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Mittwoch, 11. Dezember 2024

Wie war's in der Premiere von Guiseppe Verdis Oper MACBETH unter der Regie von R.B. Schlather?

Verdis MACBETH in der Oper Frankfurt a.M. als moderner Opernkrimi von hoher Qualität 


Die Premiere von Giuseppe Verdis Macbeth an der Oper Frankfurt am 1. Dezember 2024 katapultierte uns unter der Regie von R.B. Schlather vom alten Shakespeare in die Jetztzeit.

Wie schon lange in der Geschichte ist alles nur eine Wiederholung unter der Sonne, selbst wenn sie einmal vor lauter Dunst nicht mehr zu sehen sein wird. Weil die menschlichen Interaktionen so von Kalkül, Irrationalität, Emotionen und Egozentrismus geprägt sind, wird es immer wieder zu positiven wie negativen Manifestationen der Eigenheiten, des Extremismus und der Enormitäten kommen. Ganz aktuell Baschar al-Assad in Syrien, dessen Flucht die Kerker und Gefängnisse öffnete, Grausamkeiten und Schandtaten entblößte. Auch früher bei Saddam, dem Ex-Diktator im Irak, dasselbe. Machtspiele, Korruptheit und mörderische Berechnung kennzeichnen auch Macbeth und seine Frau. Sie ist tatsächlich die treibende Kraft, voller Berechnung, mit den Waffen der Sexualität, Mordgier und Berechnung: "Fürchtest du dich, in deiner Tat und Tapferkeit derselbe zu sein, wie du es im Verlangen bist?" (1. Akt, Szene 7).



 v.l.n.r. Tamara Wilson (Lady Macbeth), Karolina Bengtsson (Kammerfrau der
Lady Macbeth) und Erik van Heyningen (Arzt)
Foto: 
Monika Rittershaus



Regisseur R.B. Schlather verlegte die Handlung in ein ganz modernes Villeninterieur mit großer Fensterscheibe zum angrenzenden Park. Dort könnte auch eine Familiendramaszene von klassischen und modernen amerikanischen Sozialdramatikern, wie Arthur Miller oder Eugen O'Neill, spielen. Die psychologischen Aspekte der Charaktere stehen im Vordergrund. Das zwar schlichte, aber dynamische, Szenenwechsel und spannende visuelle Effekte erlaubende Bühnenbild von Etienne Pluss auf der Drehbühne schafft einen enormen Raum in die Tiefe und zu den Seiten. Die Lichtgestaltung von Olaf Winter taucht alles in passendes, mal gleißendes oder angemessen gedämpftes Licht.

Insgesamt wirkte die Produktion musikalisch sehr kraftvoll und geschehnisreich, durch die Regie spannend wie ein Krimi oder historisch-medial schon fast wie ein modernisierter Monumentalfilm. Das Personal auf der Bühne war schon sehr beeindruckend und zahlreich. Es waren schätzungsweise 60 Personen zeitweise anwesend. 



Chor der Oper Frankfurt
Foto: 
Monika Rittershaus


Die Stimmen ein voller Genuss: Nicholas Brownlee als fantastischer Bassbariton, ebenso Bariton Kihwan Sim als Banquo, die Tenöre Macduff Matteo Lippi und Malcolm Kudaibergen Abildin, bei Lady Macbeth ein kleines Wunder: Sopranistin und dramatisches Schwergewicht Tamara Wilson hatte Grippe und Stimmversagen, sie spielte trotzdem und mimte weitgehend ihre Gesangspartien, während die blonde Vertreterin Signe Heiberg innerhalb von Stunden in der Lage war aus Dänemark anzureisen, das ganze Libretto im Kopf hatte und am Rande stehend alles rettete! Eine sehr interessante Vertretung, die Tamara Wilson wirklich ebenbürtig vertreten konnte. Die Rolle der Lady Macbeth wird oft als eine der herausforderndsten und faszinierendsten in der Opernliteratur betrachtet, und Sängerinnen, die diese Rolle übernehmen, werden häufig wegen ihrer dramatischen und emotionalen Leistung ausgesucht und gefeiert. Hier die Teilung der Rolle in Theatralik in der Mitte und sehr beeindruckende Stimme am Rand, die das sehr gut meisterte. 

Die Rezeption von Verdis Macbeth seit der Uraufführung in Florenz 1847 war überwiegend positiv und vielfältig. Die Oper wird oft für ihre dramatische Intensität und musikalische Brillanz gelobt. Besonders geschätzt werden die leidenschaftlichen Arien und die komplexen Charaktere, die Verdi geschaffen hat. Einige Kritiker hoben die düstere Stimmung der Oper hervor, die perfekt zu Shakespeares Tragödie aus dem 11. Jahrhundert passt. Die Themen von Macht, Ehrgeiz und Wahnsinn in immer einem neuen Licht zu zeigen ist die Aufgabe der Regisseure.

Manfred Orlick, ein Literaturkritiker, befasste sich mit der Geschichte der Shakespeare-Rezeption in Deutschland und hat zahlreiche Artikel und Bücher zu diesem Thema veröffentlicht.  In seinem Werk "Shakespeares Tyrannen – eine Machtkunde" untersucht er die Frage, wie ein Tyrann wie Macbeth an die Macht kommt und welche psychologischen Mechanismen dabei eine Rolle spielen. Er analysiert, wie Macbeth von Selbstliebe und Selbsthass zerrissen wird und schließlich zum Mörder wird. 
Heiner Müller hat eine bedeutende Interpretation von Shakespeares Macbeth geliefert. Seine Version des Stücks wurde 1971 geschrieben: "Macbeth ist ein Stück über die Dialektik der Macht. Nach der Flut grausamer Diktatoren, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, rückt neben Hamlet auch Macbeth in die Reihe der archetypischen Figuren." Auf den Vorwurf hin, sein Stück sei regelrecht sadistisch geraten, antwortete er: "Sadistisch ist die Wirklichkeit, die ich beschrieben habe." Seine düstere Sicht auf die Welt fasste Müller in einem Satz zusammen: "Die Welt hat keinen Ausgang als zum Schinder." Müller sah Macbeth als eine Allegorie auf die brutalen Machtkämpfe und die Repressionsinstrumente des Staates. Seine Interpretation betont die mechanische Natur der Tyrannei und die fatalistische Weltsicht, die in der Geschichte versteckt ist. 
Die französischen Psychoanalytiker haben sich natürlich auch mit Macbeth beschäftigt. Jacques Lacan hat "Macbeth" durch die Linse seiner psychoanalytischen Theorien betrachtet. Er argumentiert, dass die Sprache der Hexen Macbeths Verlangen nach Macht auslöst und dass Lady Macbeth als Verlängerung der Hexenwirkung ihm hilft, dieses Verlangen in die Tat umzusetzen. Machtstreben aus sexuellem Begehren. Lacan verwendet u.a. seine Theorie des "sozialen Ich", um zu zeigen, wie Lady Macbeth keine Rücksicht auf ihr öffentliches Bild nimmt, um den Thron für Macbeth zu ergreifen.
Gilles Deleuze und Félix Guattari haben "Macbeth" in ihrem Werk "Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie 2" behandelt. Dieses Buch ist bekannt für seine komplexen und vielschichtigen theoretischen Konzepte, die verschiedene Disziplinen wie Philosophie, Soziologie, Literatur und Psychologie aufrufen. Sie betrachten das Stück als Beispiel für "minoritäre" Identitäten, die gegen die dominierenden Strukturen der Gesellschaft rebellieren. Sie argumentieren, dass die Figuren in "Macbeth" und "Othello" verschiedene Stadien der Metamorphose durchlaufen, um ihre eigenen "Fluchtlinien" zu formen und sich von den dominanten Kräften zu befreien. Gilles Deleuze und Félix Guattari verwenden den Begriff "ligne de fuite" = Fluchtlinien in ihrem Werk "Kapitalismus und Schizophrenie". Dieser Begriff beschreibt eine der drei Linien, die sie als Assemblagen bezeichnen. Eine Fluchtlinie ermöglicht es einer Assemblage, sich zu verändern und sich an neue soziale, politische und psychologische Faktoren anzupassen. Diese Linie markiert die Möglichkeit und Notwendigkeit, alle Multiplizitäten auf einer einzigen Ebene der Konsistenz oder Äußerlichkeit zu vereinen.

