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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Montag, 10. April 2017

Wie war's bei "The Rake's Progress" in Frankfurt am Main?

Tom Rakewell und Nick Shadow
(c) Barbara Aumüller
Ensemble mit Baba     (c) Barbara Aumüller
"The Rake's Progress" („Der Lebenslauf eines Wüstlings“) - a fable -, eine Oper von Igor Strawinsky, uraufgeführt im Teatro La Fenice, Venedig, am 11. September 1951, spielt im London des 18. Jahrhunderts. Strawinsky orientiert sich dabei an den (fast) gleichnamigen, zwischen 1733 und 1735 entstandenen 8 Bildern (Gemälde und Kupferstiche "A Rake's Progress") des englischen Künstlers William Hogarth. Deutlich angelehnt bewegt er sich entlang der Moralgeschichte in Kupferstichen, die zu ihrer Zeit eine hohe Berühmtheit in Europa, auch in Deutschland erreichte. Die Leute interessierten sich natürlich auch für die moralischen Verfehlungen der englischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Obwohl das Hauptthema uns heute ein bisschen kitschig und altbacken vorkommt, mag es in den 50er-Jahren mit ihren rührseligen, moralisierenden Filmen noch mehr beliebt gewesen sein.
Es geht um Tom Rakewell, dessen extrem geiziger Vater nach seinem Tod ein großes Erbe hinterlässt, dass der bislang kurz gehaltene Sohn mit einem ausschweifenden Leben in London in Bordellen und Spielhöllen durchbringt. Die Schulden wachsen an, und anders als heute gab es keine Schuldnerberatung und Schuldenerlass nach Privatinsolvenz, sondern Knast, bis die Schuld abgetragen war. Völlig verarmt und ohne Liebe endet der Held schließlich im Irrenhaus.

Kommentator, Führer durch das und Teil des Geschehens ist die märchenhafte Mephisto- bzw. Teufelsfigur Nick Shadow (Kihwan Sim ein beeindruckender und sich klar abhebender Bariton), die von modernisierten Cembalotönen begleitet wird. Er ermöglicht und stößt das Geschehen an, bringt den Stein ins Rollen, indem er den schnöden Mammon von Vater Rakewell überbringt. Das Geld und Nick führen ihn direkt ins Rotlicht, um die ersten Deformationen zu erreichen. Das Ganze als Weg zum Heil verkleidet fordert Nick auch einen Lohn, er meint natürlich wie immer bei diesen Deals die Seele, aber das merkt der naive Tom nicht, er will richtig wild leben, was er bekommt, seinen Schatten Nick immer an der Seite. Er kommt auch wieder raus aus dieser Welt der Huren und Spielsalons und darf bieder leben (mit der verrückten Figur der Baba), fällt dann auf eine von Nick präsentierte Maschine rein, die aus Steinen Brot machen kann um Toms Wunsch, die Welt vor Hunger retten zu können, damit zu erfüllen. Tom hält das Gerät für eine geniale Erfindung. Nick erklärt dem Publikum in diesem Zusammenhang ironisch, dass man eben einfach gute Geschäfte mit ihm machen könne. Aber die Naivität Toms und seine Liebe zu Anne retten ihn auch, denn als der Teufel seinen Lohn fordert und es um Leben und Tod geht, soll ein Kartenspiel entscheiden, das der Naive, wohl geführt von einer Art Gegenmacht und dem Zufall, für sich entscheiden kann. Sein Teufelsschatten geht durch das Grab ab, das für Tom bereit steht, nicht ohne ihn zuvor noch verflucht und des Verstandes beraubt zu haben. Im Irrenhaus ist Endstation.

Die Urgeschichte dazu entstand vor Goethes FAUST und dessen Verführung. Don Juans Frauengeschichten sind auch zu spüren. Strawinsky wiederum hat literarische, musikalische und biblische Zitate mit ins Spiel gebracht. Seine Ausführung hat den Charakter einer Bühnenparabel, zur Fabel fehlen die Tierprotagonisten. Die immer wiederkehrende Problematik der pekuniären Verlockungen, des moralischen Zerfalls und der verschmähten wahren Liebe macht das mit äußerst abwechslungsreicher Musik gefasste Opernkunstwerk zu einem eigenwilligen Genuss. Reges Treiben, verrücktes Spiel und eine gewisse Skepsis wegen der Stilmischungen beim Betrachten und Hören mischen sich miteinander.

