besaß er nicht. Im Grunde fand ich sogar seine Schönheit unangenehm. Später, als ich die Bekanntschaft mit der Antike machte, einer dem Feldsoldaten unbekannten Sache, da habe ich den Grundzug seines Gesichts wiedergefunden, in den Antinousbüsten. Besonders eine hat eine überraschende Ähnlichkeit mit ihm, eine aus Marmor, der ihr Schöpfer aus verrückter Laune oder aus schlechtem Geschmack Smaragde als, Augensterne eingesetzt hat. Solche meergrünen Augen hatte der Major, die zu seinem klassisch geschnittenen Gesicht mit dem warmen Oliventon in seltsamem Widerspruch standen. Sie schimmerten wie wehmütige Abendsterne, aber es war nicht Endymion, dessen Wollust darin schlummerte. Ein Tiger lauerte dahinter. Und eines Tages sollte ich den kennenlernen.
Ydow war braun und blond zugleich. Sein Haupthaar lockte sich dicht und dunkel um die schmale Stirn mit ihren eingedrückten Schläfen, während sein langer seidiger Schnurrbart fuchsrot war. Man pflegt zu sagen, Kopfhaar und Bart von verschiedener Farbe seien ein Zeichen von Verrat und Tücke. Vielleicht wäre der Major später ein Verräter wie so manch andrer geworden – am Kaiser. Das Schicksal hat es nicht dazu kommen lassen. Er war vielleicht gar nicht falsch und tückisch. Wie dem auch sei, vermutlich trug diese Äußerlichkeit bei, daß Ydow unter seinen Kameraden allgemein unbeliebt war. Sehr bald, nachdem er ins Regiment gekommen war, haßte man ihn.
Er war damals fünfunddreißig Jahre alt, und ihr könnt euch denken, daß ein so schöner Mann von den Frauen schrecklich verwöhnt und in jeder Beziehung verdorben wurde. Er gefiel auch den Unnahbarsten. Er war ein lasterhafter Mensch. Aber genug! Wir waren alle miteinander keine Tugendbolde. Wir liefen den Weibern nach und waren überdiesSäufer, Verschwender, Spieler, Duellanten und mitunter große Spitzbuben. Er war in tausend Händel verstrickt. Er galt als der Allerschlimmste, und er hatte wohl auch Dinge getan, deren wir andern doch nicht fähig waren. Ihm traute man alles zu. Dabei war er ein gräßlicher Streber, ein widerlicher Kriecher vor seinen Vorgesetzten. Man verdächtigte ihn aus Haß. Zweimal kam es zum Zweikampf. Er schlug sich brav, aber das änderte unsre Meinung über ihn keineswegs. Er blieb für uns ein zweifelhafter Kavalier. Glück im Spiel hatte er übrigens dem bekannten Sprichwort zum Trotz auch. Mit einem Wort, er war ein gefährlicher Kumpan. Es ließe sich noch viel über ihn sagen, aber ich denke, meine Schilderung genügt.«
»Das denke ich auch!« bemerkte Rançonnet ungeduldig. »Zum Kuckuck! Was hat der verdammte Major von den achten Dragonern samt seinem Luder von einem Weibsbilde, für die er am liebsten alle Dome Spaniens und der gesamten Christenheit geplündert hätte, mit dem Kirchgang am verflossenen Sonntag zu tun?«
»Prell nicht immer vor und warte ab!« wies ihn Mesnilgrand zurecht. »Du bist und bleibst der unverbesserliche Hitzkopf. Erst müssen die Personen meiner Geschichte sozusagen aufmarschieren!«
»Na denn laß sie aufmarschieren! Galopp marsch!« sagte der alte Draufgänger und stürzte zu seiner Beruhigung ein Glas Picardan hinunter.
Mesnilgrand fuhr fort:
»Wenn der Major Ydow ohne die Frau, die nicht seine Gattin, nur seine Geliebte war, zum Regiment gekommen wäre, wäre er wahrscheinlich von den Offizieren ziemlich geschnitten worden. Aber dieses Frauenzimmer, das den Major wer weiß wie an sich gefesselt hatte, verhinderte, daß dies dem Major widerfuhr. Das Weib ist der Magnet des Teufels. Die Herren, die mit ihm nur die unvermeidliche dienstliche Berührung gehabt hätten, verkehrten kameradschaftlich mit ihm – dieser Frau wegen. Wäre der Major unbeweibt gewesen, so hätte ihm im Kaffeehaus, wo sich alle Offiziere trafen, keiner einen Kognak angeboten. Aber man tat es mit dem Hintergedanken, einmal zu ihm eingeladen zu werden und mit ihr zusammenzukommen. Es ist eine alte Wahrheit: Ist man nicht der erste Liebhaber einer Frau, so ist man der zehnte! Und in der Tat, es dauerte nicht lange, da wußte man bei den achten Dragonern, daß diese Hoffnung keinen betrog. Rosalba war die Schlimmste der Schlimmen. Ich übertreibe nicht. Rançonnet, der gewiß einer der vielen Glücklichen war, wird mir das zugeben. Er weiß auch, daß sie eine blendende Sünderin war, daß sie alle Reize wie alle Laster des Weibes in sich einte.
Wo hatte der Major sie aufgegabelt? Woher stammte dies junge Geschöpf? Man fragte zunächst nicht danach. Es war nichts Ungewöhnliches, daß Offiziere ihre Geliebten beim Regiment hatten. Die Hauptsache war, daß sich der Betreffende den Aufwand leisten konnte. Die Kommandeure drückten angesichts dieser Ungehörigkeit schon eine Auge zu. Oft begingen sie sie selber. Eine Frau aber von der Art der Rosalba hatten wir noch nicht bei uns gesehen.
Hübsche Mädel fanden wir überall die Menge. Sie waren beinahe alle von derselben Sorte: abenteuerliche, schneidige, kaum noch weibliche, recht freche Frauenzimmer, fast durchweg Brünetten, mit mehr oder weniger Feuer, angezogen wie junge Burschen, in herausfordernden Phantasieuniformen, die ihnen ihre Liebhaber hatten machen lassen. Wenn sich schon die wirklichen und anständigen Offiziersdamen durch ein gewisses ganz besonderes Etwas von anderen Frauen abhoben, so war das noch mehr bei den Offiziersgeliebten der Fall. Diesen Soldatendirnen glich die Rosalba nicht im geringsten- Zunächst hatte man ein schlankes blasses Mädchen vor sich, mit auffällig reichem blondem Haar. Das war nichts weiter Verblüffendes. Sie besaß eines jener Kameengesichter, die durch ihre Gleichförmigkeit und Unbeweglichkeit gerade leidenschaftliche Gemüter stark erregen. Aber auch das ist nichts Besonderes. Alles in allem war sie gewiß eine schöne,Frau. Aber ihr Zauber auf die Männer hatte nichts mit der Schönheit zu schaffen. Der entquoll einer andern Quelle. Sie war ein Ungeheuer an Schamlosigkeit im Widerspruch zu ihrem Namen Rosalba und noch mehr zu ihrem Spitznamen: Pudika – die Keusche ...«
»Virgil hat sich auch den Keuschen genannt«, warf der ehemalige Abbé ein, der gern mit seiner lateinischen Bildung protzte, »was ihn nicht abgehalten hat, gewisse kleine Sanskulotterien zu schreiben!«

Samstag, 28. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (14) - Vom Mahle der Lästerer (1) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Vom Mahle der Lästerer

1

Der Abend fiel über die vom Herbstnebel erfüllte Stadt *** herein, und in der Kirche dieses kleinen
echt normannischen Ortes war es schon ganz dunkel. Die Nacht ist in den gotischen Kirchen immer zuerst da. Es mag dies am Gewölbe liegen, das man mit der Wipfeldecke des Waldes verglichen hat, oder daran, daß die bunten Glasfenster das Licht verzehren, oder weil die vielen hohen Pfeiler überallhin ihren Schatten werfen. Aber trotz der frühen Finsternis werden die Kirchentüren nicht geschlossen. Sie bleiben gewöhnlich bis nach dem Angelusläuten offen; manchmal sogar noch länger, besonders am Vorabend hoher Feiertage, wo in den frommen Kleinstädten eine Menge Leute zur Beichte gehen, um sich für das Abendmahl am nächsten Morgen zu rüsten. Und überhaupt kommen in weltfernen Gegenden zu keiner Tageszeit mehr Besucher in die Kirche als um die Dämmerstunde, wo die Arbeit ruht und die Nacht anbricht, die der Christen Seelen an den Tod gemahnt. Um diese Stunde fühlt man so recht, daß der christliche Glaube ein Kind der Katakomben ist und daß ihm noch immer etwas von seiner trübseligen Wiege anhaftet. Die Dunkelheit ist aber überhaupt ein Bedürfnis für andächtige Herzen, und in ihr glaubt selbst das Weltkind noch am ehesten an die Erfüllbarkeit eines Gebetes.
Es war ein Sonntag. Die Vesper war bereits zwei Stunden vorüber, und die blaue Weihrauchwolke, die wie ein Baldachin lange am Deckengewölbe gehangen hatte, war schon fast verflogen. Die Rippen und Sterne krochen in die Falten des breiten Schattenmantels, der von den Spitzbogen herabwallte. Nur die Flammen zweier Kerzen an zwei ziemlich weit voneinander entfernten Pfeilern des Mittelschiffes und das Laternenlicht am Hochaltar, das wie ein winziger Stern aus dem Dunkel des Chores hervorstarrte, warfen durch die Nacht, die sich im Mittelschiff und in den beiden Seitenschiffen breitmachte, einen gespenstischen Schimmer. In diesem ungewissen Halbdunkel vermochte man Gestalten wohl im Umriß zu sehen, aber nicht klar zu erkennen. Hie und da hoben sich in der Dämmerung verschwommene Gruppen ab, noch dunkler als der Hintergrund, gebeugte Rücken, die weißen Hauben von knienden Frauen aus dem Volk, Gestalten in Mänteln mit heruntergeklappten Kapuzen; aber mehr war nicht zu unterscheiden. Eher hörte man mancherlei. Alle die Lippen, die leise beteten, erfüllten den weiten, stark hallenden Raum mit seltsamem Gesumm, einem Geräusch, das den Ohren Gottes wie das Gesumm eines Ameisenhaufens von Seelen tönen mag. Dieses fortwährende leise Murmeln, zuweilen von Seufzern durchklungen, dieses im Dunkel einer schweigsamen Kirche so eindringliche Lippengeräusch, ward von nichts durchbrochen als ab und zu durch das Kreichen der Haupttür in ihren Angeln beim Eintritt Kommender und durch das danach Wiederzuklappen des schweren Flügels, oder durch den hellen harten Aufschlag der Holzschuhe eines an den Seitenkapellen entlang Gehenden, oder durch den Fall eines Stuhles, gegen den jemand in der Dunkelheit angestoßen war, oder bisweilen durch ein zwei- oder dreimaliges Husten, das verhaltene Husten der Frommen, das aus Respekt vor dem heiligen Echo musiziert, geflötet wird. Aber alle diese Laute verflüchteten sich rasch, ohne die im fortdauernden Gesumm sich sammelnden Gebete zu stören.
