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Montag, 21. Oktober 2013

Leseprobe aus "Quer durch mich" von Maria Martin (Selfpublisher)

Quer durch mich 
(c) Maria Martin

Ein biografisches Tagebuch
(Auszug)
(Textwiedergabe nach Buchvorlage)

01.03.2012

Ich glaube ich habe mein Leben lang immer nur gekämpft. Ich möchte doch nur eine gesunde Seele haben. Gedanken kommen wie z.B. ich habe noch nie jemanden richtig geliebt. Warum spürt keiner was in mir vorgeht?
Am 19.12.11 beginnt nach der Medikamenteneinnahme die erste Therapiesitzung bei der Psychologin Frau Dr. Boll. Ich spüre, es geht nicht mehr ohne Psychopharmaka. Ich bin so durcheinander, holt mich meine Vergangenheit jetzt dreizehn Jahre später wieder ein? Ich weigere mich immer wieder das für mich so Schlimme anzunehmen weil es einfach unfassbar ist.
November 2011: Outing bei meiner Familie weil es mir so schlecht geht. Leider herrscht erst mal Funkstille, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.
Am 11.01.12 erste Therapiesitzung bei Frau Dr. Maurer, Privattherapeutin.
Seit Februar - nach einem wiederholten Zusammenbruch - in der Firma krankgeschrieben.
Ich glaube, ich habe irgendwann eine neue Person gebildet die entstanden ist, damit ich mich selber so viele Jahre daran hindern konnte mich emotional und physisch dem Trauma des Missbrauchs zu stellen.
Seit Therapiebeginn am 11.01.12 wieder fortschreitende Bewusstwerdung der Realität.
Befasse mich auch wieder damit, dass ich ja in 1998 und 1999 schon einmal eine zweijährige Therapie gemacht habe. Kann mich nur ganz vage daran erinnern. Damals
ging ich in Therapie weil ich so schlimme Zwänge hatte, wusste aber nichts von meinem Missbrauch. Unfähig, mich an irgendetwas zu erinnern was damit zusammenhängt. Wieder der Gedanke, ich muss wohl ein zweites Ich gebildet haben statt mich umzubringen oder psychotisch zu werden.
Ich verschwand nach dem Missbrauch in meiner Seele die immer noch zum großen Teil schläft. Um mich zu schützen war das der kreative Geist eines Kindes dem Entsetzen und dem Schmerz zu entkommen.
Einerseits dauernd diese Gedanken und andererseits der Konflikt tiefer Schuld weil ich andere beschuldige die mir das angetan haben. (Wenn ich mir das alles nur einbilde?)
Ich muss erst mal richtig begreifen dass sexueller Missbrauch so wie ich ihn erlebt habe körperlicher und emotionaler Missbrauch ist. Egal wie schwerwiegend er war, ob mit Glied oder nur an bestimmten Stellen streicheln. Missbrauch bleibt Missbrauch weil der Täter sich über das Kind und dessen Gefühle hinwegsetzt.
Als Kind weiß man nicht was da mit einem passiert da man es ja nicht artikulieren kann. Man weiß nur dass da etwas ganz Schreckliches passiert.
Das Urvertrauen mit dem ich geboren wurde, ist zutiefst zerstört. Ich wurde vom Täter, meinem Opa, er-presst. Erinnerungen kommen hoch. Mit meiner Mama oder mit meiner Schwester würde etwas Schlimmes passieren wenn ich jemandem etwas erzähle. Diese Sätze haben mich wahrscheinlich davon abgehalten mich jemanden anzuvertrauen. Dass die Erpressung genauso gelautet hat wurde in einer Therapiesitzung bestätigt als man mich zum wiederholten Mal danach gefragt hat
und ich aus einem Impuls heraus den gleichen Wortlaut gebraucht habe. Auch streicheln oder berühren, falls das so gewesen sein sollte, ist ein körperlicher Übergriff auf die Gefühle und ein Verletzen derer. Es gibt keinen harmlosen Missbrauch. Das muss ich mir immer wieder klar machen wenn ich anfange alles zu bagatellisieren.
Werde ich diese seelischen Narben immer behalten? Mein Opa hat mich ausgenutzt und meine kindliche Neugier auch.
In meiner Ehe 1995 bis 2002 andauernde Benommenheit.
Die mit solchen Erfahrungen verbundenen Gefühle und Empfindungen sind mehr, als die sich erst entwickelnde Fähigkeit eines Kindes dies aufzunehmen und zu verstehen, verkraften kann. Die Gefühle sind zu intensiv, die Erfahrungen zu bestürzend, vor allem wenn der Täter einen zwingt, sich keinem anzuvertrauen.
Um diese emotionale Belastung zu bewältigen begann ich ein neues Kind zu erschaffen.
Komischerweise habe ich bei Beginn der zweiten Therapie auch keine Erinnerungen mehr an meine Kleinkindheit, Kindergartenzeit oder Einschulung.
Ich habe irgendwann ein neues Ego erschaffen, das alle alltäglichen Dinge erledigt ohne Gefühle.