Das Schicksal des Tom Rakewell (Theo Lebow, ein prämierter Tenor), der die Liebe von Anne Truelove (die sprechenden Namen haben schon etwas lehrhaft Juristisches, Elizabeth Reiter als überzeugende Sopranistin) verschmäht, um seine Erbe mit unzähligen Frauen zu verjubeln, schließlich eine Heirat mit der prominenten Dame ohne Unterleib, dafür im Strawinsky-Original mit Vollbart, eigentlich ein Transvestit, Baba the Turk (Tanja Ariane Baumgartner mit imposanter Stimme, die das Publikum zuletzt als Cassandre in Berlioz' Trojaner begeisterte) eingeht, um ein ordentliches Leben ohne Ausschweifungen zu führen. Leichter geht es nicht als mit Baba: weg von den Frauen in den Etablissements hin zur Enthaltsamkeit. Diese Baba ist unter anderem auch ein Kostümhighlight in der Frankfurter Oper, ihre zirkus- und revuetaugliche Behinderung stellt sie in den Mittelpunkt, dabei ist sie/er zutiefst unfruchtbar, sogar asexuell, obwohl sie in Frankfurt mit Turmfrisur reizend aussieht. Toms Beziehung zu ihr entbehrt dann auch jeglicher Liebe und Sexualität, er wirft Baba eines Tages aus dem Fenster, weil sie ihm zu viel wird. 

Anne hat all das mitverfolgt, sie machte sich nach einer Eingebung auf den Weg, den Geliebten zu retten, ihm zu helfen, aber sie wurde nur mit Absurdem konfrontiert. Tom schickte sie sogar weg, obwohl er in all der Zeit der Trennung wehmütig an diese wahre, aufrichtige Liebe dachte.

Tom wird in den Strudel einer Abwärtsbewegung geschickt, weil sein Wille zum genussvollen Leben, so die Moral der Oper, ihn verarmt, fast tötet und am Ende sogar schwer krank macht. Nachdem seine Geliebte Anne ihm in der Psychiatrie alles vergibt, stirbt er dann doch vorzeitig. Keine Chance aus der Autoren-/Komponistenfeder, alles in eine andere Richtung zu schreiben. Vorbestimmung und Wille des Schöpfers machen es unmöglich. The Rake's Progress hat autobiographische Züge bzw. verbildlicht Erziehung und erwartetes Ende Strawinskys, der sich hier vorzeitig einmal hat mit untergehen lassen.

Weitere Aufführungen sind noch am 15. und 21. April 2017.



Baba und Tom     (c) Barbara Aumüller

Mittwoch, 5. Juni 2013

Wie war Elfriede Jelineks "Winterreise" in Kaiserslautern?

Fotos: Stephan Walzl 

Eine große und im Pfalztheater Kaiserslautern toll gemeisterte Herausforderung für die Bühne ist Elfriede Jelineks "Winterreise". Gesehen am 31.05.2013, der letzten Aufführung in der Saison. Ein Zustandsbericht aus dem Kopf der Autorin quasi, ein unerbittliches Reflektieren über das Leben, den Tod, die Zeit, den Verlust des Bewusstseins, des Verstandes im Zeichen von Demenz, psychiatrischer Erkrankungen und durch das Vergehen von Zeit. Im Pfalztheater von Martin Kloepfer sehr interessant und multiperspektivisch auf die Bühne gebracht. Keine Namen, keine greifbaren Figuren, alles nur Ahnung und Zuordnung durch das Spiel der Dinge ... Ein biografischer Bezug, die Mutter, ein herrischer Mensch, eine Intolerante und Dominante, der Vater in die Psychiatrie eingewiesen, in diesem Theaterstück wird alles lebendig. Mit einem Exkurs in die Welt der Sexualität, Exhibitionismus, in die Welt des Datens über Internetseiten, als letzte Chance noch jemanden kennenzulernen, die Fastschon-Sucht der Tochter, von der Mutter kommentiert und abgelehnt.