Und darum achtete auch niemand aus der Schar der Andächtigen auf eine Mannesgestalt, die sicherlich manchen in Erstaunen gesetzt hätte, wenn es hell genug gewesen wäre, um ihn deutlich zu erkennen. Er war nämlich nichts weniger als ein eifriger Kirchengänger. Man sah ihn nie im Gotteshaus. Seit seiner Rückkehr in die Vaterstadt, von der er jahrelang fern gewesen war, hatte er sie keinmal betreten. Warum war er an diesem Abend erschienen? Welche Empfindung, welcher Gedanke, welche Absicht hatte ihn bewogen, die Schwelle zu überschreiten, an der er Tag um Tag ein paarmal vorüberging, als wäre sie nicht vorhanden?
Er war in jeder Hinsicht ein höherer Mensch und hatte seinen Stolz wie sein Haupt beugen müssen, um durch die niedrige kleine Nebenpforte zu kommen, deren sandsteinerner Rahmen in der feuchten Luft der Normandie grün geworden war. Übrigens fehlte es seinem Feuerkopf durchaus nicht an Romantik. Beim Betreten des ihm ungewohnten Ortes berührte ihn der gruftartige Raum ganz eigentümlich. Dieser Eindruck wird gerade bei dieser Kirche von vornherein dadurch erweckt, daß der Fußboden des Schiffes tiefer liegt als draußen der Platz, auf dem das Gebäude steht. Zu den Türen führen etliche Stufen hinab. Nur der Hochaltar ist höher angelegt. Offenbar unter diesem Eindruck, seiner selbst ungewiß und im Bann alter Erinnerungen, blieb er in der Mitte des Nebenschiffes, durch das er schritt, stehen. Offenbar fand er sich zunächst nicht zurecht. Als sich seine Augen aber einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er die Umrisse der Dinge besser wahrnahm, entdeckte er eine,alte Bettlerin, die in der Ecke der Armenbank mehr hockte denn kniete und ihren Rosenkranz ableierte. Ihr auf die Schulter klopfend, fragte er sie, wo die Kapelle der Muttergottes und der Pfarrer eines Sprengels sei, den er ihr nannte. Auf den Weg gewiesen von dieser Alten, die seit einem halben Jahrhundert genauso zur Kirche gehörte wie die Fratzen der Wasserspeier, schritt der Suchende nun ohne weiteres durch die während des Gottesdienstes in Unordnung geratenen Stuhlreihen und blieb schließlich vor dem Beichtstuhl stehen, der sich ganz hinten in der Kapelle befand. Er verschränkte die Arme, wie das Männer meist tun, die nicht zum Gebet in eine Kirche geraten sind, aber eine schickliche und würdige Haltung zur Schau tragen wollen. Einem Beobachter wäre der Mann nicht durch Unehrbietiges, aber durch das Unfromme in seiner Haltung aufgefallen.
Gewöhnlich brannte an den Beichtabenden am bändergeschmückten Sockel der Madonna eine gewundene gelbe Wachskerze, die der Kapelle Licht spendete. Aber da sich niemand mehr im Beichtstuhl einfand, hatte der Priester die Flamme ausgeblasen und seine Andacht in der Zelle im Dunkeln fortgesetzt. War es Zufall, Laune, Sparsamkeit oder irgendeine Absicht, daß dies geschehen war? Jedenfalls hatte es der unfromme Gast diesem Umstand zu verdanken, daß er unerkannt blieb, gleichgültig, ob ihm daran gelegen war oder nicht. Als ihn der Priester durch die Gittertür erblickte, öffnete er sie, ohne seinen Sitz im Beichtstuhl zu verlassen. Der Draußenstehende gab seine bisherige Haltung auf und überreichte dem Geistlichen ein Päckchen, das er aus einer Brusttasche gezogen hatte. Was darinnen sein mochte, konnte man nicht erkennen.
»Nehmen Sie das, Ehrwürden!« sagte er mit leiser, aber vernehmlicher Stimme. »Ich schleppe es nachgerade lange genug mit mir herum.« Weiter ward nichts gesprochen. Als wüßte er, worum es sich handelte, nahm der Priester das Päckchen entgegen und schloß dann wieder die Tür seines Beichtstuhles. Vielleicht glaubte irgendein Zuschauer, der Mann werde nun hinknien und beichten; aber zu seinem Erstaunen mußte er sehen, daß jener rasch die Stufen der Kapelle hinabschritt und im Seitenschiff wieder verschwand, woher er gekommen war. Und noch erstaunlicher war es, daß er mitten im Seitenschiff plötzlich von zwei kräftigen Armen umfaßt wurde, unter einem lauten Auflachen, das an einem so frommen Ort arg lästerlich klang.
»Der Teufel soll mich holen! Du, Mesnil?« rief der Lacher halblaut, aber doch deutlich genug, daß man den Landsknechtsfluch ringsherum vernehmen mußte. »Was hast du Narr um diese Zeit im Tempel zu suchen? Wir sind doch nicht mehr in Spanien wie Anno dazumal, wo wir den Klosterschwestern von Avila die Schleier zerknüllten!«
Der »Mesnil« Genannte machte eine zornige Bewegung.
»Schweig!« sagte er mit gedämpfter Stimme, obgleich er den anderen am liebsten laut angegrobst hätte. »Bist du bezecht? Du fluchst hier in der Kirche wie in einer Wachtstube! Komm mit! Benimm dich! Wir wollen uns beide mit Anstand entfernen!«
Er beschleunigte seinen Schritt. Der andere folgte ihm. So schritten beide durch die niedrige kleine Pforte, und als sie im Freien waren, wo sie wieder laut sprechen konnten, begann dieser von neuem:
»Zum Donnerwetter noch einmal, Mesnil! Willst du Kapuziner werden? Am Ende gar Abendmahlgänger! Du, der Herr von Mesnilgrand, Rittmeister von den Chambordschen Husaren, Betbruder! Pfui Deibel!« »Du warst ja selber dort«, erwiderte Mesnilgrand gelassen.
»Nur, weil ich dir nachgegangen bin. Ich sah dich hineingehen und war baff. Was sucht der Kerl in der Pfaffenscheune? fragt' ich mich. Sitzt eine Maus im Unterrock da in dem Steinhaufen? Kurz und gut, ich wollte mich mit eigenen Augen überzeugen, ob ein Ladenmädchen oder eine Prinzessin hier deiner harre.«
»Mein Vehrtester, nur für mich war ich drinnen«, sagte Mesnilgrand, kühl und geringschätzig. Es war ihm sichtlich ganz gleichgültig, was andere über ihn dachten.
»So! Dann muß ich mich um so mehr wundern!«
»Mein Lieber«, entgegnete der Rittmeister, indem er stehen blieb. »Menschen meines Schlages sind nun einmal von jeher in der Welt, um Leute wie dich in Erstaunen zu setzen.« Ihm den Rücken wendend, ging er rasch wieder weiter, wie einer, der allein bleiben will, durch die Gisors-Gasse nach dem Thurin-Platz, an dessen einer Ecke er sein Heim hatte.
Er wohnte im Haus seines Vaters, des alten Herrn von Mesnilgrand, der als reicher Geizhals verschrien war. Selbiger lebte lange Jahre völlig zurückgezogen, bis auf die drei Monate, die sein Sohn, der in Paris lebte, alljährlich bei ihm zubrachte. Dann aber pflegte der alte Herr, zu dem sonst keine Katze kam, die alten Freunde und Regimentskameraden seines Sohnes einzuladen und auf das üppigste zu bewirten. Die bösen Zungen der Stadt lästerten natürlich auch darüber; aber »der Tisch des alten Knickers« – wie sie sich ausdrückten – war in der Tat vorzüglich.
Der greise Vater war sehr stolz auf seinen Sohn, aber ebenso betrübt über ihn. Und dazu hatte er allen Anlaß. War doch das Leben seines Jungen, wie er den Vierzigjährigen immer noch nannte, durch denselben Schlag zertrümmert worden, der das Glück des Kaisers zerbrochen hatte. Mit achtzehn Jahren war der junge Mesnilgrand Husar geworden und hatte die Feldzüge der Kaiserzeit mitgemacht. Zu den höchsten Hoffnungen berechtigt, denn er war aus dem Holz geschnitzt, von dem die Marschälle Napoleons waren, hatte das Finale von Waterloo seine ehrgeizige Laufbahn ein für allemal vernichtet. Er war einer von denen, die von der Restauration nicht wieder in Dienst genommen wurden, weil er wie so mancher der Besten während der Hundert Tage im alten Bann den neuen Eid vergessen hatte. Und so kam es, daß er, der bis zum Eskadronchef in einem Regiment von geradezu fabelhafter Tapferkeit gebracht hatte, und obgleich man von ihm sagte: »Man kann tapfer wie Mesnilgrand sein, aber unmöglich tapferer!« – daß er nun zusehen mußte, wie Kameraden von ihm, deren Führungsliste sich in keiner Weise mit seiner messen konnte, Oberste und Kommandeure von Garderegimentern wurden. Er kannte keinen Neid, aber er ärgerte sich doch gräßlich darüber.
Mesnilgrand war ein zügelloser Draufgänger gewesen. Nur die soldatische Zucht einer beinahe römischen Zeit hatte es vermocht, den Sturm und Drang in ihm einigermaßen einzudämmen. Das Gerücht seiner leidenschaftlichen Abenteuer war bis in seine biedere Vaterstadt gedrungen, die sich darob arg entsetzte, zumal als er sich – vor nunmehr achtzehn Jahren – durch sein tolles Leben ein schweres Rückenmarksleiden zuzog, das er nur durch einen ungeheuerlichen ärztlichen Eingriff und dank seiner eisernen Natur überwand.