Die historische Figur Macbeth regierte Schottland von 1040 bis 1057. Er bestieg den Thron durch die Ermordung von König Duncan I., was auch in Verdis Oper dargestellt wird. Duncan I. war der König von Schottland, der 1040 von Macbeth und dessen Verbündeten ermordet wurde. In der Oper wird Duncan als friedlicher und gütiger Herrscher dargestellt, dessen Ermordung den Beginn von Macbeths und Lady Macbeths Machtstreben markiert. Obwohl die historische Lady Macbeth nicht so gut dokumentiert ist wie ihr Ehemann, ist sie in der Oper eine zentrale Figur, die durch ihre Rücksichtslosigkeit und Ambitionen die Handlung stark beeinflusst. Hier spürt man das Frauenbild des 19. Jahrhunderts und selbst des 12. Jahrhunderts nach. Das betrifft auch die Hexen. Macduff, ein schottischer Adliger, und Malcolm, der Sohn von Duncan, spielen eine wichtige Rolle in der Geschichte. Macduff ist es, der Macbeth letztendlich besiegt und Malcolm wird als neuer König von Schottland eingesetzt. 

Musikwissenschaftler heben Verdis Macbeth oft als eines seiner dramatischsten und emotional aufgeladensten Werke hervor. Sie betonen die innovative musikalische Sprache, die Verdi in dieser Oper verwendet, einschließlich düsterer Molltonarten, schriller Dissonanzen und stakkatohafter Chöre. Diese Elemente waren für die Zeit revolutionär und trugen dazu bei, die gespannte Atmosphäre und die psychologische Tiefe der Handlung zu unterstreichen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Abkehr von traditionellen Arienformen zugunsten größerer Chorpartien und komplexer Orchesterfiguren. Dies ermöglichte es Verdi, die dramatische Spannung und die inneren Konflikte der Charaktere auf eine Weise darzustellen, die zuvor in der Opernliteratur nicht gesehen wurden.

Moderne Produktionen setzen die Oper oft in unterschiedliche historische und zeitliche Kontexte, um die Hauptthemen von Macht, Ehrgeiz und Wahnsinn aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Verdis Musik ist gekennzeichnet durch Verwendung seiner Leitmotive und Themen, um Charaktere und dramatische Situationen zu kennzeichnen. Zum Beispiel gibt es ein düsteres, bedrohliches Motiv, das Lady Macbeths mörderische Ambitionen und ihren dämonischen Charakter widerspiegelt. Die Oper erfordert eine enorme vokale Fähigkeit, besonders von den Sängern der Hauptrollen. Lady Macbeths Arien sind besonders anspruchsvoll und erfordern eine dramatische Sopranistin, die sowohl technisch als auch emotional beeindruckend ist.
Der Komponist fügte den Charakteren eine tiefe psychologische Dimension hinzu. Lady Macbeths Wahnsinnsszene ("La luce langue") und Macbeths Monologe reflektieren ihre inneren Qualen und Schuldgefühle. Die Musik in diesen Szenen ist intensiv und dramatisch, um die psychischen Abgründe der Charaktere zu betonen.

Verdi verwendet das Orchester nicht nur zur Begleitung, sondern als integralen Teil der dramatischen Struktur. Die Orchestrierung ist oft dunkel und drängend, was die bedrohliche Atmosphäre und das übernatürliche Element der Handlung unterstreicht. Der Chor spielt eine wesentliche Rolle in Verdis Macbeth. Er repräsentiert verschiedene Gruppen, wie das Volk oder die Hexen, und trägt maßgeblich zur dramatischen Wirkung bei. Die Chorszenen müssen kraftvoll und eindrucksvoll inszeniert werden. Der Komponist nutzt die Musik, um die dramatische Spannung und die psychologischen Tiefen der Charaktere darzustellen. Zum Beispiel in Macbeths Arie „Pieta, rispetto, amore“ im letzten Akt zeigt die Musik expressiv die Zerrissenheit des Charakters zwischen seinen Ambitionen und seinem Gewissen. Er erkennt, dass er durch seine Taten Respekt, Liebe und Ehre verloren hat. Es ist ein bewegender Moment, in dem Macbeth seine innere Zerrissenheit und Einsamkeit ausdrückt, während er auf sein bevorstehendes Ende blickt.


Tamara Wilson (Lady Macbeth) und Nicholas Brownlee (Macbeth; sitzend)
FotoMonika Rittershaus


Es gibt mehrere Schlüsselszenen, die die Handlung vorantreiben und die Charakterentwicklung vertiefen, indem sie die Ambitionen, Schuldgefühle und das schicksalhafte Ende der Protagonisten darstellen.

1. Akt: Die Oper beginnt mit den Hexen, die Macbeth prophezeien, dass er König von Schottland werden wird. Diese Szene ist entscheidend und setzt den Ton für das "Übernatürliche" und die dunkle Atmosphäre der gesamten Oper. Diese Prophezeiung weckt Macbeths Ehrgeiz und setzt die Ereignisse in Gang, die zur Tragödie führen. Die Szene etabliert auch das Thema des Übernatürlichen und des Schicksals. Diese Szene ist musikalisch durch den berühmten Chor der Hexen ("Coro di streghe") und das Duett "Fatal mia donna" gekennzeichnet. Auch "Nel di della vittoria" von Lady Macbeth gesungen gehört hier her, nachdem sie den Brief ihres Mannes gelesen hat, der die Prophezeiungen der Hexen beschreibt. In der Arie "Vieni! t'affretta!" drückt sie ihre Ambition und Entschlossenheit aus, um König Duncan zu töten und ihrem Mann zum Thron zu verhelfen. In "Mi si para innanzi un pugnale?", nachdem die Hexen ihm prophezeit haben, dass er König werden wird, ist Macbeth von Zweifeln und Visionen geplagt und sieht den Dolch, der ihm den Weg zum Mord an König Duncan weist.

2. Akt: Hier sind zu nennen: "Dormono ancora", gesungen von Lady Macbeth, als sie auf das Kommen ihres Mannes wartet und den Plan für den Mord an König Duncan schmiedet. "Mi si afferra il manico" - gesungen von Macbeth, als er den Dolch in der Luft sieht und seine Zweifel und Halluzinationen thematisiert. "O figli, o figli miei" - gesungen von Lady Macbeth, als sie Macbeth ermutigt, seine Ängste zu überwinden und den Mord zu begehen. "S'il veramente e vero" - Macbeth drückt nach der Ermordung des Königs seine Schuldgefühle und Ängste aus. Diese Tat markiert Macbeths Übergang von einem loyalen Untertan zu einem machthungrigen Usurpator. Auch Lady Macbeths Rolle in der Tat und ihre Manipulation von Macbeth sind zentral. Die Musik ist intensiv und dramatisch, insbesondere das Duett "Vieni! t'affretta accendere" und das Trinklied "Si colmi il calice".

3. Akt: Macbeth hält ein königliches Bankett, um seine Macht zu demonstrieren. Während des Banketts erscheint der Geist von Banquo, den Macbeth zuvor ermordet hat, und setzt sich auf den Thron, was Macbeth in Panik versetzt und seine Paranoia offenbart. Sein psychischer Zerfall beginnt. "Patria oppressa" des Chors beschreibt die verzweifelte Lage Schottlands nach dem Mord an Duncan. "Studia il passo, o mio figlio" von Lady Macbeth, während sie von den Hexen erfährt, dass Macbeth als König in Gefahr ist. "La luce langue" - eine Arie von Lady Macbeth, in der sie ihre Ambitionen und ihre Entschlossenheit bekräftigt, um ihre Macht zu sichern. 

4. Akt: Die ikonische Schlafwandel-Szene im vierten Akt der Oper zeigt Lady Macbeth schlafwandelnd, während sie versucht, das unsichtbare Blut von ihren Händen zu waschen. Diese Szene verdeutlicht ihre tiefen Schuldgefühle und ihren psychischen Zerfall. Ihre Arie "Una macchia è qui tuttora" ist technisch anspruchsvoll und emotional intensiv, was sie zu einer der bekanntesten Passagen der Oper macht. "Pietà, rispetto, amore" von Macbeth drückt seine Reue und Einsamkeit aus. Es ist eine der ergreifendsten Arien, die Macbeths innere Qualen zeigt. "La morte dei figli" lässt den Chor die Verzweiflung und den Schmerz der Bevölkerung über die Katastrophen und Morde, die das Land heimgesucht haben, besingen. In Macbeth letzter große Arie "Mal per me che m'affidai" reflektiert er sein bevorstehendes Schicksal und akzeptiert seine Niederlage. In diesem Moment ist Macbeth von seinen Feinden umzingelt und denkt über seine Taten und die vergeblichen Hoffnungen nach, die ihn zu seiner tragischen Lage geführt haben. Diese Arie ist sehr ausdrucksstark und zeigt Macbeths Reue und Verzweiflung. Er erkennt, dass seine Ambitionen und der Einfluss seiner Frau ihn in den Untergang geführt haben. Es ist eine kraftvolle Schlusspassage, die seine innere Zerbrechlichkeit und Einsamkeit offenbart. Die Musik wieder dramatisch und kraftvoll, was Macbeths Verzweiflung und den unausweichlichen Untergang widerspiegelt. Er wird schließlich von Macduff in einem Kampf getötet. Die Szene markiert das Ende seiner Tyrannei und die Wiederherstellung von Ordnung in Schottland mit Malcolm als dem neuen König.