Verhaltensmuster - immer perfekt sein, mir keine Pausen gönnen, immer besser sein als andere, 
viel arbeiten, um Zuneigung zu bekommen.
Diese Verhaltensmuster sind entstanden, da ich bei meinem Opa immer weggehen durfte, um auf dem Bauernhof meiner Tante zu helfen. Habe da viel mehr geholfen und gearbeitet, als es normal gewesen wäre für ein kleines Mädchen.
Krampfen bedeutet für mich nicht missbraucht zu werden
Hat meine Tante, die wusste wie Opa ist, mich geopfert? Warum hat sie nie jemanden gewarnt? Hätte sie mich schützen können? So viele Fragen. Warum hat meine Mama nie was gemerkt?
Ich habe sensationelle schauspielerische Fähigkeiten entwickelt.
Haben meine Eltern deswegen nie etwas gemerkt?
Die kleine Maria schläft immer noch, damit sie den Konflikt und den Schmerz nicht an sie heranlassen muss.
Ziel der Therapie, so stelle ich mir das vor, ist aus den zwei Seelen Marias eine gesunde Seele zu machen. Braucht ganz viel Zeit. Ich entdecke jeden Tag etwas an der kleinen Maria.
Z.B. nuckle ich am Daumen, wie ich es bis ins Teenageralter getan habe oder ich sitze zusammengekauert irgendwo und schreie nach Mamas Hilfe.
Die eigentliche Frage, die immer wieder kommt: Bin ich verrückt? Diese Frage liegt allem zugrunde.
Ich spüre Angst, habe Zwänge, Zukunftsängste, Verwirrung, aber auch eine enorme Kraft und die Fähigkeit zu kämpfen. Ich weiß ja, wie das geht, mit brutalen Erfahrungen umzugehen. Was ich in diesen Tagen auch spüre ist die Sehnsucht, das große Bedürfnis, das so lange gehütete Geheimnis ans Licht zu bringen. Oder der immer wiederkehrende Gedanke: Bin ich selber schuld an allem? Ich wurde mit Drohungen und negativen Botschaften über mich selber derart manipuliert, dass ich nur allzu schnell bereit war, mich selber anzuklagen statt andere. Ich verspüre keine Wut anderen gegenüber. Kommt die noch?
Ich brauche immer wieder Bestätigung, dass das, was ich durchmache alles Reaktionen auf meine Erfahrungen sind und ich völlig normal reagiere.
Sexueller Missbrauch zerstört alles. Er verletzte mich in meiner Substanz und erzeugte in mir eine nur zu verständliche Abwehrhaltung gegen alles was mit großem Vertrauen zu tun hat.
Weil ich von meinem Opa, dem ich ja zu gehorchen und zu glauben gelernt hatte, oft missbraucht wurde, habe ich meine Fähigkeit zu vertrauen praktisch grundlegend zerstört.
Es gab keinen anderen Ausweg als fortzugehen. Wohin weiß ich nicht. Keinen Weg irgendwie damit umzugehen, also Flucht (schlafende kleine Maria).
Ich muss lernen, dass ich mir vertrauen kann und anderen vertrauen darf und dass das nicht bedrohlich für mich ist. Mir wurde ja als Kind gesagt: sprechen bedeutet Tod.
Ich war und bin eine Fassade. So habe ich mich jahrzehntelang der Außenwelt gezeigt. Gedächtnisverlust und Verlust jeglicher Gefühle. Ich war jederzeit in der Lage mich meiner Umgebung als normale und angepasste Frau zu präsentieren. Alle hielten mich für eine Frau, die alles immer im Griff hat. Meine lange Aufgabe war es, die Folgen des Missbrauchs vor der Außenwelt zu verbergen und damit den anderen zu ermöglichen unentdeckt zu bleiben.
Ich denke, dass niemand dem nicht etwas Ähnliches passiert ist ermessen kann, wie viel Kraftanstrengung ich täglich aufbringen musste um den Alltag zu meistern.
Alleinerziehend, Festanstellung, Nebenjob aber habe nach außen hin habe ich ein normales Leben
geführt, nur dass es für mich sehr viel anstrengender war als für andere. Ich weiß jetzt auch das viele Opfer angesichts dessen was sie dauernd als Schwäche, als Versagen empfinden, nach Perfektion streben.
Blitzgedanke: Vor langer Zeit und doch ganz nah.
Ein ganz neuer Gedanke: Ich fühle mich trotz allem gesegnet obwohl ich ein Leben geführt habe oder führe das ich so nicht will.
Ich weiß, mit mir hat Gott noch viel vor. Manchmal habe ich sogar das Gefühl ich darf Opa danken für alles was er mir angetan hat.
Was ist denn das für ein verrückter Gedanke?
Wenn man die Schuld auf niemanden schieben kann, so wie in meinem Fall, schiebt man die Schuld einfach auf sich, deshalb haben Missbrauchsopfer auch oft so große Schuldgefühle. Hat sich bei mir so fest manifestiert, dass ich bis heute die Schuld für alles was passiert auf mich schiebe. Folge daraus ist auch, dass ich in allen Menschen immer nur das Gute sehe – schuldig ist ja keiner – nur ich – nehme immer alle in Schutz auch wenn sie etwas Schlimmes getan haben.