Diese besaß er wirklich, so daß er nach dieser höllischen Kur allen den Mühsalen und Wunden des Krieges von neuem zu trotzen imstande war. Dieser ehrgeizige Kraftmensch, der im besten Mannesalter seinen Säbel an den Nagel hängen mußte, war fortan zum Nichtstun verdammt, ohne Aussichten und ohne Hoffnungen. Er raste vor Wut. Obgleich nur der Sohn eines schlichten niedernormannischen Krautjunkers, ähnelte er, durch geheimnisvollen Zufall Karl dem Kühnen, dem Herzog von Burgund, den die Geschichte auch »den Schrecklichen« genannt hat. Er besaß dessen nie nachlassende wilde Leidenschaftlichkeit und bitterlich bösen Ingrimm.
Als der »verkrachte Rittmeister« – wie ihn die alles herabwürdigende Allgemeinheit nannte – heimkam, glaubte man zunächst, er werde sich umbringen oder den Verstand verlieren. Aber er beging weder Selbstmord, noch wurde er verrückt. Letzteres ging nicht, denn er war es schon immer, meinten die Spötter. Daß er bei seiner Natur am Leben blieb, war verwunderlich, indessen er war nicht der Mann, der sich vom Geier das Herz auffressen ließ, ohne den Versuch zu machen, dem Geier den Schnabel zu zerbrechen. Der unglaublich willensstarke Vittorio Alfieri, der nichts verstand als wilde Pferde zuzureiten, hat mit vierzig Jahren noch die Sprache Homers zu lernen begonnen und es so weit gebracht, daß er griechische Verse geschrieben hat. Nach diesem Vorbild warf sich Mesnilgrand auf die Malerei, das heißt auf etwas, was ihm am fernsten lag, denn er hatte zunächst keine Ahnung von den handwerksmäßigen Erfordernissen dieser Kunst. Er arbeitete, stellte in Paris seine Bilder aus, fand keine Beachtung, verzichtete auf die öffentliche Anerkennung, zerstörte seine Werke und schuf wieder neue, mit immer gleichem Feuereifer. Dieser Offizier, der bis dahin nur seinen Säbel zu handhaben verstanden und auf seinem Gaul ganz Europa durchquert hatte, verbrachte sein Leben fortan vor der Staffelei. Sein Widerwille vor dem Krieg und seinem alten Beruf, der Groll eines heimlich Liebenden war so groß, daß er nur Landschaften malte, also Dinge, die er ehedem verwüstet hatte. Beim Malen rauchte er stets, und seinem Tabak mengte er Opium bei. Aber kein Betäubungsmittel war imstande, das grimmige Ungeheuer einzuschläfern, das er seinen »Drachen am Brunnen« nannte. Leute, die ihn nur oberflächlich kannten, hielten ihn für einen Carbonaro; aber wer ihn besser kannte, wußte, daß er ein viel zu selbständiger Denker war, als daß er dem Freisinn jener Zeit verfallen konnte, der im Grunde nur hohles und dummes Geschwätz war.
Trotz seiner maßlosen und unsinnigen Leidenschaftlichkeit wahrte sich Mesnilgrand doch den nüchternen klaren Sinn für das Wirkliche, der den Bewohnern der Normandie eigentümlich ist. Er war alles andere denn Umstürzler. Das Demokrätentum, auf das sich die Bonapartisten während der Restauration stützten, war ihm stark zuwider. Mesnilgrand war durch und durch Aristokrat. Er war es nicht nur nach Geburt, Stand und Rang, sondern von Natur. Er war eben er, und wenn er der ärmste kleine Mann gewesen wäre: ein Herrenmensch, das Gegenstück zum Spießbürger. Äußerliche Auszeichnungen, auf die der Emporkömmling soviel Wert legt, verachtete er. Seine Orden pflegte er nicht zu tragen. Sein Vater hatte ihm vor dem Zusammenbrach des Kaiserreichs, als seine Ernennung zum Stabsoffizier bevorstand, ein Majorat gegründet, so daß er berechtigt war, den Baronstitel zu tragen; aber auf seinen Besuchskarten wie für alle Welt blieb er »Le Chevalier de Mesnilgrand«.
Es gibt in allen Jahrhunderten fahrende Ritter. Heutzutage kämpfen sie für das, was sie als recht und richtig ansehen, und gegen das, was sie hassen, nicht mehr mit Lanze und Schwert, sondern mit Spott und Hohn. Mesnilgrand war ein solcher Ritter. Er besaß die dazu nötige geistige Überlegenheit. Die war übrigens nicht die einzige Gabe, die ihm der Gott der Kraft verliehen hatte. Wie in allen Männern der Tat herrschte bei ihm der starke Wille vor; nur stand dem ein scharfer Verstand zur Seite, eine Macht für ihn gegen die anderen. Wahrscheinlich wäre er als glücklicher Mann nicht besonders geistreich gewesen, aber als Nichtglücklicher hatte er das Feuer der Verzweifelten, und, wenn er gute Laune hatte, auch den Galgenhumor solcher Menschen. Dazu war ihm eine ungewöhnliche Beredsamkeit eigen. Was man von Mirabeau sagte: Man muß ihn gehört haben! – das galt auch von ihm. Byron begann damals in die Mode zu kommen. Wenn sich Mesnilgrand einigermaßen beherrschte, glich er den Helden der Dichtungen des Lords. Er besaß nicht die regelmäßige Schönheit, die den kleinen Seelen gefällt. Er war sogar grundhäßlich. Aber sein blasses verlebtes Gesicht, dazu das jugendlich gebliebene kastanienbraune Haar, seine früh durchfurchte Stirn, gleich der des Lara oder des Korsaren, seine Leopardennase, seine grünschimmernden Augen, die ein wenig blutrot durchädert waren wie die feuriger Rassepferde, verliehen ihm einen Ausdruck, der selbst die größten Spötterinnen der Stadt beunruhigte. In seiner Gegenwart mäßigten die schlimmsten ihr Mundwerk. Groß, stark, gut gewachsen, nur ein wenig vorgebeugt in seiner Haltung, als bewege er sich in einer zu schweren Rüstung, hatte Mesnilgrand die in unseren Tagen so selten gewordene stattliche Herrenhaftigkeit, die wir aus den Bildnissen der alten Zeit kennen. »Er ist ein wandelndes Ahnenbild!« sagte einmal eine junge Dame von ihm, als sie ihn zum ersten Male im Salon eintreten sah. Überdies krönte er alle diese Vorzüge durch einen, der in den Augen der Frauen unübertrefflich ist. Er war immer tadellos angezogen. War dies die letzte Eitelkeit eines homme à femmes, dessen Persönlichkeit ein abgetanes Stück Leben überdauerte, wie die untergehende Sonne den Saum der Wolken durchglüht, hinter denen sie versunken ist? War dies ein Überbleibsel des fürstlichen Aufwandes, den die Eroberer Europas sich ehedem geleistet hatten, wo Mesnilgrand eine Paradedecke aus Tigerfellen unter dem Sattel trug, die seinem Vater, dem Geizhals, zwanzigtausend Franken gekostet hatte? Wie dem auch sei, kein junger Mann in Paris oder London konnte diesen Menschenfeind, der die große Welt verlassen hatte, in der Erlesenheit seiner Kleidung übertreffen.
Während der drei Monate, die er in *** zuzubringen pflegte, machte er nur wenige Besuche; den Rest des Jahres keine. Wie in Paris lebte er auch in seiner Vaterstadt bis in die späte Nacht nur seiner Malerei. Manchmal erging er sich ein wenig in der sauberen, anmutigen kleinen Stadt, die etwas Verträumtes an sich hatte, als sei sie für Dichter da, obwohl wahrscheinlich kein einziger in ihr hauste. Wenn er durch die Straßen ging, flüsterten die Leute einander zu: »Das ist der Herr Rittmeister von Mesnilgrand!« Und wer ihn einmal gezeigt bekommen hatte, der vergaß ihn sein Leben lang nicht wieder. Er machte Eindruck auf die Leute, wie alle Menschen, die nichts mehr vom Leben verlangen. Wer das nicht mehr tut, der steht immer über ihm; und dann ist es das Leben, das sich uns hündisch zu Füßen legt. Mesnilgrand ging nicht in das Kaffeehaus, zu den anderen Offizieren, die von der neuen Regierung aus der Rangliste gestrichen waren; aber auf der Straße verfehlte er nicht, wenn er einen traf, ihm die Hand zu drücken. Die kleinstädtischen Kaffeehäuser waren nichts für ihn, den Aristokraten. Eines zu betreten, wäre ihm ein Verstoß gegen den guten Geschmack gewesen. Es nahm ihm dies niemand übel. Seine Kameraden konnten ihn ja jederzeit im Haus seines Vaters aufsuchen. Die üppigen Gastmähler, die er ihnen, wie schon erwähnt, gab, nannten sie in Anlehnung an die Bibel, in der sie nie lasen, die »Belsazar-Mähler«.
Bei diesen Tafeleien saß der Vater dem Sohn gegenüber, und trotz seines Alters merkte man gar wohl, daß auch er ein ganzer Mann gewesen, würdig seines Sohnes, auf den er so stolz war. Groß und hager, gerade gewachsen wie ein Mastbaum, beugte er sich dem Alter lange noch nicht. Er ging stets im schwarzen Gehrock, in dem er noch größer erschien, als er ohnehin war. Er sah ernst aus wie ein nachdenklicher Mensch, der aller Eitelkeit der Welt entsagt hat. Seit Jahren pflegte er immer eine veilchenblaue gestrickte Zipfelmütze zu tragen, ohne daß sich der Spott an diese herkömmliche Kopfbedeckung des »Eingebildeten Kranken« gewagt hätte. Über die Jugend dieses Geronten wußte niemand etwas. Sie lag zu weit zurück, als daß man sich hätte daran erinnern können. Er hatte zu den Umstürzlern gehört, sagte man, obwohl er ein Vetter von Vicq d'Azir war, dem Arzt der Königin Marie Antoinette. Aber das dauerte nicht lange. Der Mann der Wirklichkeit, der Besitzende, der Gutsherr, war schließlich doch stärker als der Mann der Idee. Nur war er aus der Umsturzzeit, in die er als Ungläubiger in kirchlichen Dingen geschritten war, auch als Ungläubiger in Staatsdingen hervorgegangen. Dieser doppelte Unglaube ergab einen Erzzweifler, vor dem Voltaire erschrocken wäre. Übrigens verhielt er sich bei den zu Ehren seines Sohnes von ihm veranstalteten Gastmählern ziemlich schweigsam; nur wenn er auf Wahlverwandtschaft stieß, ließ er sich Meinungen und Gedanken entlocken, die das rechtfertigten, was man in der Stadt über ihn munkelte. Für die Frommen und Adligen, von denen es am Ort wimmelte, war er der alte Ketzer, mit dem man nicht verkehren konnte und der sich selber verdammte, indem er sich von der Welt abschloß.
