TEXTOR
Schwarz Gold Blau
Trikont 2012, als LP und als CD
Textor, bekannt als ein Teil der Kinderzimmer Productions, war immer schon mehr als das. Vor allem musikalisch hat er stets weiter gedacht. Das beweist er jetzt mit „Schwarz Gold Blau", einer ungewöhnlichen Platte von ungewöhnlichen Musikern über einen ungewöhnlichen Protagonisten. Alles klingt nach Rückwärts- oder Parallelspielen, aber versetzt, vieles passt gar nicht zusammen. Was Textor aus seiner Zeit als Rapper mitgebracht hat, ist dieses ungeheure Talent für Sprache und die Gabe, durch Geschichten eine Welt entstehen zu lassen. Ein Reim muss sich nicht nur reimen, er muss einen Klang haben. Eine Geschichte erzählt sich nicht nur über den Inhalt, sondern auch über die Form, und diese Geschichte ist eine, die uns allen wohlbekannt ist, es aber auch wert ist, neu erzählt zu werden.
„... Diesmal wollte ich mir ruhig anschauen, was mir beigebracht wurde, also auch sehen, was ist und nicht nur das, was sein sollte, ich wollte sortieren, was bleiben darf und was gehen muss ..." Textor
Da steht der junge Mann in der Großraumdiskothek in der Nähe einer süddeutschen Kleinstadt. Nachdem er den Samstagnachmittag mit Kiffen, Playstation spielen und Vorglühen verbracht hat, lässt er den Samstagabend vergehen, indem er weiter Alkoholabusus betreibt, mit seinen Kumpeln dummes Zeug redet und auf die Ärsche der Frauen, die sich vor ihm bewegen, starrt. Er wirkt wie ein Klischee. Wenn da nur nicht dieser Klang wäre: Dieses tiefe Grummeln eines Kontrabasses, das nach anderthalb Minuten einsetzt, will nicht so recht passen. Es deutet schon das drohende Gewitter an, das über unseren jungen Helden hereinbrechen wird.
„... da gibt es ein kurzes Zeitfenster in den 20ern und 30ern, urbane Musik auf Deutsch von hauptsächlich jüdischen Künstlern, in der eine Nähe zwischen klassischer Musik und Pop der Zeit sichtbar wird, die es so nicht mehr gibt ... " Textor
Textor erzählt, nein, singt und rappt auf „Schwarz Gold Blau" in elf Stücken liebevoll die lückenhafte Biografie des jungen Manns aus dem Opener „Lift off". Dazu spielt Rüdiger Kurz' Ensemble Akkordsport auf: zwei Geigen, ein Cello, ein Kontrabass, ein Klavier, eine Gitarre. Kein Schlagzeug, denn den rhythmischen Zug kann man auch mit anderen Mitteln erreichen, durch die alte, schlagzeuglose Rhythmus-Section aus den 40ern. Hier und da wird ein elektrischer Bass gesetzt, ersetzt ein Rhodes das Piano, ergänzen ein paar elektronische Sampeleien den Klang, und wofür das alles? Um nichts weniger als ein Leben und eine Reise und ein Land zu erschaffen.
Genauer gesagt Westdeutschland, mit dem Gefühl, dass Helmut Kohl einem auf der Brust sitzt und Dieter Thomas Heck dieses bizarre Erlebnis moderiert, aber mit Trio und Kraftwerk im Ohr, die Kompositionen von Werner Heymann und Mischa Spoliansky spielen, während man in seinem Poesiealbum die Einträge von Marlene Dietrich und Hildegard Knef anstaunt. So laufen auch die musikalischen und textlichen Zitate durch die Lieder, Alles, was einem lieb oder verhasst oder beides ist erkennt man im korrekten Moment wieder: In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine, was hat Dich bloß so ruiniert. Heiter Skelter, Kreuzberger Nächte, Der wilde wilde Westen, der gleich hinter Hamburg anfängt, und zwar genau im Wagen vor mir. Rata rata ratatatata.
„... Es ist wohl kein Zufall, dass der erste Song an dem ich gearbeitet habe „Fahr mich nach Hause" war, denn die erste große Frage ist: Wo und wie ist zu Hause?" Textor
Denn hier sind wir auch ständig auf der Reise - A7 und B19 als Bezugsstrecken durch West-D - von Berlin über Hamburg nach Neu Ulm. Der Weg weg beschreibt auch den Weg dorthin, und dann lässt „Neu Ulm", diese vierminütige rhythmisierte, gereimte Aufzählung all der deutschen Kleinstädte, in denen man gerade nicht ist, Autobahnen vor dem geistigen Auge entstehen und erinnert an Orte, die es nur in den Verkehrsnachrichten gibt - die Walldorfs, Wieslochs, Rauenbergs des Landes, in denen noch nie ein Mensch gewesen ist.
Außer eben unser Freund aus der Großraumdiskothek, der ja nun doch irgendwo sein Leben bestreiten muss. Wir treffen ihn (oder jemand, der er sein könnte) immer wieder in verschiedenen Zuständen, wir rauchen mit ihm sonntagnachmittags die ersten Kippen auf dem Parkplatz „Vorm Schleckermarkt" oder stehen in dieser schrecklichen Disko und wissen nicht wohin vor lauter peinlicher Berührtheit. Mal spielt die Musik voller Streicher ganz exakt am Kitsch vorbei. Dann wieder gibt es zurückgenommene Arrangements, die sich ganz dem melancholischen Text unterordnen, oder fröhlich hüpfende Melodien, die positive Empfindungen erzwingen. Denn letztlich, so viel sei schon verraten, geht ja alles gut aus.
„... ich wollte mich dem Eckigen, Kühlen, Verkopften, Sehnsuchtsvollen und Wehmütigen trotz allem nähern, anerkennen, was ich mir nicht aussuchen konnte und respektieren, wofür ich mich entschieden habe ... " Textor
Die elf Stücke von „Schwarz Gold Blau" sind irgendwo zwischen dem deutschen Lied und dem amerikanischen Song angesiedelt. Das erklärt auch die Instrumentierung: Das Tanzorchester muss anders als normal sein, weil es normal nicht gibt - schon gar nicht im Leben des jungen Mannes. Textor beherrscht die Kunst, Geschichten zu erzählen, die wir alle kennen. Er macht liebevoll das sichtbar, was wir eigentlich alle hinter dem Klischee entdecken könnten, wenn wir nur einmal hinsehen würden. In diesen elf Liedersongs entsteht ein Kaleidophon, in dem statt bunten Glasscherben die Musik, Melodie, Rhythmus und Text sich verschiebend blitzen, die sich zu einem fragmentarischen, gebrochenen Ganzen zusammensetzen. Jemand singt „Ich" für Dich, nennt einen Namen, und es fühlt sich wahr und gut und schön an.
„... so akustisch, so trocken, so unsentimental wie möglich. Genau wie die Geschichte, die das Album erzählen soll." Textor