09.03.2012
Meine Todessehnsucht nimmt zu.

10.03.2012
Habe geträumt, dass mein Sohn Elias ertrinkt. Hatte schreckliche Angst um ihn. Er kann sich im Traum selber retten und mir wird zum ersten Mal bewusst wie sehr ich ihn liebe.

11.03.2012
Frage mich mehrmals täglich wem ich alles erzählen kann. Habe immer das Gefühl ich muss mich recht-fertigen weil ich arbeitsunfähig bin. Die einfache Diagnose Depressionen reicht mir nicht. Als ich im Februar von der Firma nach einem Zusammenbruch nach Hause ging, dachte ich das ist jetzt das tiefste Loch. Habe mich geirrt. Am 8. / 9. und 10. März wurde es noch schlimmer. Das war nach einer Therapiesitzung in der es um die Schuldgefühle ging. Da wurde mir nochmal er-klärt warum ich mich so schuldig fühle.
Meinen Partner, mit dem ich jetzt ca. 18 Monate zusammen bin, verlässt langsam die Kraft. Er weiß nicht mehr wie er sich mir gegenüber verhalten soll. Kommt es jetzt wieder zu einer Trennung? Warum bin ich nicht fähig eine Beziehung zu führen?

17.03.2012
Am 15.03. bin ich zu meiner Tante gefahren nachdem ich am Tag zuvor in einer Therapiesitzung einen Aha-Effekt erlebt habe. Ich war mir plötzlich ganz sicher, dass mein Opa mit meiner Tante auch Dinge gemacht hat die nicht in Ordnung waren.
Ich weiß nicht woher ich plötzlich diese Sicherheit hatte. Sie war einfach da.
Meine Vermutung war richtig. Ihr erster Satz war: „unser Opa war ein Schwein“. Da war mir alles klar. Sie hatte so wie ich bis heute noch nie mit jemandem darüber geredet. Sie sagte ich hätte ihr mit meiner Konfrontation eine sehr große Last von den Schultern genommen da auch sie immer dachte sie sei verrückt. Endlich weiß sie dass sie das nicht ist. Sie hat schon immer schlimme Träume seit ihrer Kindheit. Immer wieder sieht sie Opa in einer sexuellen Stellung über sich.
Jetzt sind wir schon zu dritt.
Ich und meine beiden Tanten.

20.03.2012
Am 19.03.12 war ich bei meiner früheren Therapeutin bei der ich 1998 und 1999 meine letzte Therapie gemacht habe.
Ich kann mich an diese Zeit, in der ich auch schon so krank war, gar nicht mehr erinnern. Habe sie dann angerufen und gefragt ob sie noch Unterlagen hat die sie mir zur Verfügung stellen könnte. Nein, hat sie nicht mehr da die Aufbewahrungszeit schon abgelaufen ist. Dann hat sie mir einen Termin angeboten, um mit mir über diese Zeit zu reden da sie sich noch gut an mich
erinnern könne. Bin dann heute zu ihr gefahren. Sie wusste wirklich noch Dinge, die ich schon längst wieder verdrängt hatte.
Ich kam damals mit denselben Symptomen zu ihr.
- Gefühllosigkeit (Partner und Sohn)
- Zwänge
- Ängste
Ich wusste aber am Anfang der Therapie noch nichts von dem Missbrauch.
Wir haben uns dann eine Stunde über mich und meine vielen Fragen zu der damaligen Phase unterhalten. Als ich dann zu Hause war hatte ich einen erneuten Zusammenbruch (schlimme Suizidgedanken).
Am selben Tag 19.03.12 habe ich meinem Sohn erzählt, was mit mir los ist.
Er wunderte sich immer nur, warum ich mich so viel wasche. Ich weiß nicht, inwieweit er mit fünfzehn schon begreifen kann, was mit mir gerade passiert aber ich spüre, dieser Tag ist das Ende von Elias Kindheit.
Habe mich nach diesem erneuten Zusammenbruch entschieden einen Klinikaufenthalt zu machen (erste Infos usw).
Habe mich auch an diesem Tag nochmals bei meiner Tante, die ich vor wenigen Tagen besucht habe, telefonisch erkundigt wie es ihr geht. Sie hat sich wiederholt bei mir bedankt, dass ich ihr alles erzählt habe. Sie geht in die volle Offensive. Meine Tante hat gleich am nächsten Tag ihre Familie eingeweiht und einen Arzt besucht.
Ich habe heute meinen Chef angerufen und ihm mitgeteilt, dass ich noch sehr lange ausfallen werde. Habe auch ihm ganz grob erzählt was mir widerfahren ist.
Danach habe ich bei meinen Mandanten, die ich bisher immer noch betreut habe, um Verständnis gebeten, dass ich mich um sie in den nächsten Monaten nicht kümmern kann.
Diese Aktionen waren für mich ganz wichtig. Ist für mich eine große Erleichterung den Druck loszuwerden.
Dann erste Versuche von meiner Mama, mich zu unterstützen.
Langes Telefonat mit meinem Bruder. Er sagt, ich soll mir ganz lange Zeit lassen für alles auch wenn es viele Monate dauern wird. Seine Worte: Ich würde es nie bereuen wenn ich jetzt meine Vergangenheit komplett „aufräume“.
Ich merke, dass ich sehr viel Mitgefühl von anderen bekomme. Habe immer gedacht in unserer Gesellschaft darf man nicht schwach sein. Stimmt aber nicht, das lerne ich täglich.
Alles fällt mir so schwer!
Habe kein Zeitgefühl mehr sitze manchmal da denke es sind ein paar Minuten vorbei und tatsächlich sind es Stunden!
Jede Alltagssituation ist für mich eine große Anstrengung.
Ich fühle mich so nutzlos wenn ich nicht in die Firma gehe. Kann mir aber auch nicht vorstellen in das Büro zu gehen.