Er führte ein sehr einfaches Leben. Niemals ging er aus. Die Grenze seines Hofes und seines Gartens waren für ihn die Grenzen der Welt. Im Winter saß er vor dem großen Kamin in der Küche, in einem hohen Lehnstuhl mit rotbraunem Utrechter Samt, stumm inmitten seiner Dienstboten, die, von seiner Gegenwart bedrückt, kaum zu flüstern wagten. Im Sommer befreite er sie von diesem Zwang und blieb im Eßzimmer, wo es kühl war, las in den Zeitungen oder in irgendeinem alten Buch aus einer Klosterbibliothek, die er bei einer Versteigerung erstanden hatte, oder ordnete Geschäftspapiere an einem kleinen Schreibtisch aus Ahornholz mit Messingbeschlägen, den er sich aus dem Oberstock hatte herunterschaffen lassen, um nicht hinaufgehen zu müssen, wenn einer seiner Pächter kam, obwohl dies Möbelstück gar nicht in ein Eßzimmer paßte. Ob ihn noch andere Dinge als seine Geschäfte bewegten, wußte kein Mensch. Sein fahles, von Blatternarben zerrissenes Gesicht mit der kurzen, ein wenig aufgestülpten Nase, verriet nichts von seinem Innern. Es war rätselhaft wie das einer am Herd schnurrenden Katze. Infolge der Blattern hatte er gerötete Augen und nach innen gekehrte Wimpern, die ab und zu gestutzt werden mußten. Er blinzelte infolgedessen, und wenn er mit jemandem sprach, legte er die eine Hand an die Brauen, um das Licht zu dämpfen, wobei er den Kopf etwas zurückbog. Dies verlieh ihm den Anschein von Dünkel und Hochmut. Der Gebrauch eines Augenglases, um schärfer zu sehen, hätte nicht so anmaßend gewirkt. Seine Stimme, die eines Mannes, der an das Recht des Befehlens gewohnt ist, war mehr eine Kopf- als eine Bruststimme, gleichsam ein Zeichen, daß er selbst mehr Hirn als Herz hatte. Aber er machte selten von ihr Gebrauch. Er war mit seinen Worten genauso sparsam wie mit seinen Talern. Wenn er sprach, geschah dies in der knappen Art des Tacitus. Er drechselte an seinen Worten, und so hatte seine Rede Wert und Wucht. Seine Witzworte trafen wie Steinwürfe.
Ehedem hatte er über die großen Ausgaben und die tollen Streiche seines Sohnes gejammert, wie dies alle Väter tun, aber seit Mesnil – wie er ihn nannte – unter den Trümmern des Kaiserreiches begraben war wie ein Titan, hatte er. vor ihm die Achtung des Weisen, der das Leben auf der Goldwaage der Verachtung wägt und gefunden hat, daß es im Grunde nichts Schöneres gibt als vom sinnlosen Schicksal zerbrochene Menschenkraft. Er bewies ihm dies auf seine Art. Wenn sein Sohn das Wort hatte, leuchtete die vollste Aufmerksamkeit in seinen Zügen. Der größte Beweis, wieviel er ihm galt, lag übrigens darin, daß er während seiner Anwesenheit, wie schon bemerkt, seinen Geiz völlig vergaß.
Die Gelage in seinem Haus waren in der ganzen Stadt berüchtigt. Man raunte sich zu, es ginge dabei gottlästerlich her. Und wirklich, echte Gottesleugner und wütende Pfaffenfeinde waren sie alle miteinander, die da versammelt saßen. Die Gottlosen der damaligen Zeit waren von ganz besonderer Art. Es war das Heidentum von Kraftmenschen und Männern der Tat, die alle Greuel des Umsturzes und alle Kriege der Kaiserzeit durchgemacht hatten. Das war eine völlig andere Gottlosigkeit als die des achtzehnten Jahrhunderts, aus der sie hervorgegangen war. Diese war von Wahrheitsliebe und Geistesfülle durchdrungen. Sie war scharfsinnig, grüblerisch, gespreizt und vor allem frech, aber nicht so roh wie die der Königsmörder von 1793, wie die der Landsknechte des Kaisers. Auch wir, die wir eine neue Zeit vorstellen, haben unser Heidentum, ein eisiges, gelehrtes, innerlich starkes, unerbittliches, unduldsames und zielbewußtes Heidentum. Aber weder dieses noch sonst eines vermag einen Begriff zu geben von der leidenschaftlichen Gottlosigkeit der Männer zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich. Und so war es Tatsache, daß nach drei oder vier Stunden des Schlemmens und Zechens das Eßzimmer im Haus am Thurin-Platz von den gottlosesten Reden dröhnte.
Die Teilnehmer an diesen schändlichen Gelagen sind tot, und reichlich tot; aber damals waren sie am Leben, und zwar auf der Höhe ihres Lebens. Die ist nicht dort, wo die Kräfte abzunehmen beginnen, sondern dort, wo das Ungemach am größten wird. Alle diese Freunde Mesnilgrands, alle die Gäste im Haus seines Vaters, waren im Besitz ihrer ganzen Kraft, um so mehr, da sie diese geübt und erprobt hatten, als sie in maßloser Gier noch am vollen Faß der ungezügelten Lebensfreuden saßen, ohne daß sie am berauschenden Trank zugrunde gegangen waren. Aber so krampfhaft ihre Hände den Becher umklammerten und ihre Zähne in ihn bissen, um nicht von ihm zu lassen: er war ihnen doch entrissen worden. Die Umstände hatte sie vom Quell verjagt, an dem sie geschlürft hatten, ohne sich satt zu trinken; und nun waren sie um so durstiger, weil sie davon getrunken hatten. Sie hatten wie Mesnilgrand ihre »schlimme Zeit«, aber es fehlte ihnen die Seelengröße dieses rasenden Rolands, dessen Ariost, wenn er einen gefunden hätte, ein Shakespeare hätte sein müssen. Für ihre Seelen, ihren Geist und ihre Sinne war das Leben schon vor dem Tod zu Ende. Noch waffenfähig, waren sie entwaffnet. Alle jene Offiziere sahen sich nicht nur an als Verabschiedete der Loire-Armee, sondern auch als Verabschiedete des Lebens und der Hoffnung. Nachdem das Kaiserreich vernichtet, nachdem die Revolution getilgt war durch die Reaktion, die sie nicht niederzuhalten vermochten wie der Erzengel Michael den Drachen, waren sie, ihrer Stellung, ihrer Ämter, ihres Ehrgeizes und der Ernte ihrer Vergangenheit beraubt, in ihre Vaterstadt heimgekehrt, machtlos, arm und gedemütigt, um dort – wie sie grimmig sagten – gleich Hunden zu verrecken. Im Mittelalter wären sie Wegelagerer,Freibeuter oder Entdecker geworden. Aber man kann sich sein Jahrhundert nicht aussuchen; und da sie an den Ketten der Gesittung hingen, die alles in Schranken und Gesetzen hält, so mußten sie still halten, in die Kandaren beißen, auf der Stelle treten, sich selbst verzehren und den Unmut darüber hinunterschlucken. Höchstens konnten sie ihren Blutdurst in Zweikämpfen austoben.
Man kann sich danach einen Begriff machen, wie das Vaterunser gelautet hat, das diese Haudegen zum Himmel emporsandten, wenn die Rede auf den lieben Gott kam. Wenn sie selber auch nicht an ihn glaubten, so glaubten doch andere Leute an ihn, ihre Feinde; und das genügte ihnen, um in ihren Reden alles, was auf Erden für hoch und heilig gilt, zu verlästern, zu verspotten und niederzutreten.
Wie allwöchentlich hatte sich also auch am Freitag nach jenem Sonntag, an dem Mesnilgrand von seinem alten Kameraden zu dessen Verwunderung und Ärger in der Kirche angehalten worden war, die Tafelrunde im Mesnilgrandschen Hause pünktlich eingestellt. Jener alte Kamerad war der Rittmeister Rançonnet, ehemaliger 8. Dragoner. Er erschien diesmal als einer der ersten, weil er sich vorgenommen hatte, den Freund, den er die ganze Woche nicht wiedergesehen, um Aufklärung über den Vorfall zu ersuchen und über die Art, wie er dort von ihm behandelt worden war. Dies sollte in Gegenwart aller Gäste geschehen, um sie zu unterhalten. Rançonnet war durchaus nicht der Schlimmste der Schlimmen an der Freitagstafel. Aber er war ein Polterer und ein allzu urwüchsiger Feind der Kirche. Wenn nicht geradezu ein Narr, so war er hierin ein Tor. Der Gottesbegriff ärgerte ihn wie eine Fliege auf der Nase. Im übrigen war er vom Scheitel bis zur Sohle ein Offizier seiner Zeit, mit allen Fehlern und Vorzügen, einer, der den Krieg um des Krieges willen liebte, ein echter Säbelraßler. Von den fünfundzwanzig Zechkumpanen war er wohl der, der den Rittmeister Mesnilgrand am liebsten hatte; nur war er ihm seit dem Vorfall in der Kirche unverständlich geworden.

Montag, 16. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (13) - Hinter den Karten (4b) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Hinter den Karten

4b


Ihre Rivalin in spitzen Bemerkungen, Fräulein von Beaumont, beneidete sie darum. Wenn dies nur Heuchelei war, so war es der Gipfel der Verlogenheit. Zwang ihre trockene Natur sie dazu? Aber warum verfiel sie, die durch ihre Stellung und den spottsüchtigen Stolz ihres Wesens die leibhafte Unabhängigkeit war, auf die Verstellung? Wenn sie Karkoël liebte und von ihm geliebt wurde, warum verbarg sie es hinter Bosheiten, warum zerrte sie mit abtrünnigen, treulosen, verräterischen Witzworten das vergötterte Bild in den Staub? War das nicht der ärgste Hochverrat an der Liebe?