Das erzählende Ich aufgespalten in Heiminsassen, psychisch Kranke, Familienangehörige, Männer aus dem Internet und in eine Art Jury am Regietisch am Kopfende der Spielfläche. Dominique Bals als Harlekin mit Henning Kohne unterwegs, in drei Runden kommentieren sie das Geschehen zu Beginn mit "Scheiße", dann "Super", zur ironischen Deutung der Altensituation in Heimen oder Psychiatrie, oder "Seltsam" angesichts des Todes. Rainer Furch als Regisseur und Vater der Autorin, Hannelore Bähr als Regisseurin, Mutter von Jelinek, die den Vater zu Hause nicht mehr sehen will, "Er hat zu Hause nichts mehr zu suchen", Natalie Forester als die junge Autorin, fassungslos über die Entrücktheit ihres Vaters, unsicher in Datingangelegenheiten - "Die Guten schickt man weg, die Schlechten fi*** man" - und an Mutter und Schwester gebunden (ausgeliefert im Keller wie das Langzeitentführungsopfer Natascha Kampusch?), Elif Esmen als Schwester und in weiteren Rollen. 

Die Regisseure, Beobachter, Kommentatoren im Spiel machen die Geräusche zum Abendessen der Altersheim-/Psychiatrieinsassen, schlürfen, gießen Wasser um, Rühren mit dem Löffel in der Tasse, tragen dabei Gedanken über die Zeit vor, rezitieren Gedichte von Wilhelm Müller, spinnen sie weiter und dichten sie um. Auch Franz Schuberts Lieder, die dem Stück seinen Namen gaben, werden integriert. Ein wunderbares Mittel, Dementen den Eindruck zu vermitteln, dass sie wirklich aus einem ganz bestimmten Grund warten, nämlich auf einen Bus zur Weiterfahrt, wird mit einer Haltestelle zum Tod verglichen. Das Alter, der Rest des Lebens, wartend, zeitverlustig, alles löst sich auf.
  
Fast wie Becketts Figuren in "Endspiel" oder "Glückliche Tage", die die Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit beklagen, auch bei Jelinek: "Geschichte und Zeit wiederholen sich nicht ..." Sie gehen immer weiter, alles Gedachte ist vorbei, wenn es gedacht wurde. Die Zeit steht am einen Ende einer Strecke, das Ich am anderen, das Ich ist das eine Ende der Zeit. Selbst Gegenwart versteht sich nicht mal mehr als Gegenwärtiges, der Tod lächerlich. Eine angestrandete Frauenleiche zum Feixen: "Was soll ich mit diesem Gegenstand"? 

Alles ist irgendwo Zitat, aber auch Eigenes. Gehaltvolle Aussagen und Reflexionen über das Alter und Vergessen jagen einander: "Wieso begegne ich nie der Zeit?", "Ich falle! Das kommt davon, wenn man im Jetzt leben will, aber Jetzt gar nicht ist!", "Wir haben das Hotel zum Totenacker schon gebucht." Oder der Vater: "Ich werde das Ende nicht erreichen, weil ich den Anfang nicht mehr sehe, alles löst sich auf." Der Sprung in die Grube nur noch ein Jux.  

Freitag, 31. Mai 2013

Heute zum letzten Mal: WINTERREISE von Elfriede Jelinek

Foto: Stephan Walzl.

31.05.2013   I   19:30 Uhr  |   Pfalztheater Kaiserslautern, Großes Haus
Einführung 19:00 Uhr, Foyer
zum letzten Mal


Winterreise
Schauspiel von Elfriede Jelinek

Premiere 16.03.2013,  Großes Haus

Fremd in der Welt und fremd dem eigenen Leben gegenüber, folgt Elfriede Jelinek in ihrem neuen Stück den Spuren des Wanderers aus Franz Schuberts „Winterreise“. Der Weg beginnt im Wahnsinn der unmittelbaren Gegenwart und führt immer deutlicher zu Stationen in Jelineks Biografie. Jelinek rechnet wortgewaltig und radikal mit sich und dem Leben da draußen ab: Die komplizierte Beziehung zur Mutter, die Einweisung des Vaters in die Psychiatrie bis hin zu einer ebenso schonungslosen wie ironischen Selbstabrechnung Jelineks mit ihrer Rolle als Autorin, die „das immer gleiche Lied leiert“.