Matteo Lippi (Macduff; halbrechts stehend in weißem Hemd)
sowie Chor der Oper Frankfurt   Foto: 
Monika Rittershaus 
  


Verdi bleibt Shakespeares Original treu, indem er die zentralen Themen und Charakterentwicklungen beibehält, gleichzeitig aber durch die Musik eine zusätzliche emotionale und psychologische Dimension hinzufügt. Giuseppe Verdis Macbeth ist ein faszinierendes Beispiel für seine Fähigkeit, Musik und Drama miteinander zu verweben, um starke Emotionen und tiefgehende Charakterstudien zu erzeugen. Er vertonte menschliche Emotionen und Situationen meisterhaft zu einer hervorragenden Oper über Schicksal und Übernatürliches, Macht und Ehrgeiz sowie existenzielle Verzweiflung. Ohne die dezidierte Qualität des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters unter Thomas Guggeis wäre der Genuss geringer.







Sonntag, 28. August 2016

Wie war's beim Sonderkonzert der Musikfestspiele Saar 2016?

Orchestre National Lorraine unter der Leitung von Jacques Mercier

Solisten, Orchester und Chöre von Weltruf treffen sich alljährlich in der Saar-Lor-Lux-Region. Im Rahmen der diesjährigen Internationalen Musikfestspiele Saar 2016 fand letzten Mittwoch ein einzigartiges Sonderkonzert in der Saarbrücker Kongresshalle statt. Das lothringische Orchestre National unter der Leitung des sehr engagierten, prämierten und exakten Dirigents Jacques Mercier spielte Werke von Verdi, Puccini sowie Florent Schmitt.

Mit sakralem Tiefgang und gewaltiger Ehrerbietung ans Christliche komponierten die drei Koryphäen aufwändige und tosende Werke, die hintereinander gehört, ein erstaunliches Hörerlebnis bieten.

Verdis TE DEUM für Doppelchor und großes Orchester und Puccinis MESSA DI GLORIA für Tenor, Bariton, Chor und Orchester, das von zwei eigens eingeflogenen koreanischen Chören, ein Männer- und ein Frauen-Chor, die Damen alle in jungfräulichem Weiß wie Bräute, mit getragen wurden, standen vor der Pause auf dem Programm. Gerade Puccinis auf das Agnus Dei folgende Sanctus bot einen solch überzeugenden Höhepunkt, das man spürbar der dargestellten und imaginierten übermenschlichen Kraft gewahr werden konnte. Orchestrale Klangwolken, Getöse und Lautstärke erfassten die Psyche, entfernten sich gleichzeitig von Religion und boten nur noch hohe Kunst. Die koreanischen Sängerinnen und Sänger, schon lange Freunde der europäischen ernsten Musik, interpretierten voller Hingabe und Beteiligung, und das lothringische Nationalorchester zeigte eine sehr überzeugende hohe Qualität. Mit sicherer Hand führte der Dirigent Mercier durch schwierige Passagen und entlockte der Musik die ganze Bandbreite extremer emotionaler Gegensätze.

Nach der Pause dann die ebenso exorbitante Interpretation von Florent Schmitts PSALM 47. Der Komponist begann am Konservatorium Nancy, lernte bei Massenet und Fauré, war mit Debussy, Satie und Ravel befreundet. Er hatte bereits orchestrale Ausbrüche in seinen Kompositionen der Moderne vorweggenommen, die Strawinsky später noch mehr ausbaute und kultivierte. Das heraufziehende 20. Jahrhundert mit all seinem Unheil spürbar. Das große Crescendo des Endes greift die Einleitung auf und kulminiert zum dreifachen Fortissimo triumphal. Auch die Zuhörer der Uraufführung 1906 in Paris waren begeistert. In Saarbrücken ein fulminantes Erlebnis, das wir der Festivalleitung seit September 2013, Bernhard Leonardy, Sohn des Gründers Professor Robert Leonardy, zu verdanken haben.


Auch 2017 wird eine Serie von ungewöhnlichen Konzerten bringen, der Kultur eines bestimmten Landes gewidmet. Theater, Museen, Gastronomie und Einzelhandel bieten ein Begleitprogramm zum gleichen Thema an. Die Veranstaltungen finden im Saarland, in Lothringen, Luxemburg und in Rheinland-Pfalz statt. An völlig unterschiedlichen Orten wie ehemaligen Industriehallen, Schlössern und architektonisch interessanten Kirchen werden Konzerte mit unverwechselbarem Flair geboten. Nehmen Sie sich eine recreative Auszeit. 

Mittwoch, 25. Mai 2016

Wie war's bei der Celtic Night in der Stadthalle Birkenfeld?

Mark Bloomer von den GINSTERBESEN / BROOM BEZZUMS hat die 5. Celtic Night am 21. Mai 2016 an den Ausläufern des Hunsrücks mit den überzeugenden Musikern Sabrina Palm, Steve Crawford als Duo und Borja Baragaño, Brian Haitz und ihm selbst in der Formation TEXU ausgerufen und konnte wieder viele Fans der traditionellen englischen, schottischen und irischen Folkmusik im Gewand der Tradition und Modernität in der kleinen gemütlichen Stadthalle des ehemals oldenburgischen Birkenfelds an der Nahe versammeln.

Die Bonnerin Sabrina Palm bot ein wirklich meisterhaftes Folk-Fiddlespiel, hob sich mit am stärksten an diesem Abend ab. Souverän hat die erste in Dublin gekürte deutsche Lehrerin für traditionelle Musik sämtliche Jigs, Reels und Strathspeys mit dem gewünschten Drive oder der notwendigen Schwere getragen. An ihrer Seite der schottische Gitarrist und Sänger Steve Crawford, mit der gebührlichen Folkstimme und Interpret verschiedener Stimmungen aus den herrlichen Highlands. Eine ruhige, manchmal akademische Vielfalt, aber auch Zurückhaltung als Einstieg in den Abend.


Die Themen sowohl ungewöhnlich als auch traditionell. Auffiel das Lied eines Bosniers, der die Engel über dem Bett kreisen sieht, mit direkter Assoziation der Balkankonflikte der vergangenen Jahre, ein Lied über den höchsten Berg in Schottland, den Ben Nevis, ein Reel des Amsterdamers Styn van Beek, kombiniert mit einem alten schottischen Reel, ein Waltz auf der Suche nach Wahrheit und letzlich die Mischung aus schottischem Folk Ende des 19.Jahrhunderts und der deutschen Rabenballade. Der Dudelsack schon als Schritt zum Hauptteil vorgestellt

Ganz schnell bei der Sache war nach der Pause Texu, die mit dem wirklich abenteuerlichen asturischen Dudelsack (Gaita) von Borja Baragaño, dem artgerechten Folkgesang und Akustikgitarrenspiel des Brian Haitz mit irischen Vater und last not least dem rhythmusstarken, beatgewaltigen und beste Stimmung verbreitenden Mark Bloomer an den Drums kraftvollen Folk aufkommen ließen.

Die Einlagen von Borja Baragaño brachten das wahre Gefühl von Scottish Folk, obwohl es ein asturischer Dudelsack aus dem separatistischen spanischen Atlantikanrainer war. Der Gute wurde immer wieder auf den Arm genommen, weil er am meisten Handarbeit bei der Einstellung des Instrumentes leisten musste - er spielte noch virtuos Querflöte und einen kleinen Dudelsack - und unter der Hitze der Scheinwerfer die wahre Hitze in Deutschland kennen lernte, während er fleißige Stimm- und Anpassversuche der hölzernen Instrumententeile an die extremen Hitzeverhältnisse auf der Bühne leistete, die ihn als Nordwestspanier wie ein Aufenthalt in Madrid oder Malaga als Hitzezonen seiner Heimat in den entstehenden Wartepausen überraschten. 