21.03.2012
Du bist dein bester Freund. Sei nett zu dir! Ich entlasse meine schlimmen Gedanken jetzt mit der Zuversicht dass eine Lösung für mich bereits auf dem Weg ist. Ich
warte darauf, dass mein Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten wieder wächst und mein Leben wieder angenehmer wird. Ich versuche, meine Vergangenheit für mich anzunehmen und wage mich jetzt an einen neuen Anfang. Kann ich das? Ich versuche Traurigkeit und Schmerz abzulegen und als neuer positiver Mensch in die Welt hinauszugehen.
Ich freue mich auf mein neues Leben!
Möchte Fortschritte machen und bin deshalb hellwach für alle Gelegenheiten die sich auftun.
Maria glaube an dich - du hast es schon einmal geschafft.
Die schlimmen Zwänge die mich völlig beherrschen lassen langsam nach. Das Medikament Fluoxetin gegen Zwänge wirkt gut bei mir.

26.03.2012
Warum ist meine Beziehung zu meinem Partner so am kriseln? Heute in der Therapie haben wir besprochen was die Ursache sein könnte. Mein Selbstwertgefühl; nicht zu verwechseln mit Selbstbewusstsein.
Da ich mich nicht als wertvoll empfinde kann ich mich auch keinem anderen zumuten. Deshalb habe ich Gedanken an eine Trennung. Bevor er sich von mir abwendet trenne ich mich von ihm, damit man mich nicht wieder verletzen kann. Ich überlasse die Entscheidung über mich keinem anderen Menschen mehr. Ich habe meinem Partner immer eingeredet dass ich ihn nicht brauche weil ich immer denke, ich muss alles alleine schaffen d.h. von niemandem Hilfe brauche. Ich bin es nicht wert, dass andere sich um mich kümmern.

27.03.2012
Was mich so furchterregend macht, ist vor allem das Rätsel wer ich bin. Was bleibt noch von mir übrig? Ich weiß nicht woher der Gedanke kommt aber ich stelle ihn nicht in Frage.

31.03.2012
Am Freitag 30.03.12 haben mein Freund und ich uns getrennt. Er hat sich von mir entfernt, weil er nicht weiß wie er mich behandeln soll und darf.
Wie soll ich das jetzt auch noch verkraften? Habe ich noch genug Kraft um das auch noch zu verarbeiten?
Wann entdecke ich meine Fähigkeit fröhlich zu sein, zu lachen und nicht nur Finsternis zu sehen und Kälte zu spüren wieder? Ich möchte, dass der Fluss aus Trauer in dem ich schon so lange treibe austrocknet.
Lieber Gott ich weiß nicht ob du da bist. Aber wenn ja dann mache irgendetwas. Ich halte das nicht mehr lange aus.

02.04.2012
Heute habe ich die ersten schriftlichen Aktionen gestartet die man erledigen muss wenn man einen Klinikaufenthalt machen möchte bzw. muss.

05.04.2012
Ich war vom 03.04.-05.04.12 bei meinem Bruder in Stuttgart. Kann zurzeit nicht so gut alleine sein. Dort herrsch das pure Leben nach dem ich mich so sehne. Hat mir gut getan so liebe Menschen um mich zu haben.

06.04.2012
Heute ist Karfreitag. Bin froh, dass ich mit meinen Eltern zu meiner Schwester, die weiter weg wohnt, fahren darf. Habe zurzeit große Angst vor dem alleine sein. Wenn ich allein bin habe ich immer so große Todessehnsucht. Danke an meine Familie.
Habe mich mit der Krankheit Depression als Folge meiner Vergangenheit auseinander gesetzt. Konnte diese Krankheit für mich bisher nicht annehmen.
Was sind Depressionen und wie empfinde ich sie? Versuche es mal mit meinen Worten zu erklären: Eine De-pression ist eine Ganzkörpererkrankung. D.h. Die körperliche Gesundheit ist genauso beeinflusst wie Gefühle, Gedanken, Emotionen und das Verhalten anderen gegenüber. Depression ist viel mehr als eine längere Phase der Traurigkeit.

Leere
Gefühl von Gleichgültigkeit
Wertlosigkeit
Apathie
Verlust der Freude an allem auch an alltäglichen Dingen
Auswirkung auf Schlaf, essen, denken....
innere Unruhe die nie aufhört
Hilflosigkeit
andauernde Müdigkeit
Störung des Nervensystems, Aussetzer usw.

All das empfinde ich.
Missbrauchsopfer haben lebenslänglich!