Mein Gott! Wer weiß? Vielleicht machte gerade das sie glücklich, Herr Doktor«, fuhr der Erzähler fort, und wandte sich dem Dr. Beylasset zu, der an ein Boule-Schränkchen gelehnt stand und auf dessen schönem kahlem Schädel das Kerzenlicht des Armleuchters widerspiegelte, den der Diener soeben zu seinen Häupten entzündet hatte, »hätte man die Gräfin Stasseville mit einem physiologischen Blick durchschaut, den die Moralisten haben sollten wie ihr Ärzte, dann wäre es sonnenklar, daß bei dieser Frau alles sich nach innen kehren, hineinkriechen mußte, wie die hortensienfarbene Linie, die ihre Lippen andeutete, die sie so stark aneinanderzupressen pflegte, wie ihre Nasenflügel, die zusammenfielen, statt sich zu weiten, und erstarrten, statt zu beben; wie ihre Augen, die sich zuweilen in die Augenhöhlen zurückzuziehen und ins Gehirn zu steigen schienen. Trotz ihrer sichtlichen Zartheit und einem körperlichen Leiden, dessen Spuren man in ihrem ganzen Wesen verspüren konnte wie das Geäder eines Risses in einer spröden Masse, war sie doch die verkörperte Willenskraft. An ihr merkte man tatsächlich, daß es im Innern des Menschen ein Elektrizitätszentrum gibt, die Wurzel unseres Nervensystems. Deutlicher als an ihr habe ich das an niemandem beobachtet. Der Strom ihres dämmernden Willens kreiste besonders machtvoll in ihren aristokratischen Händen, mit ihrem matten Weiß, den feinen Linien und dem Opalglanz ihrer Nägel. Allerdings glichen sie – durch ihre Magerkeit, durch das verästelte Netz ihrer bläulichen Adern und vor allem durch die eigentümliche Art der Bewegung, mit der sie nach den Dingen faßten – den fabelhaften Krallen, welche die Phantasie der alten Völker gewissen Ungeheuern mit weiblichen Gesichtern und Frauenbrüsten angedichtet hat. Wer sie sah, konnte nicht daran zweifeln, daß sie – als Weib – ein Gebilde war, wie es deren in allen Gebieten der Natur gibt, die aus Laune oder Trieb lieber den Grund als die Oberfläche der Dinge suchen, eines jener Wesen, die dazu bestimmt sind, geheimnisvolle Heimsuchungen zu haben, die ins Leben tauchen wie tüchtige Schwimmer und unter dem Wasserspiegel schwimmen, die wie Bergleute unter der Erde atmen. Begeistert für das Geheimnisvolle und Unergründliche schaffen sie tiefes Geheimnis über sich und lieben es bis zur Lüge, denn die Lüge ist ein doppeltes Mysterium, verdichteter Schleier, Dämmerung und Dunkel um jeden Preis.
Vielleicht lieben Naturen dieser Art die Lüge um der Lüge willen, wie man die Kunst um der Kunst willen liebt, wie die Herrenmenschen den Krieg lieben.« (Der Arzt neigte voll Ernst den Kopf zum Zeichen seiner Zustimmung.) »Sie glauben auch daran, Doktor! Ja, ich bin überzeugt, es gibt Seelen, die ein Glücksgefühl beim Lügen finden. Es liegt eine grausige, aber berauschende Seligkeit in dem Gedanken, daß man lügt und trügt; in dem Gedanken, daß man sich selber ganz allein kennt, daß man die Gesellschaft durch eine Komödie narrt, die dem Veranstalter den Hochgenuß der Menschenverachtung einbringt!«
»Aber das ist ja schrecklich, was Sie da sagen!« fiel die Baronin Mascranny mit dem Aufschrei empörter Ehrlichkeit ein.
Alle die zuhörenden Damen (und es war vielleicht manche Kennerin heimlicher Freuden darunter) hatten bei den letzten Worten des Erzählers einen leisen Schauer empfunden. Das konnte ich an der nackten Schulter der Gräfin Damnaglia erkennen, in deren nächster Nähe ich saß. Diese Art Schauer kennt jeder, und jeder hat ihn einmal empfunden. Dichterisch sagt man in solchen Augenblicken: Der Tod geht vorüber! War es damals die Wahrheit, die vorüberschwebte?
»Gewiß«, fuhr der Erzähler fort, »das ist schrecklich. Aber ist es nicht wahr? Die Naturen, die das Herz auf der Hand tragen, ahnen nicht, welche stillen Freuden die Heuchelei denen gewährt, die mit einer Maske über dem Gesicht zu leben und zu atmen vermögen. Auch die Wonnen der Hölle sind überirdisch. Himmlisch und höllisch besagt ja nichts weiter als den hohen Grad der Empfindungen. Genoß die Gräfin Stasseville solche satanischen Freuden? Ich will sie weder anklagen noch verteidigen. Ich erzähle nur, so gut ich kann, ihre Geschichte, die niemand genau gekannt hat, und ich versuche sie psychologisch zu begründen. Das ist alles.
Übrigens habe ich diese Seelenzergliederung damals durchaus nicht angestellt. Ich versuche sie jetzt erst, aus der Erinnerung, nach dem Bildnis, das sich von ihr meinem Gedächtnis eingeprägt hat wie ein scharfgeschnittenes Siegel in weichem Wachs.
Wenn ich diese Frau verstehe, so ist dies viel später geschehen. Ihr allmächtiger Wille – den ich erst durch die nachträgliche Betrachtung erkannt habe, seit die Erfahrung mich gelehrt, wie sehr der Körper die Gußform der Seele ist – hat ihr in stille Gewohnheiten eingeschlossenes Dasein nicht mehr bewegt und erregt, als eine Welle einen fest in seine Ufer gezwängten Salzsee aufrüttelt und zerwühlt.
Ohne das Erscheinen Karkoëls, dieses englischen Kolonialoffiziers, der seine Pension wohl oder übel in der kleinen beinahe englischen Normannenstadt verzehrte, hätte die gebrechliche blasse Spötterin, die man aus Scherz ›Frau Rauhreif‹ nannte, selber nie erfahren, welch gebieterischer Willen in ihrem Busen aus geschmolzenem Schnee (ein Wort von Fräulein Ernstine von Beaumont) herrschte, von dem gleichwohl – moralisch – alles abgeglitten war wie von dem härtesten Eisberg am Nordpol. Erfuhr sie mit einem Male, daß für eine Natur wie die ihrige stark empfinden so viel wie wollen heißt? Riß sie mit ihrem Willen einen Mann mit fort, der, wie es schien, nur noch das Spiel lieben sollte?
Wie hat sie es angefangen, vertraute Beziehungen zwischen ihm und sich anzuspinnen? Welche Empfindungen hatte sie bei seinem ersten Anblick? Außerhalb der großen Städte sind heimliche Liebschaften eine schwierige und gefährliche Sache.
Lauter Rätsel, die auf ewig Geheimnisse bleiben! Später sind so manche Vermutungen laut geworden; aber damals, gegen das Ende des Jahres 182*, ahnte noch niemand das geringste. Gleichwohl muß sich in jenen Zeiten in einem der stillsten Paläste der Stadt, in der das Kartenspiel fast alle Tage und alle Abende die Hauptsache war, hinter stummen Läden und gestickten Vorhängen in einem anscheinend klaren, vornehmen, kaum irgendwie verhüllten friedlichem Kreis ein langer Roman abgespielt hahen, den man für unmöglich gehalten hätte. Tatsächlich gab es einen Roman in diesem tadellos gehaltenen, so peinlichen, spöttischen, krankhaft kalten Leben, wo der Geist so sichtlich alles und das Gefühl nichts bedeutete. Der Roman war da und zerfraß unter dem Deckmantel des guten Rufes und der Heuchelei ein Leben, wie die Würmer den Leib eines Menschen zernagen, schon ehe er gestorben ist...«
»Welch gräßlicher Vergleich!« warf wiederum die Baronin von Mascranny ein. »Meine liebe Sybille hatte doch ein wenig recht, als sie von Ihrer Geschichte nichts wissen wollte. Sie haben heute abend wirklich garstige Einfälle!«
»Wünschen Sie, daß ich aufhöre?« fragte der Erzähler mit hinterhältiger Höflichkeit und der Schelmerei eines Mannes, der einmal erweckter Neugier sicher ist.
»Noch schöner!« rief die Baronin. »Begierig gemacht, sollen wir uns mit einer halben Geschichte begnügen!«
»Das wäre wirklich unangenehm«, meinte Fräulein Laura von Alzanne, eine ihrer schönen blauschwarzen Schmachtlocken aufrollend, das verführerischste Bild wohliger Trägheit, in zierlicher Erschrockenheit über ihre bedrohte lässige Ruhe.
»Und obendrein eine Fopperei!« fügte der Arzt heiter hinzu. »Geradeso wie wenn ein Barbier, nachdem er einem die Hälfte des Gesichtes rasiert hat, sein Messer zuklappen und erklären wollte, er könne unmöglich fortfahren.«
»Ich fahre also fort«, nahm der Erzähler von neuem das Wort, mit der Einfachheit der höchsten Kunst, die vor allem darin besteht, sich gut zu verbergen... »Im Jahre 182* verweilte ich im Haus eines meiner Oheime, des Bürgermeisters jener kleinen Stadt, die ich Ihnen als den Leidenschaften und Abenteuern so feindlich geschildert. Es war ein Feiertag, das Namensfest des Königs, der Tag des heiligen Ludwig, der von den geflüchteten Royalisten, jenen politischen Quietisten, die das mystische Wort reiner Liebe erfunden hatten: ›Vive le roi, quand même!‹, stets feierlich begangen wurde. Gleichwohl tat man in diesem Salon doch nichts anderes als an allen übrigen Tagen. Man spielte Karten. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich von mir spreche; es ist recht geschmacklos, aber es muß sein.
Ich war noch ein Kind. Aber dank einer ungewöhnlichen Erziehung ahnte ich mehr von der Welt und ihren Leidenschaften, als man in diesem Alter gewöhnlich davon weiß. Ich glich weniger einem der linkischen Gymnasiasten, die außer in ihre Schulbücher in noch nichts hineingeschaut haben, eher einem der neugierigen jungen Mädchen, die ihre Kenntnisse dadurch vermehren, daß sie an den Türen lauschen und hinterher über das nachgrübeln, was sie erhascht haben. An jenem Abend drängte sich die ganze Stadt im Salon meines Onkels, und wie immer schied sich die Gesellschaft in zwei Teile, in einen, der sich dem Spiel hingab, und in die jungen Mädchen, die nicht spielten. Diese jungen Mädchen entzückten mit ihrer zwecklosen Frische – die bei fast allen für die Katakomben der Ehelosigkeit bestimmt war – meine lüsternen Augen. Vielleicht nur eine durfte, kraft ihres Reichtums, auf das Mirakel einer Liebesheirat hoffen: Fräulein von Stasseville. Ich war nicht alt genug und doch wieder zu alt, um mich dieser jugendlichen Schar beizugesellen, deren Geflüster von Zeit zu Zeit von einem hellen oder halbunterdrückten Lachen unterbrochen ward. In einem Anfall jener brennenden Schüchternheit, die zugleich Qual und Wolllust ist, hatte ich mich geflüchtet und mich zu dem König der Karten gesetzt, zu Marmor von Karkoël, in den ich sinnlos verliebt war.