Ins Ohr gingen unter anderen Songs das 250 Jahre alte gälische Lied über eine irische Stadt und die Heimat, die für Arbeit in England zu verlassen dem Texter schwerfiel, ein höfischer Tanz aus Frankreich (Garotte), dessen Name (nur der) an das brutale Folterinstrument erinnert, das heute noch in Todesstrafenkulturen eingesetzt wird. Marc Bloomer besang seine Heimat Birmingham, und gegen Ende entfachten bretonische Tänze, Traditionals und das All together mit dem Anfangsduo so richtig die Gemüter. Marcs Schlagzeugfinale ein Höhepunkt! Modern, gewaltig wie bei einem Rockkonzert, und dennoch gut und wichtig beim Folk. Keine Chance für Gähner.

Donnerstag, 10. März 2016

Wie war's beim Frankfurt Festival 2016 in Hofheim am Taunus?

 
Holy

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Salsa ist in Europa ein regelrechter Hit. So viele Salsa-Festivals wie hier findet man sonst kaum. Tanzlehrer aller Nationen tummeln sich in allen europäischen Ländern. Und meistens tanzen die Lehrer oder die Anwender nicht nur Salsa, sondern auch Bachata, Cha-Cha-Cha, Merengue, Kizomba oder Caribean. Auch Hiphop in allen Varianten feiert mit und African ganz stark. Tango bleibt wie eh und je lebendig. Der Salsa-Tourismus nimmt zu, und es ist absolut nachvollziehbar, warum manche so verrückt sind nach diesen sinnlichen Erlebnissen, Bewegung, Sex Appeal, Flirten bei Ausdauertraining, permanente Kultivierung von Bewegungsästhetik.

Holy
In Hofheim am Taunus fand vom 03.-06.03.2016 mit FRANKFURT FESTIVAL wieder ein großes Salsafestival statt mit Workshops tagsüber und Party am Abend, Events gegen Mitternacht und Tanzen bis in den Morgen. Tausende von Tanzbegeisterten kamen zur Fortbildung, Crashkurse in allen möglichen Disziplinen und Tanzarten. Afro Contemporaneo, Cha-Cha-Cha, BachaZouk Brazil, Bachatango, Salsa Hip-Hop oder Hip-Hop Latin, Kuduro, Afrohouse, Latin Jazz, Bachata Dominicana, Mambo ... die Vielfalt nimmmt kein Ende. Am Abend das Ausprobieren des Gelernten, Kontakt und Austoben zu toller Musik. Stars treten auf und verzaubern mit perfekten Choreografien. Wer alle Tage mitmacht weiß, was er getanzt hat, durchtrainiert bis zum Anschlag ...

Terry & Cecile
Die Dance Teacher lustige bunte Artgenossen mit Entertainment- und Comedyfähigkeiten, die im Crashverfahren in 60 Minuten eine komplexe Figur vermitteln. Anstrengende Arbeit beim Hiphop, der in die Beine geht, während die kleine Stahlfeder namens Holy, 28, locker leicht herumflippt, Drive und Vibration in die letzte Muskelfaser bringt. Mit 7 hat sie begonnen zu tanzen und mit 28 sieht sie aus wie 17, gertenschlank, durchtrainiert, kein Gramm Fett, unglaublich! Beim Kuduro und Afro-House geht es nicht minder nah und schnell beweglich zu. Franklin Diaz aus New York lehrt FootWork on2 bei Rumba und Cha-Cha-Cha. Kizomba against Time, einer Art Zeitlupe der Tanzschritte, aber zügiger, wird durch lang anhaltende Bewegungen gegen die Zeit getanzt, was ein gutes Energiemanagement bei schnellen Takten erlaubt. Morenasso und Anais geben ihre hohe Fertigkeit locker und lustig weiter. Terry & Cecile zeigen den Zouk (Caribean), der durch eine sinnliche Wellenbewegung von Hüfte zur Brust viel erotische Bewegung aufkommen lässt. Cecile kommt aus Martinique und Terry aus Guadeloup, sie hat 10 Jahre Salsa-Erfahrung, er 15. Am Anfang stand bei ihr das Ballett, schon mit 4 Jahren, und heute haben beide jedes Weekend Kurse, immer woanders.

Freitag, 29. Januar 2016

Wie war's in der Frankfurter Inszenierung von Kleists PENTHESILEA?


Felix Rech, Constanze Becker                          (c)  Birgit Hupfeld


Kleists Penthesilea ist eines der krassesten deutschen Theaterstücke hinsichtlich Brutalität und Exzessivität. Die Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn trieb Kleist und letztendlich auch Michael Thalheimer zu einer psychoanalytisch hochinteressanten Deutung eines archaischen Urkonflikts zwischen den Geschlechtern, der bei manchen Paaren extrem, nämlich so wie zwischen Achill und Penthesilea, ausgeprägt ist. Lange vor Freud hatte er es gepackt, den Geschlechterkampf in einem Meisterwerk der unbewussten Regungen zu verewigen, das in einem unendlichen Blutbad endet. Das Kleist hier ordentlich in die Asservatenkammer der Massenmörder, antiken Grausamkeit und der Faszination von Horror und Schrecken griff, gibt ihm eine Zeitlosigkeit, die einen Brückenschlag von den blutigen Begegnungen auf den antiken Schlachtfeldern der Olympier bis hin zu den amerikanischen Kettensägen- und Kannibalismus-Horrorstreifen zulässt.

Geschlechterkampf auf der Bühne ist eine Kunst bei August Strindberg, Tennessee Williams und Thomas Bernhard. Bei Kleist wird diese Auseinandersetzung mit Krallen noch ein mythologisches Spiel der psychoanalytischen Spiegelproblematik dazu. Achill und Penthesilea können nicht mehr als vor der eigenen Liebe erschrecken, sich selbst ablehnen und einen Feind im gespiegelten Liebesanlitz erkennen. Sie können nicht mehr tun, als sich zu töten. Und wenn sie noch so oft von den Göttern wieder ins Leben gerufen würden, sie brächten sich immer wieder um. Ihre Anziehung ist ein tödlicher Rausch, ein Sturz in die Urgründe der Psyche, bei Penthesilea eine Zerstückelungs- und bei Achill eine Mordlust aus Angst und später eine Aufopferungsfantasie, eine Verinnerlichung und Vereinnahmung des anderen, symbolisiert durch Penthesileas "Aufessen", "Reißen der Beute" und "Besitzergreifen" oder durch ein Streben nach einer Symbiose bei Achill. Ihre Anziehung und ihr Schicksal stehen unter einem bösen Stern, die Liebe schafft es nicht, die stärkere Aggression zu durchbrechen. Kleist hat dem Widerstreit der Gefühle, Begehren neben Aggression, Liebe neben Hass ein Denkmal gesetzt in Gestalt der antiken Amazonenkönigin Penthesilea und dem Griechenführer Achill.

Felix Rech, Constanze Becker            (c)  Birgit Hupfeld
Faszinierend in Szene gesetzt und zu einer ausweglosen Hassliebesorgie stilisiert vom Regisseur Michael Thalheimer. Beide verzweifeln an ihrem Tun und verstehen Liebe erst, wenn der andere tot ist. Meisterhaft gespielt von Felix Rech als verlorener Achill und Constanze Becker als streitbare und grausame Penthesilea, nackt wie die Urgründe sind, nackt im Blut schwimmend, liebkosend den sterbenden Held an den nackten Busen der Geliebten gedrückt. Und all das erzählt, kommentiert und gespiegelt in einer dritten Person, die noch mehr weiß und sich einmischt, aber keine Veränderungskraft hat: Josefin Platt als Frau. Die Bühne von Olaf Altmann ein endloser Raum, eine aufsteigende Route Nirwana, die sich im Nichts verliert.

Donnerstag, 5. November 2015

Wie war's in DIE WIEDERVEREINIGUNG DER BEIDEN KOREAS in Frankfurt a.M.