Nicht alle sind glücklich die glücklich scheinen. Manche lachen nur, um nicht zu weinen.


Über die Autorin
Maria Martin wurde in den 70er Jahren geboren. Sie ist in einer kleinen Gemeinde in der Nähe der Schweizer Grenze aufgewachsen, wo sie auch heute noch lebt.
Als kleines Mädchen wurde sie über viele Jahre von ihrem Großvater sexuell missbraucht und zum Schweigen gezwungen. Heute muss sie nicht mehr schweigen und das ist auch einer der Gründe, warum dieses Buch nach vielen Therapien und einem Klinikaufenthalt im Frühjahr 2013 entstanden ist.

Sonntag, 20. Oktober 2013

Leseprobe aus DIE HALBTOTE von Julia Molnar (Selfpublisher)

Die Halbtote
Ein kurzer Auszug


Wie fühlt sich der Tod an? Gefühllos? Ein an den Kräften zerrendes Band des
verloren Seins in einem Kreis der ewigen Nacht? Der Tod ist in seiner gesamten
Gestalt und Weise, wie er Leben nimmt, natürlich. Ja an jedem Lebensanfang steht
ein lebenauslöschendes Schicksal, das sich erfüllen wird, egal was man tut. So
mögen die Menschen noch so schnell voraneilen, die Medizin noch bessere
Medikamente entwickeln, nichts stoppt den Lauf des vorbestimmen Weges. Du
stirbst nur einmal. – Wirklich? Das sagen sie alle, denn so steht es geschrieben! In
Büchern, den Texten der Wissenschaft, den Erfahrungen der Menschen. Nur ein
Leben. Dieses eine!
Das dachte auch ich, bevor die Kette der Ereignisse begann. Wie gerne würde ich
wieder in einen Zustand des Unwissens fallen, in dem die Rationalität siegt. So
sehr möchte ich ihnen allen wieder Glauben schenken – Sokrates, Galen, Versal,
waren sie nicht auf dem richtigen Weg? Ich glaubte nicht, ich sah nur. Was ich
nicht sah, war nicht vorhanden – zumindest nicht für mich.
»Habe keine Angst vor dem Tod«, hörte ich meine Mutter immer wieder sagen.
»Er berührt jeden nur ein einziges Mal.«
Das stimmte auch, bis ich diesen Namen bekam. Er sollte Schrecken bringen,
Angst vor dem Dunklen, noch mehr Furcht vor dem Hellen.
Was war das auf der anderen Seite dieser Tür? Regentropfen? Meine Lippen
verzogen sich zu einem närrischen Lächeln. Meine Finger griffen nach dem
metallenen Bügel meines schwarzen Regenschirms. Ich öffnete die hölzerne Tür,
die wie immer auch an diesem Abend klemmte. Ein Luftzug zischte an meinem
Gesicht vorbei. Diese Stimme, kalt und erbarmungslos, schien mich wieder zu
rufen. Ja, ich würde wieder Verderben bringen. Ich trat aus dem Haus und ging
langsamen Schrittes mit erhobenem Schirm durch die dunklen Gassen. So kühl
das Wetter heute auch war, ich spürte es nicht. – Oder nicht mehr? Meine Schritte
hallten in der verlassenen Straße wieder. Schließlich blieb ich stehen, vor dieser
Tür. Weiß, mit netten Verzierungen von Schlingpflanzen, die jegliche schlechte
Vorahnung im Keim ersticken. Hinter dieser Tür, in diesem Raum, zu dieser
Stunde, bei diesem Atemzug würde eine weitere Seele fallen. – In meine Arme?
Nein, in seine Hände! Und ich wusste nur zu gut, wie kalt sie waren. Zögernd
blickte ich auf die Tasse nieder, die von ihrem Besitzer verwahrlost auf der Straße
stehen gelassen wurde. Zu Hälfte war sie noch mit Tee gefüllt, der nun von den
Tropfen verdünnt wurde, die in diesen fielen. Tropfen für Tropfen. Tropf, tripf,
tropf. Eine Brise wehte von den Dächern zu mir hinüber und sag es, mein Lied.
Meine Lippen öffneten sich leicht, ich machte meine Stimme bereit. Mit großen
Augen und unschuldigem Lächeln klopfte ich an die Tür, mein Lied summend. Der
Griff bewegte sich nach unten, der Spalt zwischen Tür und Türpfosten wurde
größer.
»Ja?«
Ich summte mein Lied.
»Kann ich dir helfen, mein Kind?«
Na, na, meine Stimme liebkoste jeden Ton.
»Bist du allein?«
Mhmm Ah.
Die Person in der Tür machte einen Schritt zurück. Die Verunsicherung nahm
Besitz von ihr. Nervös drehte sie an der Türklinke.
»Nein ich kaufe nichts. Sprich zu mir oder geh!«
Langsam in erhabener Art und Weise hob ich meinen Kopf und fixierte den Mann
mit meinem Blick. Lächelnd wog ich meinen Kopf zur Seite und hob meine Hand
zum Händedruck. Er blieb unerwidert.
»Wer bist du?«

(c) Julia Molnar (aus: Die Halbtote)

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Auszug aus: 7 Männer für Emma von Jo Berger

Wer sieben gute Bücher hat,
braucht keine Menschen mehr.
Börries Freiherr von Münchausen (1874-1945)


Ich hätt´ gern sieben Männer,
dann bräucht ich keine Bücher mehr.