„Winterreise“ ruft in beeindruckender Klarheit und fast unheimlicher Textdichte noch einmal Themen auf, die Elfriede Jelinek in den letzten Jahren und Jahrzehnten beschäftigt haben. Entstanden ist dabei eines ihrer persönlichsten und anrührendsten Werke überhaupt.

Montag, 20. August 2012

Dichterhain: ALBERT M. von Carmen Olivar


    Albert M.

    Diese Vergewaltigung
    Gehirnwäsche
    Seelischer Raub
    Körperliche Ausbeutung

    Umgehen kann man damit lernen
    Nur vergessen
    Wer kann schon das Gesicht
    Seines Peinigers vergessen

    Wie sollte ich vergessen
    Seine Hand, dort,
    Wo sie nicht hingehört

    Wie kann ich Lieben?
    Nach all der geheuchelten Liebe?

    Auf der Seele klaffen Wunden
    Sie eitern
    Sie platzen auf
    Sind nie verheilt

    Oh nein
    Keinen Hass
    Das wäre noch zu viel
    Gefühl für dich
    Genosse Vater!

    (c) 29. Mai 2003, Carmen Olivar

Sonntag, 29. Juli 2012

Dichterhain: KÜNSTLERSEELE von Harald Göbel (gest. am 19. Juli 2012)


(c) Florian Czech: Auf der Suche
Künstlerseele

Seele des Schönen
Ewige Blume

Trauriger Regen
Glitzernder Schnee

Erben und Wollen
Lernen und Können

Tosende Stürme
Segeln im Wind

Schauen und Fühlen
Sehen Erkennen

Nebel so düster
Glänzender Tau

Einsamer Ruhm
Doch unverstanden

Herrliche Sonne
Bleicher Mond

Ewige Seele
Wie Blumen so schön

(c) Harald Göbel, (23. Juni 1952-19. Juli 2012), Architekt,
Bühnenbildner bei Hans Neuenfels, Maler und Lyriker


Dienstag, 6. März 2012

Buchbesprechung: (Militär-)Psychiatrie in den Weltkriegen


Krieg und Psychiatrie 1914-1950
Hg. von Babette Quinkert, Philipp Rauh, Ulrike Winkler
Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 26
(Herausgeberinnen u. Redaktion: Christoph Dieckmann u.a.), Göttingen 2010, 264 S., 3 Abb., brosch. 20,- € (D), Wallstein Verlag

Der Bericht über die psychische Verfassung und Versorgung vieler in Afghanistan statio­nierter Soldaten, den der damalige Wehrbeauftragte Reinhold Robbe Anfang 2010 vorgelegt hat, zeigte, dass psychische Störungen von Soldaten mitunter auch heute noch einem Tabu unterliegen.
Ihren Anfang findet die Militärpsychiatrie in Deutschland während des Ersten Weltkriegs. Kurz nach Beginn des Krieges sahen sich die Militärpsychiater mit einem bis dahin in dieser Form nicht bekannten Krankheitsbild konforntiert: Eine Vielzahl der Soldaten reagierte auf das Erlebte mit Lähmungen und dem sog. Kriegszittern. Die auftretenden psychischen Krankheiten wurden als Zeichen von Minderwertigkeit ab­getan und später sogar als genetische Mängel deklariert. Davon machten in der Folge die Nationalsozialisten für ihre perfiden Ideen Gebrauch. Die im WK I diagnostizierten und bekannt gewordenen Fälle wurden im WK II ermordet. 
Dieser Band schildert ausführlich und quellenbelegt die Entwicklung der Militärpsychiatrie mittels bis dahin unbekannter Patientenakten und ermöglicht damit neue Einblicke und neue Forschungsansätze für die Wissenschaft.
Viele Leser werden am eigenen Leib auch nach 1950 noch erfahren haben, wie vermeintliche psychische Probleme nicht hinterfragt schnell und schwer widerlegbar zum Anlass von gesellschaftlichen, sozialen, Arbeitsmarkt- und juristischen Ausgrenzungen verwendet werden. Das ist nicht nur an der afghanischen Front so, das kann auch in hiesigen Kasernen so sein. Man findet dies natürlich auch im Rahmen von Familienangelegenheiten. Sorge- und Umgangsrechte für viele Jahre aberkennen, ohne dass noch verifizierbare Gründe vorliegen. Eine (Falsch-)Aussage eines bestellten Gutachters und der Vorhang fällt. Glücklicherweise kann sich die deutsche Psychiatrie die begangenen Mordszenarien - wenn auch damals nur im Regierungsauftrag der Nazis - nicht mehr leisten, aber ein sozialer Tod oder eine haftähnliche soziale und weitergehende Ausgrenzung 
schreien  gerade bei unbegründeten Fällen nach wie vor nach Klärung und Gerechtigkeit.   