Verena Bukal als Kurtisane Denise, Till Weinheimer als bigamer Priester
Foto: Birgit Hupfeld

Ein Kaleidoskop der Beziehungen tut sich mit Joël Pommerats Theaterstück DIE WIEDERVEREINIGUNG DER BEIDEN KOREAS auf. Es sind eher abwegige Konstellationen, Ausnahmesituationen, Ungewöhnliches und Absurdes. Völlig unerwartet nimmt das Geschehen nach wenigen Minuten eine teils kaum erwartete, teils fest berechenbare Wendung, um jeden Schleier von Normalität und Bürgerlichkeit herunterzureißen. Die Problematik intensiv, jedoch aufgrund der Unerwartetheit und Reaktionen der Beteiligten erstauntes Lachen. Es ist die Entrüstetheit über die Vorkommnisse, die scheinbare Moral oder ganz im Gegenteil die Missachtung der Moral von Moralträgern, wie einem Priester. Oft ist es the worst case und gelegentlich schwebt Roald Dahl mit durch den Raum. Erstaunlich, was Pommerat alles ausgetüftelt hat.
Thomas Huber als Monsieur Dengè,
Franziska Junge als überraschte Miriam

Foto: Birgit Hupfeld

In 19 Szenen, wobei 17 und 19 zwei Teile einer Szene sind, mit 51 verschiedenen Charakteren, spannt der Autor seinen Bogen von Scheidung bis unmögliche Liebe, von Fremdgehen bis Schlussmachen, von lesbischer bis zu pädophiler Liebe und nimmt so gut wie alles auf den Arm, die Lächerlichkeit der Verletzung, der Moral, der Eifersucht, der Unmöglichkeit, des Todes  - einfach alles! Schwarzen Humor in seiner Situationskomik hat er auch.


Schaut man sich die Szenen an, sind es auch irreale Situationen. Die Befragung in 1, warum die Scheidung nach 20 Jahren eingereicht wurde, gleicht eher einem Geständnis und Erklärung, die nie vor Gericht so stattfinden würde. Eher beim Psychiater. "Es gibt keine Liebe zwischen uns, es hat sie nie gegeben." Alles Lüge! Lieber einsam sein ist ihre Devise und: "Ich hab keine andere Wahl."


Das Lesbenpaar in 2 ist bitterböse verkracht, und nachdem die eine, die kein Ende will, wiederholt fordert: "Ich möchte alles zurück, was du von mir in dir da drin rumträgst!" entspannt sich ein erbitterter Kampf der Wildkatzen. Ein Passant auf der Bank, der unfreiwillig reingezogen wird, verhindert das Schlimmste durch Einmischung. Dann eine Putzkolonne mit drei Kräften, zwei entdecken auf dem Flur etliche Meter oberhalb einen Erhängten und erkennen den Mann der Kollegin Corinne. Diese kommt und setzt sich unter die Leiche, ohne je hochzuschauen, erzählt von Scheidungsprozess, Urteil zur Unterhaltspflicht von Pascale für die Kinder, von seiner Morddrohung den Kindern gegenüber, aber auch davon, dass sie sich lieben und Patrice wieder zu ihr zurückkehren würde. Die Wahrheit wird nicht aufgedeckt, alle putzen weiter, als ob nichts wäre.


In 4 kehrt Muriel mit ihrem Freund heim, ein Unbekannter taucht auf, stellt Ansprüche von früher und Muriel verfällt ihm voller Begierde. Sie gehen, der Freund hinterher und holt sie zurück, macht aber entrüstet Schluss. Muriel ist alleine. Dass es unmöglich ist zu heiraten, wenn man alle vier Schwestern der Braut schon angemacht und zumindest geküsst hat, wird in 5 vor dem Standesamt deutlich. Zurück bleibt ungläubig der Bräutigam. Dazwischen werden Chansons dargeboten, die oft das Gesehene kommentieren, so am Anfang und zwischen 5 und 6: "Je t'embrasse ...". Die Tochter eines Komapatienten erzählt danach dem Doktor, dass sie heiraten werde, alles Leute aus der Finanzbranche, überfällt den Doktor mit einer Kussattacke, der Freund Antoine versucht sie loszureißen, während sie von der Zukunft mit ihm schwärmt und den Doktor umklammert hält.


In 7 stellt Miriam ihrem Chef Monsieur Dengé eine Falle, er habe sie im Schlaf in seinem Zimmer im Sessel genommen. Er kollabiert allmählich und hat offensichtlich eine Menge zu verbergen... Wenn ein Priester wegen einer anderen Frau bei einer Kurtisane aussteigen will (nach 7 Jahren) zahlt er einen Abstand. Denise ist trotzdem entsetzt, träumte sie doch von einer bürgerlichen Existenz. Als Wiedergutmachung und Zeichen seiner Liebe fordert sie werktäglich bis zum Lebensende abends ein Essen mit ihm bei ihr bis etwa 22 Uhr. Sie entlässt ihn nicht aus seiner Doppelwelt. "J'attends ..."


Was tun, wenn Constantin nach 10 Jahren mit seinem alten Schlüssel in sein Haus kommt, um Elisabeth, neu verheiratet, das geschuldete "Auf Wiedersehen" zu sagen? Störung, Verblüffen, Entrüstung, und weiter mit Kreuzworträtsel. Schlimm, wenn Eltern ermitteln, weil es ihrem Sohn nach dem Schullandheim schlecht geht. Noch schlimmer, wenn der Lehrer im Schullandheim ihren Sohn nach Einnässen umgezogen hat, über den Kopf gestreichelt und in seinem Bett hat schlafen lassen. Weil er ihn liebt? "Ja, weil ich ihn liebe" kommt heraus! Wut und Entrüstung bei den Eltern.


Nachbar geht zu Nachbarin, man nähert sich an, wartet auf seine Partner und lauscht den Geräuschen im Treppenhaus. Die Partner kommen auch und haben Sex im Treppenhaus oder nebenan. Die Wartenden werden ebenfalls zärtlich, liegt ja nahe ... "Je pense à toi ..." Eltern streiten sich und sehen einen riesigen Riss in ihrer Beziehung, weil der Vater den Sohn in den Krieg schickt, die Mutter es verhindern will. Ein Ehepaar spielt wiederholt die entsetzten Eltern, weil die Kinder nach der Rückkehr vom Theater weg sind. Das Zimmermädchen wird blamiert, obwohl es bestellt wurde, auf Kinder, die es nicht gibt, aufzupassen. "Die Kinder sind das Wichtigste für unsere Beziehung. Ohne die Kinder wären wir kein Paar."


Eine Behinderte in 14 ist erneut schwanger, sie will nicht abtreiben, aber sie soll auch kein Kind bekommen. "Weil es das Kind unserer Liebe ist", will sie es, der Vertreter der Gesundheitsbehörde versucht ihr den Blödsinn Liebe auszureden. Serge und Cécile sind seit 17 Jahren verheiratet, sie hat eine Totalamnesie, weiß nichts mehr, nur die Umarmung versteht sie noch, jede Umarmung ist wie die erste: "Früher war es so, als ob Nord- und Südkorea sich vereinigen würden." "Si tu parle avec moi..."


Eine Frau nach dem Sex mit ihrem Partner sagt klar: "Wir lieben uns, aber das reicht nicht!" und geht. Er verzweifelt darüber. In 17 und 19 treffen ein Mann und eine Dirne aufeinander, sie bietet sich an und geht runter von 120 € auf Umsonst, da sagt er ja und geht mit. In 19 kehren sie zurück und sie redet ihm ins Gewissen, nachdem er ja zufrieden sei, könnte er auch mind. 5 bezahlen, was er murrend tut. In 18 entwickelt sich aus einer Freundschaftsidylle auf dem Rasen mit Gitarrenmusik eine wüste Schlägerei, weil der andere auf den Fehlern seines Freundes rumreitet und es 1000-fach wiederholt.


Soviel zu Beziehungen, eindringlich und hervorragend unter der Regie von Oliver Reese mit vielen Kostüm-, Charakter- und Situationswechseln präsentiert von 
Verena BukalFranziska JungeCorinna KirchhoffJosefin PlattCarina ZichnerMitglied im SCHAUSPIEL- studio,Thomas HuberPeter SchröderMarc Oliver SchulzeTill Weinheimer.



Montag, 5. Oktober 2015

Wie war's in DIE GESCHICHTE VOM FRANZ BIBERKOPF mit den TIGER LILLIES in Frankfurt?

Franz Biberkopf und Reinhold.
Im Hintergrund Martyn Jacques von THE TIGER LILLIES
Foto: Birgit Hupfeld

Die Geschichte vom Franz Biberkopf, zurzeit im Schauspiel Frankfurt a.M. unter der Regie von Stefanie Mohr und mit der Komposition und Lyrics von Martyn Jacques (THE TIGER LILLIES) zu sehen, ist zum ersten Mal auf der Bühne. Stellvertretend für den großen Roman und einzigen Welterfolg von Alfred Döblin: BERLIN ALEXANDERPLATZ. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Dieser umfangreiche Roman erschien 1929 im S. Fischer Verlag und ist vor allem wegen seiner Großstadtthematik ein Vertreter des Expressionismus. 