Freundschaft konnte zwischen mir und ihm nicht bestehen, aber die Herzen haben ihren Geheimkult. Man findet nicht selten bei noch nicht Entwickelten eine zärtliche Bewunderung, die durch nichts Ausgesprochenes, nichts Sichtbares gerechtfertigt wird, die eben nur beweist, daß junge Leute einen Häuptling brauchen, genau wie die Völker, die trotz ihres Alters immer ein wenig Kinder bleiben. Mein Häuptling wäre Karkoël gewesen. Er kam häufig zu meinem Vater, der wie alle Herren der Gesellschaft in *** ein starker Spieler war. Oft nahm er auch an meinen und meiner Brüder körperlichen Übungen teil, wobei er Kraft und Gewandtheit entwickelte, die ans Wunderbare grenzten.
Wie der Herzog von Enghien sprang er spielend über einen siebzehn Fuß breiten Fluß. Allein das hatte natürlich auf uns Jungen, die wir zum Kriegshandwerk erzogen wurden, große Verführungskraft. Aber mich zog noch etwas anderes Geheimnisvolles an. Offenbar wirkte er auf mich durch die Macht, die Sonderlinge auf Sonderlinge haben, denn das Alltägliche schützt vor dem Höheren wie ein Sandsack vor Gewehrkugeln. Ich kann gar nicht sagen, welche Phantasien ich um die Stirn wob, die wie aus Terrakotta geformt schien; um seine düsteren Augen mit den schmalen Lidern; an alle die Spuren, die unbekannte Leidenschaften im Gesicht des Schotten hinterlassen hatten, gleich den Malen des Henkers auf den Gliedern eines Geräderten; und vor allem um seine Hände, diese überfeinen, vollendet gepflegten Hände, die die Karten in Schwingungen brachten wie Flammenkreise.
An jenem Abend war der Whisttisch in der Ecke aufgestellt, und die Gruppe der Spieler hob sich kaum ab in dem Dämmerlicht, das sie beleuchtete. Es war das Whist der Auserlesenen. Der Methusalem der Edelleute, Herr von Saint-Alban, war der Partner Karkoëls. Die Gräfin von Stasseville hatte zu dem ihrigen den Chevalier von Tharsis erwählt, der vor der Revolution Offizier im Regiment der Provence gewesen und Ritter des Heiligen Ludwig-Ordens war, einer jener alten Kavaliere, die es heute nicht mehr gibt, Männer, die zwei Jahrhunderte überbrückten, ohne deshalb Riesen zu sein.
Da, während des Spieles und infolge einer Bewegung, die die Gräfin machte, um ihre Karten aufzuheben, geschah es, daß eine der Facetten des Brillanten, den sie am Finger trug, in der Dämmerung, die den grünen Tisch noch grüner machte, einen jener Strahlen auffing, die menschliche Kunst unmöglich hervorbringen kann, und einen so blendenden Funken entzündete, daß es die Augen schmerzte wie ein Blitz. ›Oh, was funkelt da?‹ fragte der Chevalier von Tharsis mit seiner Stimme, zitterig wie seine Beine.
›Und wer hustet denn so?‹ fragte zu gleicher Zeit der Marquis von Saint-Alban, den ein entsetzlich dumpfer Husten aus seiner Spielversunkenheit aufschreckte. Die Worte galten Hermine von Stasseville, die an einem Kragen für ihre Mutter stickte.
›Mein Brillant und meine Tochter!‹ antwortete die Gräfin von Stasseville unter einem Lächeln ihrer dünnen Lippen auf beide Fragen.
›Mein Gott, ist Ihr Stein schön!‹ hüstelte der Chevalier weiter. ›Ich habe ihn noch nie so blitzen sehen wie heute abend. Ein Blinder muß ihn sehen.‹
Während dieser Reden hatte man die Partie beendet. Der Chevalier ergriff die Hand der Gräfin: ›Gestatten Sie mir!‹ sagte er.
Die Gräfin streifte langsam ihren Ring vom Finger und warf ihn auf den Spieltisch. Der ehemalige Emigrant betrachtete ihn genau, indem er ihn wie ein Kaleidoskop drehte. Aber auch das Licht hat seine Launen und Zufälle. Es spielte mit den Facetten, ohne ihnen ein zweites Mal das Feuer zu entlocken, das ihm eben urplötzlich entquollen war. Hermine erhob sich und stieß den Fensterladen zurück, damit das Licht voller auf den Ring ihrer Mutter falle und man seine Schönheit ganz würdigen könne. Dann setzte sie sich wieder, und den Arm auf den Tisch gestützt, betrachtete sie gleichfalls den feingeschliffenen Stein. Da kam der Husten wieder, ein pfeifender Husten, der ihr das Blut in das feuchtschimmernde reine Perlmutter ihrer blaugesternten Augäpfel trieb.
›Wo haben Sie sich nur diesen abscheulichen Husten geholt, mein liebes Kind?‹ fragte der Marquis von Saint-Alban, den das junge Mädchen mehr beschäftigte als der Ring, der lebende Edelstein mehr als der steinerne.
›Ich weiß nicht, Herr Marquis‹, erwiderte Hermine mit dem Leichtsinn der Jugend, die an kein Ende des Lebens glaubt. ›Vielleicht auf einem Abendgang am Teich in Stasseville.‹
Die Gruppe, die diese fünf Menschen bildete, kam mir mit einem Male ganz seltsam vor. Durch das offene Fenster flutete das Abendrot herein. Der Chevalier betrachtete noch immer den Brillanten, der Marquis das junge Mädchen, die Gräfin Herrn Karkoël, der, mit den Gedanken offenbar woanders, seine Carreau-Dame anstarrte. Aber am meisten war ich betroffen über Hermine. Die Rose von Stasseville war blaß, blasser als ihre Mutter. Der Purpur des sterbenden Tages tropfte über ihre bleichen Wangen, so daß ihr Haupt wie das eines Opfertieres aussah, und ein Spiegel, der Blutflecke zu haben schien, fing dieses Bild auf. Da plötzlich durchlief es mich eiskalt, und durch – ich weiß nicht was für – eine Gedankenverknüpfung packte mich unversehens eine unwillkürliche und nervenerschütternde Erinnerung mit der unwiderstehlichen rohen Gewalt solcher Einfälle, die das erregte Gehirn vergewaltigen und ungeheuerlich befruchten.
Etwa vierzehn Tage vordem hatte ich eines Morgens Herrn von Karkoël besucht. Ich fand ihn allein. Es war noch ganz früh. Von den Spielern, die am Vormittag zu ihm zum Spiel zu kommen pflegten, war noch keiner da. Als ich bei ihm eintrat, stand er vor seinem Schreibtisch, augenscheinlich mit einer sehr schwierigen Sache beschäftigt, die außerordentliche Aufmerksamkeit und große Handfertigkeit erheischte. Sein Gesicht sah ich nicht; er hielt den Kopf vorgebeugt. Zwischen den Fingern der rechten Hand hielt er ein Fläschchen mit schwarzem schimmerndem Inhalt. Es sah aus wie eine abgebrochene Dolchspitze. Daraus träufelte er eine Flüssigkeit in die winzige Öffnung eines Ringes. ›Zum Teufel, was machen Sie da?‹ fragte ich ihn, näher tretend. Da rief er mir in herrischem Ton zu: ›Kommen Sie nicht näher! Bleiben Sie, wo Sie sind! Es könnte mir die Hand zittern, und was ich mache, ist schwieriger und gefährlicher, als auf vierzig Schritt Entfernung auf einen Korkpfropfen mit einer platzenden Pistole zu schießen.‹ Das war eine Anspielung auf einen Vorfall, der sich kurz zuvor ereignet hatte. Wir hatten uns damit belustigt, mit den schlechtesten Pistolen zu schießen, die wir auftreiben konnten, damit sich zeigen sollte, wer der beste Schütze sei. Dabei war eins von den alten Dingern zerplatzt und hätte uns beinahe die Schädel eingeschlagen.
Schließlich hatte er die Tropfen der mir unbekannten Flüssigkeit aus dem langen Schnabel seines Fläschchens in den Ring einfließen lassen. Er schloß ihn und warf ihn in eines der Fächer seines Schreibpultes, offenbar in der Absicht, ihn schnell verschwinden zu lassen. Jetzt erst bemerkte ich, daß er eine Maske aus Glas trug. ›Seit wann‹, fragte ich leichthin, beschäftigen Sie sich mit Chemie? Und ist das ein Schutzmittel gegen Spielverluste, was Sie da gebraut haben?‹ ›Ich braue nichts‹, gab er mir zur Antwort, ›aber das da drinnen‹ – er wies auf das schwarze Fläschchen –, ›das ist ein Allerweltsmittel!‹ Und mit dem grimmigen Humor des Landes der Selbstmörder, seines Vaterlandes, fügte er hinzu: ›Die gezeichnete Karte, mit der man die Entscheidungspartie gegen das Schicksal unfehlbar gewinnt !‹
›Was ist das für Gift?‹ erkundigte ich mich, indem ich nach dem Fläschchen griff, dessen sonderbare Form mich wißbegierig machte.
