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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dienstag, 25. September 2012

DAS HAUS - eine Novelle von Anner Griem

Das Haus
Eine Novelle von Anner Griem
(Auszug)

In Ordnung, diesen Sommer komme ich, wenn Du es endlich möblierst und ich nicht auf dem Fußboden schlafen muss. Weit über eine halben Stunde redete Wanna am Telefon auf mich ein, sie endlich in ihrem Haus zu besuchen, schließlich wohne sie bereits seit dreizehn Monaten dort und irgendwie seien wir immer noch verheiratet, auch wenn ich diese Tatsache nicht unbedingt wahrhaben möchte.
Sie fing an zu weinen und meinte mit von Schluchzern unterbrochener Stimme, dass sie ihrem letzten Liebhaber wegen mir den Laufpass gegeben habe.
Ob sie ihm oder er ihr den Laufpass gab, war nicht so deutlich herauszuhören, es interessierte mich letztlich nicht, als ich mich entschloss, sie zu besuchen und ich ihr zusagte.
Nach der vorläufigen Trennung, wie sie es seinerzeit nannte, hatte ich mir ein möbliertes Zimmer bei einem älteren Herrn genommen, dessen Frau kurz zuvor verstorben war.
Bad und Küche gemeinsam, im Kühlschrank gehörte mir die untere Hälfte, getrennte Haushaltskasse.
Er die Waschmaschine Montag bis Donnerstag, den Rest der Wochentage konnte ich sie benutzen.
Wir, er, der alte Mann und ich hatten einander schnell gewöhnt.
Schweigsam zurückhaltend, trug er noch an seiner Trauer um den Tod seiner Frau.
Ich, schweigsam zurückhaltend, trug noch an der Trennung von Wanna.
Sonntags kochten wir abwechselnd und luden uns gegenseitig ein. Er trank nur gekühltes Mineralwasser, Medium; ich nur gekühlten Rheingauer Riesling, beide Flaschen standen einträchtig nebeneinander im Kühlschrank.
„Meine Frau kochte niemals, immer ich. Dafür durfte ich mir das Dessert bei ihr holen“.
Als er mir das am vorletzten Sonntag zwischen zwei Gabelbissen mitteilte, hatte ich erst nicht begriffen. Zum ersten Mal unterbrach er das ansonsten vorherrschende Schweigen während unserer gemeinsamen sonntäglichen Mahlzeiten.
„Wie, bis zu ihrem Tod?"
„Einen Tag vorher noch! Plötzlich ist sie gegangen, einfach so, von eben auf jetzt, kurz nach dem Essen, ich hatte mich gerade meiner Weste entledigt. Dort, da auf dieser Chaiselongue lag sie, wie immer! Plötzlich ein Laut, nein, eher ein lauter Seufzer, irgendwie melodisch. Ich glaubte, sie wolle singen, sie sang oft, bis sie sich kurz aufbäumte und dann zurück in das Kissen sank."
„War sie denn jünger als Sie, Ihre Frau?"
„Nein, drei Jahre älter! Wieso? Ist das wichtig für Sie?"
„Nicht wichtig, habe ja keine Ahnung."
„Keine Küche, keine Kinder und keine Kirche; dies waren ihre Bedingungen, die sie mir in unserer Hochzeitsnacht stellte. Hätte ich nicht zugestimmt, wäre sie am nächsten Tag zu einem Anwalt gegangen."
„Sehr konsequent und resolut, die Dame“, meine Anmerkung fiel sachlicher aus, als beabsichtigt.
„Die Geschichte mit dem Dessert dachten Sie sich aus, sozusagen als Ausgleich?"
„Nein, nein! Im Gegenteil! Es war eine ihrer weiteren Bedingungen."
„Ich verlangte niemals etwas von ihr; sie gab, gab mit freudigem Herzen. Ich musste nur zugreifen."
„Jeden Tag? Jeden Mittag nach dem Essen?" Er nickte und griff zu seinem Wasserglas.
„Wie lange waren Sie verheiratet?"
„Heute wären es 47 Jahre geworden." Sein Kopf geriet nach diesem Satz in heftige Bewegungen, sein plötzliches Aufschluchzen machte mich befangen. Sich entschuldigend stand er vom Tisch auf und lief rüber ins Bad, Wasserrauschen drang zu mir in die Küche.
Siebenundvierzig Jahre, jeden Mittag, von montags bis sonntags, immerfort auf der Chaiselongue dort drüben an der Wand? Meine Gedanken waren verwirrt.
„Entschuldigen Sie meinen kleinen emotionalen Ausrutscher“, mit diesen Worten betrat er wieder die Küche, setzte sich auf seinen Stuhl und aß weiter.
„Nein, keine Entschuldigung bitte, für mich aber kaum zu glauben."
„Was ist für Sie nicht glaubwürdig?" Während er dies frug, senkten sich seine beiden Hände, so, dass Gabel und Messer den Rand seines Tellers berührten.
„Dass Sie jeden Mittag nach dem Essen dort auf der Chaiselongue …."
„Mein Herr, ich durfte kosten und naschen, mal von dieser, mal von jener Frucht. Niemals habe ich es gewagt, mehr zu nehmen, als sie gestattete."
„Siebenundvierzig Jahre das gleiche mittägliche Ritual nach festgelegten Spielregeln, die Sie sich bemühten, nicht zu verletzen?"
Er wendete seinen Kopf vollends mir zu, legte sein Besteck ab, griff zur Serviette, tupfte sich mit ihr über den Mund.
„Sie verstehen nicht!"
„Ich gestehe, nicht ganz! Ich bin leicht verwirrt, ja, konsterniert."

[ ... ]

(c) Anner Griem, Cannobio