Döblin hat mit einer aufwändigen Zitiertechnik aus Zeitungen, Zeitschriften, Welttliteratur, Bibel, Kalauer und Umgangssprache ein Werk montiert, das eine breite Bezugsbasis hat. Es rein expressionistisch zu nennen, wäre zu wenig, denn wir finden naturalistische Milieustudien, wie bei Arno Holz, Gerhardt Hauptmann, Sozialkritisches à la Brecht, Revue und biblische Metaphernsprache und Allegorik nebeneinander.

Eine ganz eigene und sehr bereichernde Note erhält das Stück durch das Mitspiel der TIGER LILLIES. Dieses seit über 20 Jahren erfolgreiche britische Trio besteht aus dem Singer, Songwriter und Musiker Martyn Jacques (Akkordeon, Klavier, Ukulele), Adrian Stout (Bass, Singende Säge, Theremin, Hintergrundgesang) und Mike Pickering (Schlagzeug, Perkussion, Hintergrundgesang). Sie alle sind meist als Clowns geschminkt und verkleidet, Jacques bedient sich des verfremdenden Falsettgesangs, die anderen begleiten grotesk-melancholisch. Zusammen entsteht der schräg-makabre, tragisch-komödiantische Stil der Band. The Tiger Lillies verbinden dabei Sarkasmus, britisch schwarzen Humor, mittelalterliche Marktauftritte mit der Tradition von Brecht/Weill und Zirkus, Vaudeville (französische Theater- und Liedgattung, nach 1850 in den USA mit Revue, Tanz und Akrobatik ins amerikanische Vaudeville übergehend) und Kabarett der 20er-Jahre in der Weimarer Republik. 

Gerade weil Biberkopf wie Hiob vielfältigen Leiden und Prüfungen unterworfen wird, hat Biberkopf (prima transportiert von Sascha Nathan) etwas von einem Heiligen, obwohl er dem kriminellen Milieu näher ist als allem anderen. Hauptpersonen sind Kriminelle, Abweichende, Outlaws. 

THE TIGER LILLIES
Foto: Birgit Hupfeld
THE TIGER LILLIES, von Martyn Jacques mit typischer Kunst-Alt-Stimme gesungen: "Franz, Franz is a good man now // He's stopped the booze, holy cow // He's out of prison, his girlfriend's ribs // He broke them with an eggwhisk (...) He who killed her is living, // Blossoming, drinking and guzzling".

Seine scheiternden Liebesgeschichten, eine davon Ursache seiner 4-jährigen Haft, bewegen ihn und läutern ihn auch. Der große und kräftige Liebhaber geht unsanft, aber liebevoll mit seinen Freundinnen um. Seine frühere Frau, mit der er Kinder hatte, erlitt eine massive Körperverletzung, von der man Biberkopf nachsagt, sie hätte seine Frau am Ende getötet. Er stellt alles als Unfall dar. Nach der Haft tritt er in das Milieu Berlins ein, von Hiob begleitet: "Franz Biberkopf, wie stehst du jetzt da? Kinder verloren, vom Gericht verurteilt ..." Er verkauft Krawatten auf der Straße, ist ein Propagandist, während ein Bekannter beim Raubüberfall bleibt. Und Biberkopf ist guter Dinge: "Das Wetter ist schön, die Welt ist schön, das Leben ist schön ... Trinken wir noch eine Molle!" So tönt er an der ewig langen Theke Berlins (Bühne Miriam Busch) - im Hintergrund das große Fleischermesser und Tierkadaver aus Neonröhren zu sehen. Aber es ist nur schöner Schein, denn unerbittlich wie es ist, das Leben, ist es eher mit einem Schlachthof zu vergleichen. "... Ein langer Schnitt in den Hals...", wirft der Tod ein. 

Im Suff kommt Franz zur Erkenntnis: " Sind doch alles Schufte, der Mensch ist nur ein Dreck ..." Mit Anstand kommt man nicht zu Geld, schließt er daraus. Er lernt Reinhold (sehr überzeugend Felix Rech) in der Kneipe kennen, der ihm eines seiner Mädchen abtritt, weil er es überhat. Der (auch im Roman) hypersexuelle Ganove mit schwarzen Augenrändern wechselt seine Sexpartnerinnen alle paar Wochen. "Kriegse nicht los, kannse nich abhängen." So kommt Biberkopf an Cilly (Milieuopfer Alice von Lindenau), die ihm die Stiefel von Reinhold bringt und weint über den Rausschmiss. Franz nimmt sie auf und lobt sie bei Reinhold: "Nettes Mädel, hält mir die Bude in Ordnung." Weil die Behandlung der Frauen durch Reinhold ausgerechnet Biberkopf nicht gefällt, er der eigentlich auch grob mit ihnen umgeht - hier findet die erste Läuterung statt -, stellt Reinhold zur Rede: "Weiber sind auch Menschen!", während die Tiger Lillies dazu im Song FRESH FLESH singen: "Women are people too, Reinhold // They are not just to be sold // Pretty little Cilly has a heart of gold // She's not a piece of meat, Reinhold!" 

Biberkopf schließt sich der Clique an, hilft ihnen bei einer Aktion und erkennt zu spät, dass er in eine Straftat hineingezogen wird. Spannung kommt auf durch das personifizierte Nebeneinander von zwei Autos, Opel und VW/Fiat (Paula Hans, Alice von Lindenau), die das Geschehen dokumentieren. Biberkopf begehrt auf, will sich distanzieren, Reinhold hängt ihm die Zurechtweisung wegen Cilly an und paradoxerweise das "Wegnehmen" der Frauen. Er wirft Biberkopf aus dem fahrenden Auto, das zweite fährt über ihn und verletzt seinen Arm schwer, er muss amputiert werden. 

THE TIGER LILLIES spöttelnd zur Szene Biberkopf im Krankenbett, den rechten Arm amputiert - später Franz verbittert im Alltag ganz laut zu hören: "Jetzt ist es aus mit dem alten Franz Biberkopf. Geld muss her!" -, zum Ende des ersten Aktes: "Honest men working hard // Working hard yard by yard // Getting used, getting screwed // System built to you abuse // Biberkopf, Biberkopf". Und das ebenso spöttische KING OF BERLIN: "You could have been the King of Berlin // You could have been the king, Franz, who always wins // (...) But you don't know the moves to make // That's why your heart never breaks // (...) You'll never be the King of Berlin // Ha-ha". Cilly ist weg nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. 

Vorne: Franz Biberkopf und Mieze
Foto: Birgit Hupfeld
Mieze und Reinhold im Grünen
Foto: Birgit Hupfeld
Biberkopf gefangen in seiner Existenz hat keine Chance, aber er versucht es. Erneut mit den Kriminellen um Reinhold. Mieze / Sonja wird zum weiteren Beschleuniger des Schicksals, ein ehrliches Mädchen, das mit ihm zusammenleben will. "I'm in love with the moon // The rivers flowing under sea // The girl I love // Wants to be with me." Paula Hans spielt das schwache Mädchen, dennoch aufgeweckt berlinerisch, mag Reinhold nicht, lässt sich aber einfangen zu einer Tour ins Grüne und muss sterben, weil sie sich nicht hingibt. "Reinhold he is Satan // Reinhold he is bad // Reinhold is the devil himself // And he's mad." 

Der Fahrer und Komplize verrät den Mord durch Reinhold  beim Richter und gesteht die eigene Mithilfe beim Verbuddeln der Leiche. Greifbar bleibt nur der Komplize, Reinhold weniger. Schließlich werden Reinhold und Biberkopf verdächtigt, Franz muss jedoch in die Psychiatrie, wird mit Elektroschocks behandelt, während im Hintergrund das Schlachterbeil als Zeichen der Aufopferung des Unschuldigen leuchtet. "So every day and every hour // I wait for the axe to drop // And it chops // The axe does chop // Chop // tick tock, tick tock." 

Der Tod und Martyn Jacques von THE TIGER LILLIES
Foto: Birgit Hupfeld
Der Tod stellt ihn erneut zur Rede, er, der Biberkopf seit seiner Entlassung begleitete, ihn an das Schicksal des biblischen Hiob erinnert. Er hat ihn durchschaut, seine Beweggründe, dennoch hilft er ihm nach der Amputation auch hier: „Es ist Zeit für mich, zu erscheinen bei dir, weil ja schon aus dem Fenster die Samen fliegen und du deine Laken ausschüttelst, als wenn du dich nicht mehr hinlegst.“ Biberkopf sieht seine Schuld ein. Und wie im Roman kehrt Biberkopf geläutert und auferstehend als Franz Karl ins Leben nach Berlin zurück, während der andere schlechte Teil stirbt. 