›Das wunderbarste indische Gift!‹ erwiderte Karkoël, indem er die Maske ablegte. ›Es bloß einzuatmen, kann schon den Tod bringen, und wie man es auch zu sich nimmt, man stirbt, wenn auch nicht sofort. Es wirkt ebenso sicher wie unvermerkt. Es nagt ganz langsam, immerfort und rettungslos an den Wurzeln des Lebens. Indem es sie durchdringt, ruft es an der Körperstelle, auf die es sich legt, Krankheiten hervor, deren äußere Merkmale allbekannt sind und keinen Verdacht aufkommen lassen, und wenn ihn wer erhöbe, jeden Verdacht niederschlagen würde. Die indischen Fakire sollen es aus seltenen, nur ihnen bekannten Stoffen herstellen, die man auf der Hochebene von Tibet findet. Es zerreißt die Fäden des Lebens nicht, es löst sie leise. Das entspricht so recht jenen gelassenen weichlichen Gemütern, die den Tod lieben wie den Schlaf und in ihn versinken wie in ein Pfühl von Lotosblumen. Übrigens ist es höllisch schwer, sich dieses Gift zu verschaffen, ja fast unmöglich. Sie ahnen nicht, was ich gewagt habe, um das Fläschchen von einer Frau zu erlangen, die mich liebte, wie sie mir sagte. Ich habe einen Freund, Offizier in der indischen Armee wie ich und zugleich mit mir von dort zurückgekehrt. Er war sieben Jahre dort. Er hat dieses Gift gesucht mit einer tollen Leidenschaft, wie eben nur ein Engländer hinter etwas her ist. Sie verstehen das vielleicht später einmal, wenn Sie mehr erlebt haben. Es ist ihm aber nicht gelungen, es aufzutreiben. Elende Nachahmungen waren es, die er mit Gold aufwog. Nun hat er mir in seiner Verzweiflung aus England geschrieben und mir einen seiner Ringe geschickt, mit der flehentlichen Bitte, ein paar Tropfen dieser tödlichen Göttertropfen darein zu träufeln. Und dabei haben Sie mich eben angetroffen.‹
Seine Erzählung war mir nicht verwunderlich. Die Menschen haben nun einmal die Neigung, daß sie ohne irgendwelche schlimmen Pläne, ohne Mordgedanken, gern Gift im Haus haben, genauso wie man gern eine Waffe besitzt. So ein Vernichtungsmittel hütet man wie einen Schatz, wie ein Geiziger sein Gold. Mancher sagt sich: ›Wenn ich verschwenden wollte!‹ Hier wie dort dieselbe kindische Liebhaberei! Unerfahren, wie ich damals noch war, fand ich es ganz natürlich, daß Karkoël, der in Indien gewesen war, ein seltenes Gift besaß, das es anderswo gar nicht gab, und daß er unter seinen Waffen und Seltsamkeiten in seinem Feldkoffer auch das Fläschchen aus schwarzem Stein mitgebracht hatte, dieses nette Spielzeug des Todes, das ich da bei ihm sah. Nachdem ich es hin und her gewendet hatte, dieses hübsche Dingelchen, glatt wie Achat, das vielleicht eine indische Fürstin zwischen den Topaskugeln ihrer Brust getragen, legte ich es in eine Schale auf dem Kamin und dachte nicht mehr daran.
Merkwürdig, jenes Fläschchen kam mir plötzlich wieder in den Sinn. Herminens leidendes Gesicht, ihre Blässe, ihr Husten, der offenbar aus einer todkranken Lunge hervordrang, der Ring, der durch einen geheimnisvollen Zufall gerade in dem Augenblick, wo das junge Mädchen hustete, so seltsam aufblitzte wie das Frohlocken eines Mörders, die plötzlich wieder lebendig gewordene Erinnerung an einen längst vergessenen Vorfall, alles das durchflutete mein Gehirn wie ein phantastischer Strom. Daß sich in mir das Vergangene und Gegenwärtige verknüpfte, geschah unwillkürlich, unbegründet, wahnwitzig. Mir schauderte vor meinem eigenen Gedanken. Und so bemühte ich mich, ihn zu unterdrücken, das flackernde Irrlicht in mir auszulöschen, das sich in mir entzündet und meine Seele durchzuckt hatte wie der Blitz jenes Brillanten, der über das grüne Tuch des Spieltisches gefahren war. Um meinen Entschluß zu stärken und ihm die tolle und verbrecherische Eingebung eines Augenblicks zu unterjochen, betrachtete ich aufmerksam Marmor von Karkoël und die Gräfin von Stasseville.
Er wie sie gaben mir durch Haltung und Miene die Antwort, daß das, was ich zu denken gewagt, unmöglich sei. Marmor war noch immer Marmor. Er fuhr fort, seine Carreau-Dame zu betrachten, als sei sie das Sinnbild seiner letzten Liebe, der endgültigen, der des ganzen Lebens. Und die Gräfin? Sie trug auf der Stirn, im Blick und um die Lippen die Ruhe, die sie nie verlor, selbst wenn sie eine ihrer Bosheiten entsandte, denn ihr Witz glich einer Kugel, der einzigen Waffe, die leidenschaftslos tötet, während hingegen der Degen die Leidenschaft der Hand teilt. Er und sie, sie und er, beide waren Abgründe nebeneinander, nur war der eine, Karkoël, finster und schwarz wie die Nacht, und der andere, diese blasse Frau, hell und unerforschlich wie der Weltenraum. Noch immer ruhten ihre gleichgültigen Augen mit ihrem immer unwandelbaren Glanz auf ihrem Gegenüber. Nur, als der Chevalier von Tharsis kein Ende fand in der Betrachtung des Ringes, der das Geheimnis umschloß, das ich so gern ergründet hätte, da nahm sie aus ihrem Gürtel einen Strauß Reseden und sog ihren Duft mit einer Sinnlichkeit ein, der mich an einer Frau überraschte, der die verstandesferne Wollust etwas Fremdes zu sein schien. Ihre Augen schlossen sich, nachdem sie sich in unsagbarer Verzückung verdreht hatten, und mit heißer Gier erfaßten ihre farblosen schmalen Lippen einige Stengel der duftenden Blumen, die ihre Zähne zermalmten, während die sich wieder öffnenden Augen voll wilder Anbetung an Karkoël hingen. War das ein Zeichen des gleichen Sinnes, eine Abmachung, wie Liebende sie unter sich pflegen, dieses stumme Zerbeißen und Verzehren der Blumen? Ehrlich gesagt, ich glaubte es. Dann, als der Chevalier den Ring genug bewundert hatte, steckte sie ihn ruhig wieder an ihren Finger, und das Whist nahm seinen Fortgang, dumpf, lautlos und düster, als hätte nichts es je unterbrochen.«
Hier hielt der Erzähler wiederum ein. Er hatte es nicht mehr nötig, sich zu beeilen. Er hielt uns alle in den Klauen seiner Erzählung. Vielleicht lag der Reiz seiner Erzählung überhaupt in der Art, wie er sie vortrug. Als er schwieg, vernahm man in der Stille des Salons das Ein- und Ausatmen der Anwesenden. Ich, der ich die Blicke über meinen Alabasterwall, den Nacken der Gräfin Damnaglia, hinübersandte, konnte sehen, wie die Erregung sich in verschiedenen Graden auf allen Gesichtern malte. Unwillkürlich suchte ich das der jungen Sibylle, des scheuen Kindes, das sich bei den ersten Worten der Erzählung aufgebäumt hatte. Gern hätte ich die flammende Angst in ihren schwarzen Augen zucken sehen, bei denen ich immer an den düsteren und verhängnisvollen Canale Orfano in Venedig denken mußte, denn mehr als ein Herz wird in ihnen ertrinken. Aber sie saß nicht mehr auf dem Sofa ihrer Mutter. Aus Bange um das, was nachkommen mochte, hatte die besorgte Mutter ihrer Tochter wohl ein Zeichen gegeben, rasch zu verschwinden, und sie war hinausgegangen.
»Und was«, fuhr der Erzähler fort, »was war imstande, mich so stark zu erregen und sich in mein Gedächtnis einzuätzen wie eine Radierung in die Platte? In der Tat, die Zeit hat von dem Eindruck dieses Erlebnisses keine einzige Linie verwischt. Noch sehe ich Karkoëls Gesicht und die Miene der Gräfin, deren kristallisierte Ruhe für einen Augenblick unter dem Duft und Saft der Reseden schmolz, die sie wie mit einem Wollustschauer einsog.
Alles das ist in mir verblieben, und Sie werden erfahren, warum. Jene Vorgänge, deren innerer Zusammenhang mir nicht recht klar war, jene Vorgänge, die ich unter Selbstvorwürfen nur im undeutlichen Licht einer Ahnung durchschaute, in deren wirren Umrissen Mögliches neben ganz Unbegreiflichem lag, wurden später ein wenig mehr aufgehellt, genügend, um mir alles klarzumachen.
Ich habe Ihnen wohl schon erzählt, daß ich ziemlich spät in das Gymnasium kam. Es waren die beiden letzten Jahre meiner Erziehung, die ich dort verbrachte, ohne daß ich während dieser Zeit meine Heimat wiedersah. So erfuhr ich nur durch die Briefe der Meinen den Tod der Hermine von Stasseville und daß sie einer schleichenden Krankheit erlegen sei, von der niemand eine Ahnung gehabt hatte, bis ganz zuletzt, wo sie unheilbar war. Bei dieser Nachricht, die man mir ohne jeden näheren Bericht mitteilte, erstarrte mein Blut genauso wie damals im Salon meines Onkels, als ich zum erstenmal jenen Husten hörte, der nach Tod klang und urplötzlich in mir so schreckliche Ahnungen erweckte. Erfahrene Seelenkenner werden mich verstehen, wenn ich sage, daß ich auch nicht eine Frage wagte über das rasche Hinscheiden des jungen Mädchens, das der Fürsorge ihrer Mutter und den schönsten Erwartungen so jäh entrissen worden war. Ich dachte in zu schmerzlicher Weise darüber, um mit irgend jemand davon zu sprechen. Wieder zu Hause fand ich die Stadt *** sehr verändert. In wenigen Jahren verändern sich die Städte wie die Frauen; man erkennt sie oft kaum wieder. Es war nach 1830. Seit der Durchreise Karls X., der sich in Cherbourg einschiffte, lebten die meisten adeligen Familien, die ich während meiner Kindheit gekannt hatte, zurückgezogen in den nahen Schlössern. Die politischen Ereignisse hatten diese Familien schwer getroffen und aller ihrer Hoffnungen beraubt. Die kleine Stadt, der Schauplatz meiner Erzählung, war wie ausgestorben mit ihren verschlossenen Fensterläden und Haustüren, die sich nicht mehr öffneten. Die Julirevolution hatte die Engländer erschreckt. Sie hatten die Stadt verlassen, nachdem das Leben und Treiben daselbst durch den Umsturz einen so argen Stoß erhalten hatte.