Emmas Leben läuft aus dem Ruder. Insbesondere die Sache mit der Liebe bereitet ihr schlaflose Nächte. Nach der Trennung von einem unerträglichen Perfektionisten muss die junge Frau nicht nur ihre Frustpfunde auf den Hüften loswerden, sondern in erster Linie das Vertrauen die Männerwelt und - vor allen Dingen - in sich selbst wiedererlangen. Doch das starke Geschlecht macht es Emma nicht leicht. Tritt es nun in Form von diversen Schönlingen auf, als steife Vorgesetzte im Büro oder als herzlose Automechaniker.
Wie gut, dass es beste Freundinnen und Weinschorle gibt.



Denkmal unter der Dusche (aus: 7 Männer für Emma, Jo Berger)

Wer behauptet, Autofahren macht keinen Spaß, lügt. Täglich fuhr ich mit Leidenschaft eine halbe Stunde einfache Strecke ins Büro und wieder zurück. Auf der Autobahn. Dort nämlich, besonders im Sommer, wenn sich Stoßstange an Stoßstange auf dem heißen Asphalt vorwärts schob, konnte ich so richtig abschalten. Alle Fenster heruntergekurbelt, mein Kopftuch adrett zusammengebunden, Ellenbogen zum Fenster raushängend fühlte ich mich wie Grace Kelly auf der Küstenstraße. Mit der einzigen Ausnahme, dass es auf der A5 etwas voller war und ich nirgends die Leitplanken durchbrechen und den Abhang hinunterstürzen konnte. Deutschlands Autobahnen waren sicher.
Ich zählte mich zu der Gattung der gediegenen Golf-Fahrer. Das Auto war sicher und robust und verlieh der Fahrerin einen Hauch Understatement. Dass der Auspuff nur noch an einer Schraube hing, die Füllung aus den Sitzen kam und die Zündkerzen schon mal irgendwie zündender gewesen waren, zählte nicht. Ich liebte mein Auto, sprach mit ihm und es antwortete mir mit einem zärtlichen »Pottpott«. Auch bei hundert Sachen.
Geschafft! Acht Uhr abends, und ich war endlich zu Hause. Aufatmend riss ich mir die Business-Klamotten vom Leib und warf sie über den Stuhl. Meine Füße taten weh. Ich begutachtete meine schmerzende Ferse. Sie wurde von einer riesigen Blase gekrönt. Ich hatte mal gelesen, Leder neuer Schuhe würde schön weich, wenn man reinpinkelte, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, den Trick auszuprobieren.
Was nützten mir schöne weiche Schuhe, wenn der Geruch jede Gesellschaft vertrieb?
Mein Anrufbeantworter blinkte heftig. Ich drückte auf Wiedergabe.
»Hallo, Emma, ich bin’s! Ich würde dich gerne treffen. Vielleicht morgen? Im Café Dreh in Heidelberg um sieben? Ruf mich doch zurück. Meine Nummer hast du ja.«
Wer war Ich bins? Den Schuh noch in der Hand steckte ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen und kramte nach meinem Feuerzeug. Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Eine männliche und warme Stimme. Mal überlegen. Wen hatte ich letztes Wochenende kennengelernt, der mir seine Telefonnummer gegeben hatte? Au Backe, Samuel! Samuel war der Barkeeper in unserer Lieblingskneipe und ein wirklich lustiger Geselle. Leider so gar nicht mein Typ. Barkeeper waren immer die auserwählten Opfer liebesbedürftiger Solistinnen. Aber Lynn und ich waren nicht liebesbedürftig. Und schon gar nicht zählten wir uns dem Kreis schnatternder Hühner zugehörig, die aufgereiht am Tresen hockten und auf ein Körnchen vom Bauern hofften. Nein, wir waren selbstbewusste, beruflich erfolgreiche Frauen, die wussten, wo’s langgeht. Wir ragten durch unseren Charme weit über die Menge der sich anbiedernden Weibchen heraus. Die Barkeeper flogen auf uns, nicht wir auf sie.
Siehste, Hagen, anderen Männern gefalle ich. Auch mit Schwabbelschenkeln.
Ich hatte mich wohl dazu hinreißen lassen, mit Samuel zu flirten, rein der Übung halber. Irgendwann hatte er mir seine Telefonnummer zugesteckt, und Lynn gab ihm meine. Biest! Da hatte ich den Salat.
Andererseits, Salat war gesund und super, wenn man abnehmen wollte, und Samuel war ein netter, lieber Anfang-Dreißiger, der nur nebenberuflich hinter der Bar stand. Und er hatte große blau strahlende Augen mit für einen Mann ungewöhnlich langen Wimpern. Und er war Skorpion.