Die Zuversicht des Romans, Biberkopf in einer anständigen Lebenssituation, bleibt im Theaterstück offen. Vielmehr scheint eine Wiederholung durch: Die Franz Biberkopfe im wiederkehrenden Lebenskampf, Ausgang ungewiss: "Es geht in die Freiheit, die Freiheit hinein, die alte Welt muß stürzen, wach auf, die Morgenluft. Und Schritt gefaßt und rechts und links und rechts und links, marschieren, marschieren, wir ziehen in den Krieg, es ziehen mit uns hundert Spielleute mit, sie trommeln und pfeifen, widebumm widebumm, dem einen gehts gerade, dem einen gehts krumm, der eine bleibt stehen, der andere fällt um, der eine rennt weiter, der andere liegt stumm, widebumm widebumm." Die TIGER LILLIES kommentieren mit ONWARD CHRISTIAN SOLDIERS NOW. 

Ein besonderes Erlebnis auf der Schauspiel-Bühne, Döblins Berlin der Weimarer Republik mit der allegorischen Figur Franz Biberkopf auf dem Alexanderplatz erstmals als Theaterstück zu erleben und die bissig-schrägen TIGER LILLIES in brechtscher Manier ihren tiefsinnigen Senf dazu geben zu hören. Sehr gelungen und unbedingt weiterzuempfehlen.

Montag, 3. August 2015

Wie war's bei der Eröffnung der Nibelungen-Festspiele 2015 in Worms?

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Ortlieb und Narr
Foto: Marion Bührle
Ortlieb
Foto: Marion Bührle
In Worms gestartet sind letzten Freitag die Nibelungen-Festspiele 2015 bis zum 16. August mit einer Inszenierung fern von jeglichem Historienmuff. Mit einem großen Aufgebot an Theaterpersonal, Kostümen und historischer Bühnenszenerie vor dem altehrwürdigen Wormser Dom wird das letzte und fürchterlichste Treffen der Burgunden, Hunnen und assoziierten Kampfverbände mit dem Gegenüber zweier gigantischer Belagerungstürme inszeniert, die an eine Mischung aus "Panzern" der Perser, Römer und Griechen, Trojanisches Pferd sowie Abschreckung durch Kampfmaschinen und Rammfahrzeuge des Mittelalters erinnern. Konzipiert nicht jedoch als bloßes "Gemetzel", wie der Titel des Theaterstückes von Albert Ostermaier martialisch lautet, sondern als ein analysierendes, poetisches, leidenschaftliches, erklärendes und beleuchtendes Spiel des jungen Ortlieb, Sohn von Kriemhild und Etzel, in das nach und nach alle anderen Figuren mit einsteigen. Eine interessante Kommentatorfunktion hat das Treiben der Tanzgruppe im Vordergrund. Sie spielt das Erzählte, das Fehlende in der Handlung, nicht ohne es zu kommentieren und zu diskutieren. Das Geschehen wird auch verfremdet, z.B. tanzen viele Siegfrieds oder tauschen die Perücken. Blond überall ... Die involvierte Rockband (in den Kamptürmen unten) liefert passende, spannende harte Klänge.

Gegenüber stehen sich die Christen mit dem Dornenkranz-Totenschädel auf dem linken Belagerungsturm und die Heiden mit dem an einen Kampfelefant erinnernden Turm rechts. Verbunden sind beide Türme mit einer Hängebrücke, die auch eine weitere Spielebene über dem Geschehen am Boden darstellt und symbolisiert. Hier oben finden die Beziehungsgespräche der Brünhild (sehr, sehr stolz und überzeugend Catrin Striebeck), Krimhild (zerbrechlich, unendlich leidend, aber fit im Schwertkampf die fühlbar nahe Judith Rosmair), des Hagen und Etzels (der zurückhaltende alte Fuchs und fast unglaublich gewaltfreie Attila, authentisch durch Markus Boysen) statt. Hier wird der ermordete Siegfried vor der Tür Kriemhilds liegend gezeigt, dessen lebloser Körper, seine Wunden auf das Auftauchen des angeblich unschuldigen Hagens mit erneutem Bluten reagieren. Seine aufbrechenden Wunden sind die Lippen, die die Schandtat an ihm berichten, klagt Kriemhild. Was sie damals nicht an Vergeltung an Hagen schaffte, schafft sie am Ende. Hier steht auch Brünhild, als sie ihre Liebe und ihren Besitzanspruch an Siegfried Kriemhild kundtut, und Kriemhild, die den Betrug an Brünhild durch ihren Siegfried zur Sprache bringt.


Ortlieb und Hagen
Foto: Marion Bührle
Wer über alles Bescheid weiß ist natürlich Hagen (Max Urlacher jung und dynamisch, wendig und gar kein Steinbeißer). Er reiste zum Etzelhof, obwohl ihn die (Rhein-)Geister warnten: "Kommt Ihr zu den Hunnen, Hagen, seid Ihr verraten und verkauft." Er kommt anonym in den Burghof, als wilder Batman auf einem kettenbehangenen Kampfquad, und freundet sich mit dem wissbegierigen und standesbewussten Ortlieb an, erzählt ihm die Geschichte Siegfrieds. Der Junge (sehr einfühlsam und überzeugend den Hunnenjungen mit moderner Sidecut-Frisur und Deckwedel gespielt von Alina Levshin) tollt herum und spielt mit seinen Freunden wie auch mit dem Narr zur Kampfertüchtigung. Sein Wunsch und Ziel ist es, dereinst Hagen zu töten. Siegfried ist sein Vorbild, ihn will er rächen, weil seine Mutter Kriemhild jeden Tag um ihn trauert. Drum ist das Spiel des Narren, Siegfried als eine Missgeburt zu verkaufen, auch eine Qual für den Königssohn. Man sieht hier eine weitere Spielebene, und zwar die des Autors Obermaier und der Regie Thomas Schadts, immer wieder schalkhaft alles in Frage zu stellen. War Siegfried ein ganz anderer? Hatte er so schlechte Augen, dass er dies mit einer hohen Schlagfrequenz im Kampf wettmachen musste? Deshalb auch sein Sieg über 700 Ritter im Nibelungenland, wodurch er nach dem Erschlagen der beiden Söhne des Nibelunc, nun in Besitz des Schatzes, ja auch aus Norwegen entkommen konnte. Der Narr (Maik Solbach als wilder Turner, spöttelnder Nibelungenflüsterer und kecker Schwertkämpfer) transportiert diese "Witzeleien", man braucht ja auch einen Berg Naivität, die ganzen Stories aus dem Sagenland zu glauben. Er hat noch eine ganz andere wichtige Aufgabe. Am blutigen Ende wird er zum Chronist des Geschehens, dessen Ablauf Etzel bestimmt und ihm in die Feder diktiert. Der Zuschauer bemerkt die Abweichungen, Übertreibungen und Manipulationen und schließt hier wieder auf zur Autoren- und Regieebene. Auch Hagens Ruf zwischendrin, als er einen Mitspielenden zum Entsetzen der anderen aus Versehen wirklich ersticht: "Es ist alles Theater! Alles erlaubt!", gehört hierher. Wer zuschaut ist Zeuge der stattgefundenen, jederzeit veränderbaren Realität. Damit der Chronist es nicht weitergeben kann, ersticht Etzel ihn zuletzt mit der stählernen Schreibfeder.


Brünhild und Kriemhild     Foto: Marion Bührle
Zwei ganz besonders wichtige Charaktere sind die  beiden Rivalinnen Brünhild und Krimhild. Sie sind über Kreuz miteinander verbunden, denn der Herr Siegfrieds, Gunther, ist auch der Werber und spätere Mann Brünhilds und der Bruder Kriemhilds. Weil Gunther die Isländerin Brunhild zur Frau haben will, aber keine Chance ohne Hilfe hat, sie im Kampf zu besiegen, was Bedingung ist, andernfalls droht der Tod, besiegt Siegfried sie mit Hilfe seiner Tarnkappe und seinem Schwert, das 
ihn unbesiegbar macht. Dafür bekommt er die Schwester Gunthers, Kriemhild, zur Frau, was Brünhild erzürnt, weil der Schmied Siegfried nicht von Stande ist. Brünhild bemerkt in der Hochzeitsnacht, dass Gunther ein Schwächling ist, der mit Frauen nicht umgehen kann. Er "hechelt" und hat "Angst vor Frauen". Sie fesselt ihn, was den Vollzug der Ehe in Frage stellt. Auch hier hilft Siegfried. Er bezwingt sie nachts in Gunthers Gewand, verbindet ihr die Augen, raubt ihr einen Ring und den Keuschheitsgürtel, die er Kriemhild übergibt, während Gunther sie nach ihren Worten "missbrauchen" darf. Sie hat Gunther nie anerkannt. Kriemhild offenbart den Betrug, und Brünhild leidet darunter. 
Kriemhild und Brünhild beim Kräftemessen im 
Festsaal, Brünhild bereits in Dschihadistenkluft.
Foto: Marion Bührle
Hagen tötet schließlich Siegfried auch wegen der Schmach für seine Herrin. Vom Gold abgesehen. Ihre Liebe gilt allerdings schon immer dem starken Siegfried, gesteht sie, sie sei bei seinem Tod "hinter der Fassade" mit in seinen Tod gestürzt. Geschickt stellt der Autor die Frage, ob Hagen denn allein der Mörder gewesen sei. Oder nicht Kriemhild mit, weil sie den Keuschheitsbetrug aufdeckte, die Stelle seiner Verletzlichkeit markierte? Natürlich auch Brünhild, die seiner Ermordung zustimmte.