Meine erste Sorge war, danach zu fragen, was aus Herrn Marmor von Karkoёl geworden sei. Man gab mir den Bescheid, er wäre im Auftrag seiner Regierung wieder nach Indien gegangen. Der mir das mitteilte, war zufällig der Chevalier von Tharsis, also einer der vier Partner jener berühmten (zum mindesten für mich berühmten) ›Brillantenpartie‹. Wie er mir das erzählte, kam es mir vor, als schaue er mich an wie einer, der näher befragt werden will, und fast unwillkürlich – denn die Seelen verstehen sich, ehe sich der Wille einmengt – stellte ich die Frage: »Und Frau von Stasseville?‹
»Sie wußten also etwas?« entgegnete er geheimnisvoll, als hätten uns hundert Ohren zugehört, während wir doch ganz allein waren. »Nein, nein«, erklärte ich, »ich weiß von gar nichts.« Er fuhr fort: »Sie ist an der Schwindsucht gestorben wie ihre Tochter, einen Monat nach der Abreise dieses Satans Marmor von Karkoёl.« ›Warum diese genaue Zeitangabe ?‹ fragte ich. ›Steht Karkoël im Zusammenhang damit?‹
›Also wissen Sie wirklich nichts ?‹ antwortete er. ›So will ich erzählen, mein Lieber. Offenbar war sie seine Geliebte. Wenigstens munkelte man das, als man noch leise davon sprach. Jetzt wagt man gar nicht mehr, davon zu reden. Sie war eine Erzheuchlerin, diese Gräfin. Sie war es, wie andere blond oder braun sind. Sie war die geborene Komödiantin. Darum handhabte sie die Lüge so vollendet, daß sie fast zur Wahrheit ward. So einfach und natürlich, unbefangen und ungezwungen war sie in ihrem Lug und Trug.
Trotz dieser Verstellung, die so gründlich war, daß man sie als solche erst in den allerletzten Zeit erkannte, liefen Gerüchte um, die so entsetzlich waren, daß selbst ihre Verbreiter Fragezeichen hinter sie setzten. Danach wäre der Schotte, der nur die Karten zu lieben schien, nicht bloß der Liebhaber der Gräfin gewesen, die ihm – als echte Teufelin – ihre bösen Bemerkungen anhing wie jedem anderen unter uns, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Mein Gott, auch das ginge noch, aber das andere! Er wäre nicht nur der Kartenkönig, sagte man, er wäre der Herzenskönig der ganzen Familie!
In der Tat: die arme liebe Hermine betete ihn im stillen an. Fräulein Emestine von Beaumont kann Ihnen davon erzählen, wenn Sie es wollen. Er war ihr Dämon. Liebte er sie? Liebte er die Mutter? Liebte er beide? Oder keine? War ihm die Gräfin nur gut zum Spiel? Wer weiß das? Hier ist die Geschichte sehr dunkel. Man weiß nur soviel, daß die Mutter, deren Seele ausgedörrt war wie ihr Körper, die Tochter gehaßt hat, und daß dieser Haß nicht zum wenigsten an deren Tod schuld ist.‹
›Sagt man das?‹ warf ich ein, voll Entsetzen darüber, daß meine von mir selbst angezweifelte Vermutung doch richtig gewesen war. ›Aber wer kann es wissen? Karkoël war kein eitler Schwätzer. Er war der letzte, der vertraute Dinge verraten hätte. Nie hat man etwas über sein Leben erfahren. Wie sollte er gerade hinsichtlich der Gräfin von Stasseville plauderhaft gewesen sein?‹
›Gewiß!‹ erwiderte mir der Chevalier, ›diese beiden Heuchler hielten fest zueinander. Er ist gegangen, wie er gekommen war, ohne daß einer von uns hätte sagen können: Er war mehr als Spieler. Aber so vollkommen in Ton und Haltung die makellose Gräfin auch war, die Kammerfrauen, für die es bekanntlich keine Heldinnen gibt, haben doch erzählt, daß sie sich mit ihrer Tochter stundenlang einschloß und daß sie, eine bleicher als die andere, wieder zum Vorschein kamen, die Tochter obendrein mit vom Weinen geröteten Augen.‹ ›Haben Sie keine anderen Beweise, keine anderen Anhaltspunkte, Chevalier?‹ sagte ich, um ihn anzutreiben und noch klarer zu sehen. ›Sie wissen doch, was das Gerede der Dienstboten heißen will. Von Fräulein von Beaumont könnte man wahrscheinlich mehr erfahren.‹
›Fräulein von Beaumont!‹ rief Tharsis. ›Sie mochten sich beide nicht leiden, sie und die Gräfin, denn ihr Geist war von derselben Sorte! Und so spricht die Überlebende von der Toten nur mit bösen Blicken und schändlichen Andeutungen. Zweifellos will sie den Glauben an die entsetzlichsten Dinge erwecken. Bestimmt weiß sie nur von einem, was aber nicht entsetzlich ist, von der Liebe Herminens für Karkoel.‹
›Das ist nicht viel, Chevalier‹, fing ich wieder an. ›Wenn man alles glauben wollte, was junge Mädchen einander anvertrauen, dann wäre jede Backfischschwärmerei eine große Leidenschaft. Und Sie werden mir zugestehen, daß ein Mann wie Karkoel alles an sich hatte, um eine jugendliche Schwärmerei zu erwecken.‹
›Das ist wahr‹, meinte der alte Tharsis, ›aber man hat mehr Beweise als bloß Mädchenbekenntnisse. Erinnern Sie sich? Aber nein, Sie waren noch zu jung! Nun, in der hiesigen Gesellschaft war es sattsam aufgefallen, daß die Gräfin von Stasseville, die sonst nichts liebte ... (Blumen nicht mehr als alles andere; ich wüßte wirklich nicht, welche Vorliebe man ihr nachsagen könnte), daß die Gräfin gegen Ende ihres Lebens öfter einen Strauß Reseden im Gürtel trug und beim Spiel und auch sonst an den Stengeln kaute, die sie davon abbrach. Das war so auffällig, daß Fräulein von Beaumont ihre Freundin Ernestine einmal spöttisch gefragt hat, seit wann ihre Mutter Vegetarianerin wäre.‹
›Ja, an diese Reseden erinnere ich mich‹, sagte ich. Und wirklich, die wilde, grausam lüsterne Art, mit der die Gräfin während jener Whistpartie, die ein Erlebnis für mich war, an den Blumen roch und nagte, hatte ich keineswegs vergessen.
›Hören Sie‹, fuhr der alte Herr fort, ›diese Reseden waren aus einem prächtigen großen Blumentopf, der im Salon der Gräfin stand, seitdem sie keine Feindin mehr vom Blumenduft war. Ehedem hatten wir beobachtet, daß sie ihn nicht ertragen konnte, und zwar, weil sie während ihres letzten Wochenbettes beinahe an einem Strauß Tuberosen gestorben wäre, wie sie uns einmal in ihrer gleichgültigen Art erzählt hat. Mit einem Male liebte sie den Blumenduft wahnsinnig. In ihrem Salon war es zum Ersticken, wie in einem Treibhaus, in dem man zu Mittag noch nicht die Fenster geöffnet hat. Zwei oder drei zartangelegte Damen gingen aus diesem Grund schließlich nicht mehr zu ihr. So änderte sich manches! Man schrieb das ihren Nerven und ihrer Krankheit zu. Wie sie dann tot war und man die Wohnung verschließen mußte – denn der Vormund des kleinen Stasseville hat diesen kleinen Schwachmatikus, der nun so reich ist, wie ein dummer Kerl es nur werden kann, in das Gymnasium gesteckt – da wurden die Reseden aus dem Topf in den Garten umgepflanzt –, und bei dieser Gelegenheit fand man unten am Boden, was glauben Sie wohl?‹«
Den Erzähler unterbrach hier der unverfälschte Aufschrei einiger Damen, die sonst wahrlich dem Natürlichen so fern wie möglich standen. Seit langem hatten sie mit der Natur nichts zu tun gehabt. Die anderen, die sich mehr in der Gewalt hatten, reckten sich nur auf, aber willenlos.
»Nicht gerade das passendste Versteck!« scherzte der leichtfertige, immer anzügliche liebenswürdige Marquis von Gourdes, einer von denen, die noch in ihrem Sarg Witze machen.
»Von wem war das Kind?« fuhr der Chevalier fort. »Wie kam es dorthin? War es eines natürlichen Todes gestorben? Oder getötet worden? Alle diese Fragen vermochte niemand zu beantworten. Man munkelte das Schrecklichste. Es gibt wohl nur zwei Menschen auf der Welt, die den wirklichen Vorfall kennen, die aber vermutlich nie davon reden werden. Der eine ist Karkoel, der wieder nach Indien gegangen ist, samt all dem Geld, das er uns im Whist abgenommen hatte...«
»Und der andere?« fragte ein Neugieriger.
»Ja, der andere!« wiederholte der Chevalier, mit den Augen zwinkernd.
»Der andere wird gleich gar nichts sagen. Es ist der Beichtvater der Gräfin. Der dicke Abbé Trudaine, jetzt Bischof zu Bayeux.«
»Chevalier«, unterbrach ich ihn, »ich bezweifle, daß sich die Gräfin von Stasseville ihm anvertraut hat. Eine so verschlossene und verschwiegene Seele sprengt selbst der nahende Tod nicht auf. Diese Frau, würdig des Cinquecento, ist gestorben, wie sie gelebt hat. Kein Pfaffe hat Macht über sie gehabt. Sie hat ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Hätte sie es dem Geistlichen geoffenbart, dann hätte man in der Jardiniere sicherlich nichts gefunden.«
Der Erzähler war mit seiner Geschichte zu Ende. Mehr wußte er nicht. Alle Anwesenden verharrten in erregtem Schweigen. Ein jeder hing seinen Gedanken nach, indem er den Torso nach seinem Geschmack und nach dem Grad seiner Phantasie zu ergänzen suchte.
»Ein Roman hinter den Karten!« meinte die alte Baronin von Saint- Alban, eine leidenschaftliche Glücksspielerin. »Übrigens haben Sie recht, Chevalier. Halb Gezeigtes regt mehr auf als ganz Enthülltes.«
»Der Mantel der Phantasie über der nackten Wirklichkeit!« bemerkte der Doktor nachdenklich. »Es ist mit dem Leben wie mit der Musik«, sagte Sophie von Revistal schwärmerisch. »Pausen wirken tiefer als Akkorde!«
Sie schaute nach der hochmütigen Gräfin von Damnaglia, die noch immer am goldgezierten Elfenbeingestell ihres Fächers nagte. Sagte ihr das stahlblaue Auge ihrer Busenfreundin etwas? Ich vermochte es nicht zu sehen, aber ihr Nacken, auf dem leichter Schweiß perlte, verriet Erregung. Man behauptete auch von der Gräfin, daß sie Leidenschaft und Glück zu verbergen verstehe, ganz wie die Frau von Stasseville.
»Sie haben mir die Freude an meinen Lieblingsblumen auf immerdar verdorben!« rief die Baronin von Mascranny dem Erzähler zu, und, eine harmlose Rose, die sie am Gürten getragen, zerpflückend, fügte sie versonnen hinzu: »Nie werde ich wieder Reseden tragen!«