Überredet. Ich würde ihn anrufen. Skorpion! Das passte zu einem Löwen wie mir! Ich hatte zu meinem letzten Geburtstag ein Löwe-Buch geschenkt bekommen. Es stand weit hinten im Regal, versteckt hinter Leitfaden Finanzierung, Nieten in Nadelstreifen und Ganz legale Steuertricks. Ich zog es hervor und blätterte. Ah, da. Der Löwe und sein Liebeshoroskop. Löwe und Skorpion. Ein wahres Feuerwerk der Leidenschaft. Huh! Gesucht und gefunden. Der eine kann ohne den anderen nicht sein. Ergänzung und Harmonie in allen Lebenslagen. Löwenherz, was willst du mehr?
Ich griff zum Telefon und wählte.
»Zweiler?«
Eine Frauenstimme. Na, super. Verheiratet, zwei Kinder und einen Kombi in der Garage.
»Weber mein Name. Ich bin eine Kollegin von Samuel und habe ein paar Fragen wegen des Meetings. Ist er zu sprechen?«
Gut gebrüllt, Löwin.
»Moment bitte. Mein Sohn ist noch unter der Dusche. Ich sehe mal nach, ob er ans Telefon kommen kann, ja?«
»Ähm … ja. Bitte. Danke.«
Sohn! Ich bat Samuel innerlich um Verzeihung. Warum musste ich auch gleich an Betrug, Hinterlist und Untreue denken?
»Saaaaamueeel! Teeeleefoon!«, hörte ich Mutti rufen. »Eine Frau Weber!«
Ein erwachsener Mann, der noch bei Muttern wohnte? Na, auch nicht das Gelbe vom Ei. So einer war es gewohnt, sich bekochen und betüddeln zu lassen. Wo sind meine frischen Socken? Und ist das gute Hemd schon gebügelt, und was gibt es denn zu essen, hörte ich ihn in Gedanken.
»Hallo, Emma. Das freut mich aber, dass du so schnell zurückrufst!« Er hatte meinen Nachnamen behalten. Pluspunkt.
»Ja. Ähm, sorry. Habe ich dich unter der Dusche rausgeholt?« Immerhin, keine völlig abstoßende Vorstellung.
»Nein, ist schon okay. Ich komme gerade vom Sport, da springe ich danach immer schnell unter die Dusche.«
»Hm. Ja.« Huch, ich war ja aufgeregt. Wie das denn? »Wir können uns gern treffen. Morgen im Café Dreh. Um sieben?«
»Schön. Super. Freu mich.«
Vielleicht hatte ja bis morgen einer von uns gelernt, wie man sich unterhielt, ohne zu stottern, sonst würde dieses Date gewaltig in die Hose gehen.
Jetzt machte ich es mir erst mal gemütlich. Ein Gläschen Rotwein, sanfte Musik und mein Tagebuch. Ich schlüpfte in meine Lieblings-Löchersocken und musste bei ihrem Anblick unwillkürlich an Hagen denken. Was er jetzt wohl machte? Entweder arbeitete er noch, oder er überprüfte seine Kontoauszüge. Oder er schlief vor dem Fernseher, bei einer politischen Debatte. Alles andere als politische Debatten und Wirtschaftsmagazine war Schund. Er sollte sich ein Denkmal aufstellen lassen. Denkmal!
Da sagte die Oma zu Klein-Frieder: Guck, Enkel, das ist ein Bild von Opa. Denkmal ganz fest an ihn, dann lebt er in dir weiter. So oder so ähnlich musste das Wort entstanden sein.
Genüsslich streckte ich die Füße auf dem Tisch aus und öffnete mein Tagebuch. Der Anblick weißer, unbeschriebener Seiten entzückte mich immer wieder aufs Neue. Es war ein schönes Gefühl, diese reinen Seiten mit kräftiger blauer oder schwarzer Tinte zu beschreiben. Nur hatte ich die dumme Angewohnheit, das Datum oben auf die Seite zu schreiben und dann in Gedanken zu verfallen. Eine Stunde später erwachte ich aus der Trance und hatte nicht eine Zeile zu Papier gebracht. Meistens kritzelte ich dann im Telegrammstil ein paar Informationen für die Nachwelt: anstrengender Tag heute. Viel gearbeitet. Stress. Immer noch zu fett! Muss abnehmen. Müde jetzt. Gute Nacht.
Wie würde wohl der Abend mit Samuel werden? Schließlich waren da nur wir beide. Keine anderen Menschen, die uns über eventuelle peinliche Schweigeminuten hinweghelfen könnten. Was, wenn wir uns rein gar nichts zu sagen hätten?
»Nette Kneipe hier.«
»Mhm. Nett.«
»Bist du öfter in der Stadt unterwegs?«
»Na ja, halt samstags. Du?«
»Ja. Auch.«
»Mhm.«
»Mhm.«
Grauenvoll! Wenn das eintrat, schwor ich mir, würde ich in alle Schuhe dieser Welt strullen.
[...]