Das Begehren der Figuren nach dem jeweils anderen und Verfeindeten wird ganz deutlich in  diesem Stück erkennbar, neben der Gier nach dem Gold, zum Antrieb der gesamten gegenseitigen Verfolgung, Auslieferung, Vernichtung. Das Gemetzel ist - so paradox es klingt - das Produkt aus Liebe und deren Endprodukt Wut! Und weil die Liebe nicht Halt macht vor Feinden, das Begehren müsste man sagen, von einem zum anderen wandert, wo immer Macht vermutet wird, wird sie auch zum tödlichen Sog für alle. Etzel ist der Überbringer dieser eminent wichtigen Botschaft. Er liebt Kriemhild, leidet unter ihren Qualen und ihrer Trauer um Siegfried, "sie schläft mit offenen Augen, seit Siegfried tot ist, sie schreit immerzu nachts...". Liebe raubt uns die Kräfte und den Verstand, am Ende ist es Wut, sagt Etzel, und mehr, sie ist ein regelrechtes "Gift". Seine Gattin denkt da nicht anders: "Er macht Liebe, und ich liebe die Macht!" 


Brünhild, Kriemhild und Etzel    Foto: Marion Bührle
Als Etzel Brünhild erblickt, will er sie haben. Er möchte mit ihr "die Körper kreuzen", sicher, dass es ein Machtkampf ist, Kampf um das Gold, aber er will die Liebe dabei haben, weil sie ihren Hass und Leidenschaft verstärken wird. Etzel taugt uns hier als Brandbeschleuniger der späteren Katastrophe. Der kleine Ortlieb hat das Wirken der Liebe auch schon erfahren: "Ich bin ein Gefangener der Liebe". Er ahnt, was es heißt, wenn Geliebte sterben müssen und welche Hassgefühle sich daraus entwickeln können, und was es bedeutet ein Königssohn, gefangen im Königshof, zu sein.

Dagegen steht die poetische und überlieferte Einswerdung Siegfrieds mit Kriemhild als tänzerische Einlage: "Vom ersten Kuss bis in den Tod sich nur von Liebe sagen". Als reine Liebe besungen und festgehalten, aber mit im Spiel Kriemhilds Verlangen nach Hagen, der seit ihr Mann tot ist, jede Nacht im Traum erscheint und mit ihr schläft. Er ist ein Stellvertreter Siegfrieds geworden. Ortlieb spürt das in seiner letzten Konfrontation mit Hagen und bindet den Helden Siegfried durch Selbstmord an seine Person, dass Siegfried in ihm, dem Sohn, weiterlebe und geliebt werde durch seine Mutter Kriemhild. (Da ist auch jemand emotional zu kurz gekommen.) Er lässt Hagen von Tronje gar nicht erst ihn bestrafen oder richten. Er macht es selbst. Dass wir hier eine ödipale Beziehung mitklingen haben, wo der Sohn eine Vaterfigur ersetzen will, gleichzeitig sich der väterlichen Rache entzieht, macht es noch pikanter. Vielleicht auch eine kleine Analyse der Selbstmordattentäter?

Und ein weiterer Umstand sticht ins Auge, dass nämlich Brünhild sich zu Hagen in den Festsaal als Dschihadistin mit Sprengsätzen um den Bauch begibt. Den Plan zum Selbstmordattentat reicht sie im entscheidenden Moment mit dem Sprengsatzgürtel an Ortlieb weiter, der den Sprengsatz umbindet, aber nur sich umbringt. Das Zünden des Sprengsatzes ist dann wohl im übertragenen Sinn der wütenden Mutter danach überlassen. Hier sind Etzels Liebesspielchen am Wirken. Neid auf Kriemhild, die Etzels Frau sein darf. Die ohnehin hassende Brünhild gießt somit auch Öl ins Feuer. Sie reicht dem kämpferischen Jungen, Abhängigen, voller Mitgefühl mit der leidenen Mutter, die ("liebes-)giftige" Möglichkeit, sich und andere zu töten.

Und hinter allem, allem die Gier nach dem Gold der Nibelungen und Reichtum. Siegfried hat den Schatz zuerst an sich genommen, Kriemhild ihn nach Worms gebracht, großzügig Gold verschenkt, dann Hagen, der ihn nach der Ermordung Siegfrieds bei Worms (Lochheim) im Rhein versenkt haben soll. Und das krönende Finale, das Treffen auf der Etzelburg, als Abrechnung und Rückholung des Schatzes von Kriemhild geplant, artet in eine Totalvernichtung aus.


Das Bankett im Festsaal mit den Knappen
Foto: Marion Bührle
Zum eigentlichen Gemetzel sollte der Leser die Geschichte noch einmal nachlesen, wer wen in welcher Reihenfolge tötete (am besten hier in Kurzfassung), auffällig und imposant ist der Festsaal fürs Bankett mit einem Meer von Totenköpfen auf dem Boden. Ein sehr eindrucksvolles Bild, das man lange erinnert, wie auch die Rivalinnen auf der Brücke im ersten Teil oder Etzel und Brünhild in Anziehung, Etzel und der Narr und viele, viele Szenen mehr. Der Nibelungenhort, der unermessliche Schatz wird bereits zu Beginn durch eine Tänzerin in goldfarbenem hautengem Dress dargestellt, lüstern greifen viele Hände nach ihm, ein Schwert will ihn in der Mitte auseinanderschlitzen. Als ob er die schönste Frau auf Erden sei. Doch nur Hagen könnte sagen, wo er ist, er verrät allerdings nichts. Kriemhild will ihn mit der Enthauptung Gunthers zum Sprechen bringen, aber vergeblich. Daraufhin köpft Kriemhild Hagen persönlich, bringt in zum ewigen Schweigen, niemand wird je erfahren, wo der Schatz ruht. Etzel ein Graus.

Etzel beginnt hier die Geschichte umzuschreiben, er lässt Kriemhild auf dem Papier sterben, in Stücke gehauen vom erbosten Hildebrand, der der dreisten Frau der Sage nach Einhalt geboten haben soll, derweil sie im Stück bei Etzel am Hof weiterlebt. Und weil der Narr es weitererzählen könnte, muss er auch sterben. Der fehlende Hildebrand irritiert wie der tote Dietrich von Bern, ihn hat die rachsüchtige Kriemhild auch getötet, wo er doch in der Sage der einzige überlebende Anführer neben Etzel gewesen sein soll, und so endet alles mit Etzel und seiner Frau als alleinige Überlebende in einem von Rauchschwaden umzogenen Ort des Grauens. Es deutet auf ein Weiterleben und einen Neuanfang hin. Um die Burg herum darf man sich 1000 tote Knappen, 7000 tote Burgunden und 1004 tote Hunnen vorstellen, um eine unvollständige geschätzte Aufstellung zu wagen.

Beeindruckender kann man kaum inszenieren, vielleicht mit hünenhaften Recken und Riesen statt Kindern, mehr Kampfszenen und Allerlei, aber so fand dieser spannende Abend ein ungewöhnliches Ende. Jahr für Jahr soll die Nibelungensage immer wieder neu zu interpretieren, zu spielen und zu erleben sein. Das ist 2015 ausgesprochen gut gelungen. Eine moderne, stimmige Inszenierung mit vielen Anregungen zum Weiterspinnen ... Worms erwacht während der Festspiele mit seiner Geschichte wie nach einem Schlaf von 1500 Jahren.


Wer 2016 vom 15. bis zum 31. Juli bei den Festspielen, insbesondere der Premiere, dabei sein will, sollte sich frühzeitig um Übernachtungs- und Kartenarrangements kümmern. Das Festspielteam hilft Ihnen dabei.