Leseprobe 1:
"»Was glauben die denn, wo wir hier sind? Bei einer Kaffeefahrt oder auf dem Ponyhof? Infanteristen sind in letzter Konsequenz dazu da, zu töten oder getötet zu werden.«(1)
Mit diesem Satz reagierte ein Hauptmann der Bundeswehr auf die Meldung, dass zwei seiner Soldaten aus psychischen Gründen aus Afghanistan nach Deutschland zurückgeführt werden müssten.(2) Die Haltung dieses Offiziers zeigt, dass psychische Störungen von Soldaten mitunter auch heute noch einem Tabu unterliegen. Dabei gehört das Erleben von psychisch belastenden Situationen in kriegerischen Auseinandersetzungen zum Alltag von Soldaten. Dass diese darauf mit seelischen Störungen reagieren, ist spätestens seit dem Ersten Weltkrieg bekannt.(3) Seitdem hat jeder Krieg eine ihm eigene Konstellation an psychischen Symptomen hervorgebracht.(4) Während die Militärpsychiater des Ersten und auch des Zweiten Weltkrieges mit dem Phänomen der »Kriegsneurose« konfrontiert wurden, ist seit 1980 (zunächst Bezug nehmend auf die Langzeitfolgen des Vietnamkrieges) von »posttraumatischen Belastungsstörungen« (PTBS) die Rede(5) - eine Diagnose, die durchaus auch kritisch diskutiert wird.(6)"


Leseprobe 2:

"DIE NATIONALSOZIALISTISCHE KRANKENMORDAKTION T4
Mit der Patientenzahl stiegen auch die Kosten enorm an. Aus Sicht der NS-Führung konnte dieser Anstieg nur durch eine Senkung des Pflegesatzes für jeden einzelnen Patienten gestoppt werden und der verordnete radikale Sparkurs sorgte umgehend dafür, dass in den psychiatrischen Einrichtungen Überbelegung, Personalknappheit und Mangelernährung den klinischen Alltag bestimmten.(33) Die Pflegesätze wurden nach und nach unter das Existenzminimum gesenkt, so dass am Vorabend des nationalsozialistischen Krankenmordes den schwächsten, unruhigsten und pflegebedürftigsten Menschen in den Anstalten die Lebensgrundlage bereits entzogen war.(34)
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die deutsche Psychiatrie zum Schauplatz eines bis zum heutigen Tage einzigartigen Krankenmordes. In den Heil- und Pflegeanstalten des deutschen Machtbereichs wurden — in verschiedenen Mordaktionen, von denen die so genannte Aktion T 4 die bekannteste ist — insgesamt etwa 300.000 Anstaltspatienten ermordet.(35) Im Sprachgebrauch der Täter wurden für diesen Massenmord die euphemistischen Begriffe »Euthanasie« oder »Gnadentod« verwendet.