(c) Jo Berger bzw. chichilli verlag

Sonntag, 24. Februar 2013

Der LeiterwagenXaverl (Romanauszug 1) von Alfred Franz Dworak

Xaverl hat der ganze Trubel um seine Person sehr mitgenommen. Er liegt fast den ganzen Tag nur noch im Bett und liest Bücher. Die Tante bringt ihm öfters Leckereien, wie Schokolade und Zuckergebäck vorbei. Aber wenn sie dann ein paar Stunden später nachsieht, sind die Köstlichkeiten unangetastet. An einem anderen Tag macht sie den Vorschlag, mit der Kutsche nach Mautdorf zu fahren. Der Xaver sollte von Schneidermeister Birgel einen neuen Anzug bekommen, aber der Junge weigert sich strikt, das Bett zu verlassen. Der Pfarrer möchte das nicht länger mit anschauen:
»Xaverl, ich weiß, das Verhalten der Erwachsenen hat dich verletzt. Aber wenn du dich jetzt verkriechst, haben die Leute erreicht, was sie wollten.«
Xaverl kann im Augenblick mit gut gemeinten Ratschlägen überhaupt nichts anfangen:
»Wissen Sie Herr Pfarrer, mein ach so toller Namenspatron, der Franz-Xaver von Navarro hat immer bedingungslos an das Gute im Menschen geglaubt und wurde verraten. Er hat dadurch sein Ziel, China zu bereisen, nie erreicht und ist vor Gram und Enttäuschung gestorben. Vielleicht ist es besser, wenn ich auch sterbe!«
Der Pfarrer schreckt auf, ermahnt den Jungen:
»Xaverl zügle deine Worte. Das ist eine Todsünde! Zieh dich jetzt an. Ich sehe dich in einer halben Stunde in der Kirche zum Beichten.«
Dörflinger schüttelt den Kopf und verlässt Xaverls Zimmer. Mit Drohungen erreicht man bei Xaverl zweimal nichts. Wütend nimmt er das Buch über China und schleudert es mit voller Wucht in die Ecke. Sein Blick wandert zum Tisch, wo ein Messer neben dem Apfel auf dem Teller liegt. Xaverl rafft sich auf, robbt auf dem Bett Richtung Teller, nimmt das Messer in die Hand. Er spielt mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen:
»Wie wäre es, wenn ich es mir in das Herz rammen würde?«
Plötzlich klopft es am Fenster. Erschrocken zuckt er zusammen und lässt das Messer wieder auf den Teller fallen. Maries Kopf ist am Fenster zu sehen. Bei ihrem Anblick verlassen ihn die dunklen Gedanken sofort. Behände robbt er zum Fenster und öffnet den Flügel:
»Der Vater hat mich eingesperrt. Der Schmied, dein Vater und all die anderen Männer im Dorf wollen nicht, dass du die Kinder unterrichtest.«
Xaverl beruhigt sie:
»Ist gut Marie, komm erst mal rein!«
Marie klettert durch das Fenster herein, dabei verrutscht der Rock und gibt den Blick zu ihrer Unterwäsche preis.
»Du hast schöne Beine.«
Marie errötet leicht. Xaverl zieht die hübsche junge Frau an sich, küsst sie vorsichtig. Marie ist aufgeregt, küsst ihn kurz zurück, klettert dann wieder aus dem Fenster und verschwindet. Xaverl merkt, dass sein Glied hart geworden ist. Er hat sich bisher mit dem Thema Sexualität nicht beschäftigt. Marie kommt wieder ans Fenster zurück:
»Bin ich nun schwanger?«
»Marie, ich weiß nicht! Komm morgen noch mal um die gleiche Zeit vorbei, ich mach mich in der Zwischenzeit schlau.«

Xaverl ist dann doch zum Beichten gegangen bzw. mit dem Rollstuhl gefahren. Er dachte sich, vielleicht sei es doch keine so gute Idee gewesen, das mit dem »Nicht-mehr-Leben-wollen«. Schließlich gibt es mit Marie doch eine Person, die ihn dringend braucht.

Nachmittags ist er alleine im Pfarrhof. Der Pfarrer ist mit der Tante und Franz nach Mautdorf gefahren um das neue Messgewand bei Schneidermeister Birgel abholen. Xaverl sollte ursprünglich mit, doch er täuschte Rückenschmerzen vor. Da die Erwachsenen schon froh sind, dass er überhaupt wieder aus seinem Zimmer gekommen ist, lassen sie ihn in Frieden. Daher kann er jetzt in Ruhe seinem Vorhaben nachgehen. Xaverl fährt mit dem Rollstuhl in die Bibliothek, auf direktem Weg zu dem Geheimfach des Pfarrers. Dort, wo die verbotenen Bücher lagern. Xaverl betrachtet die Buchtitel. Bei einem bleibt er hängen. Er zieht ein lateinisches Werk mit dem Titel »Der Mensch – Entstehung und Entwicklung« raus. Interessiert blättert er und liest darin. Es sind auch Zeichnungen der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane zu sehen. Und die Beschreibung des Zeugungsaktes. Xaverl ist kurzzeitig fasziniert, denkt an die Begebenheit mit Marie. Doch dann kommen ihm vergangene Bilder seiner Eltern hoch und es überfällt ihn ein Gefühl der Traurigkeit. Jetzt versteht er das Ganze. Xaverl will so schnell als möglich mit dem Pfarrer reden.

Fortsetzung folgt ...


(c) Alfred Franz Dworak (aus: Der LeiterwagenXaverl)