Todesurteil per Meldebogen — Die Aktion

Im Juli 1939, also noch vor Beginn des Krieges, beschloss die NS-Führung Insassen von Heil- und Pflegeanstalten zu ermorden.(36) Mit der Durchführung betraute Hitler die Kanzlei des Führers, die die Planungszentrale für den Krankenmord in eine beschlagnahmte jüdische Villa in der Tiergartenstraße 4 (daraus entstand die Bezeichnung T4) verlegte. Im Oktober 1939 beauftragte Hitler Philipp Bouhler und Karl Brandt damit, »die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Gesundheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.«(37) Diese »Führerermächtigung« wurde auf den i. September 1939, d.h. auf den Tag des Überfalls auf Polen, zurückdatiert.
Im Oktober begann auch die systematische Erfassung der Anstaltspatienten. Die Leiter der Heil- und Pflegeanstalten erhielten die schriftliche Aufforderung, mittels beigefügter Meldebogen bestimmte Anstaltspatienten der T4-Zentrale zu melden. Dieser Meldebogen war das zentrale Dokument der Selektion von Patienten für die »Euthanasie«, aus ihm lassen sich die Selektionskriterien der Aktion T4 ableiten. Die Fragen bezogen sich auf die dauernde Anstaltsbedürftigkeit bzw. Unheilbarkeit des Patienten, seine Therapiefähigkeit, sein Verhalten, seine Arbeitsfähigkeit, die »Erblichkeit« seiner Erkrankung sowie seinen Familienanschluss. Die Meldebogen wurden im Laufe der Aktion T4 mehrmals modifiziert, wobei das Kriterium der Arbeitsfähigkeit des Patienten einen immer größeren Raum einnahm.(38)
Die ausgefüllten Meldebogen wurden an so genannte T4-Gutachter - beinahe ausschließlich renommierte Universitäts- bzw. Anstaltspsychiater — weitergeleitet, die dann allein auf dieser Grundlage über Leben oder Tod der betreffenden Kranken entschieden. Dabei waren Heilbarkeitsprognose, Pflegeaufwand und Verhalten wichtige Kriterien, doch entscheidende Bedeutung gewann die Frage der Arbeitsleistung des Anstaltsinsassen. Wurde der Patient im Meldebogen als produktiver Arbeiter beschrieben, hatte er mit Abstand die größten Chancen, die Aktion T4 zu überleben.(39) Die als »lebensunwert« eingestuften Patienten wurden kurze Zeit nach der Begutachtung in so genannte Tötungsanstalten abtransportiert und dort vergast. Bis zum vorläufigen »Euthanasie«-Stopp im August 1941 kamen auf diese Weise über 70.000 geistig behinderte und psychisch kranke Menschen ums Leben.
Der offizielle Abbruch der Aktion T4 bedeutete jedoch nicht das Ende der Mordaktionen an geistig Behinderten und psychisch Kranken. Es begann eine als dezentral zu bezeichnende Phase der Krankenmorde: Bis Kriegsende starben im Reichsgebiet Anstaltspatienten in verstärktem Maße durch Medikamente und Hunger.(40) Auch die Anstaltspatienten in den von Deutschland besetzten Gebieten waren bedroht: So erschossen oder vergasten zum Beispiel Wehrmacht und SS in den ab Sommer 1941 eroberten Gebieten der Sowjetunion tausende von Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten.(41)"

Die Herausgeber
Babette Quinkert, geb. 1963, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutsch-Russischen Muse­um in Berlin-Karlshorst. Veröffentlichungen u.a.: Propaganda und Terror in Weißrussland 1941-1944. (2009).
Philipp Rauh, geb. 1976, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Erlangen. Seit 2006 Mitarbeit am DFG-Projekt »Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale im Zeitalter der Weltkriege«.
Ulrike Winkler, geb. 1966, selbstständige Politikwissenschaftlerin, zahlreiche Veröffentli­chungen zur Diakonie-, Sozial- und Zeitgeschichte.


Freitag, 24. Februar 2012

Buchbesprechung von Christiane Bienemann: Auge um Auge (Thriller zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern)


  • Curd Nickel
    Auge um Auge,
    Stuttgart 2011, 250 Seiten, 12,20 EUR,
  • ab 16 Jahren, Südwestbuch

Ich gestehe, ja, ich war skeptisch. Als ich von Kurts - oder besser gesagt Curds - gerade erschienenem Thriller las. Was könnte es zum Thema Kindesmissbrauch zu lesen geben, was in den Medien nicht schon hinreichend erörtert worden ist? Und vor allem - wie packt man als Autor ein solch heikles und brisantes Thema überhaupt an? 

Ich gestehe, ja, ich war überrascht. Und zwar durchweg positiv! Das Buch ist nicht nur dermaßen spannend geschrieben, dass ich es am Wochenende in einem Rutsch ausgelesen habe. Sondern es beleuchtet auch die Gedankengänge und den, sagen wir mal An-Trieb, von Tätern, Opfern, dem Umfeld von Opfern und Tätern, und nicht zuletzt der ermittelnden Kommissare. Wobei es „Otto-Normal-Leser“ (sprich ohne heilpädagogischen Hintergrund), zu denen ich mich bei diesem Roman sicherlich auch zähle, sehr schwer fallen mag, sich mit der Motivation und Brutalität eines Triebtäters zu befassen.

Zur Handlung: Gerhard Berger arbeitet als Pfleger in der Forensik. Er ist glücklich verheiratet und genießt das Familienleben mit seiner Frau Sabine und den Kindern Ronja und Marcus. Doch dann werden die Kinder von den beiden Pädophilen Paul Schurecke und Lothar Utikal aufs Grausamste missbraucht und danach verbrannt. Als die Täter mithilfe Pauls Vater, dem reichen Manager Josef Schurecke, freikommen und sich seine Frau Sabine daraufhin das Leben nimmt, beschließt Gerd Berger, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. 

Das Buch weckt bei dem Leser durch die Bank weg sehr starke Emotionen. Sei es gegen den fahrlässig handelnden Hausmeister Valentin, der den beiden Kindern einen Anruf bei den Eltern verwehrt, als sie den Schulbus verpasst haben. Oder gegen Elvira Schurecke, die blind zu sein scheint gegenüber der Veranlagung ihres Sohnes. Bei der detaillierten Schilderung des Missbrauchs an sich. Dass die beiden Kommissare Popp und Pimpelkamp (ein Schelm, der Übles denkt bei diesen Namen) gegen Windmühlen kämpfen. Und auch, als Sexualtäter Bartsch Einblicke in sein Innenleben gewährt.

Gerd Berger kehrt nach den traumatischen Erlebnissen zum Erstaunen aller schon nach kurzer Zeit in den Dienst auf Station 29 zurück. Warum interessiert er sich plötzlich ganz besonders für die beiden Schwerverbrecher Adolf Bartsch und Egon Schieber? Was hat es mit der Bunkeranlage in der Eifel auf sich? Und den 2 Millionen auf Gerd Bergers Konto? Mein Vorschlag: Buch lesen. Und sich selbst eine Meinung bilden. [...]

Christiane Bienemann, Kleve

Weitere Informationen:
„Während Sabines Blumenschmuck noch frisch war, waren die
Gewächse auf den Gräbern der Kinder bereits angewelkt. Und
so verharrte Berger eine lange Zeit mit gefalteten Händen vor
den drei Grabstätten.“
Gerhard Berger wurde alles genommen, was er liebte. Nachdem
seine beiden Kinder missbraucht und verbrannt wurden, nimmt
sich seine Frau Sabine das Leben. Der Justizapparat erweist
sich als bestechlich und die pädophilen Mörder sind auf freiem
Fuß. Berger schwört vor den Gräbern seiner Familie bittere Rache.
In ihm reift ein Plan heran, ein grausamer Plan. Als Beschäftigter
in einer forensischen Abteilung der Psychiatrie hat
er die Möglichkeit an die schlimmsten Sexualtäter heranzukommen,
was ihm auch gelingt. Er benutzt die zwei grauenvollsten
Monster, um Vergeltung an den Mördern seiner Kinder zu üben.
Dabei lernt er seinen tiefen inneren Abgrund kennen.


Curd Nickel spricht in seinem Thriller ein Thema an, das niemanden
kalt lässt. Sexueller Missbrauch von Kindern. Auch wenn einiges darin
schockiert, so fordert Nickel seine Leserschaft auf hinzuschauen,
den Blick nicht zu verschließen, weiterzulesen. Der seit knapp 40
Jahren in der Psychiatrie und Behindertenpflege tätige Autor spricht
in seinem spannenden Roman zudem viele weitere Gesellschaftsthemen
an, die zum Nachdenken anregen. (Die Redaktion)