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Sonntag, 17. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (7) - Die Rache eines Weibes - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Die Rache eines Weibes

Fortiter!


Eines Abends gegen das Ende der Zeit Ludwig Philipps durchschritt ein junger Mann die Rue Basse-du-Rempart in Paris, die damals ihren Namen mit Recht führte, denn sie lag tiefer als der Boulevard und bildete einen stets schlecht beleuchteten finsteren Hohlweg, in den man vom Boulevard aus auf zwei Treppen hinabstieg, die einander sozusagen den Rücken zuwandten. Heutzutage besteht der Hohlweg nicht mehr, der sich ehedem von der Chaussee d'Antin bis zur Rue Cau- martin erstreckte, wo er die Höhe der Hauptstraße wieder gewann. Dieser Stadtgraben, wie man ihn hätte nennen können, in den man sich kaum bei Tage wagte, war nachts eine ganz üble Gegend. Im Dunkeln herrscht der Teufel. Er hatte dort eine seiner Standesherrschaften.
Ungefähr in der Mitte des Hohlweges, der auf der einen Seite von dem hoch sich hinziehenden Boulevard und auf der anderen von großen stummen Häusern mit verschlossenen Einfahrtstoren und etlichen Trödelläden umsäumt wurde, mündete ein enger ungedeckter Durchgang, wo der Wind, wenn er nur ein bißchen wehte, wie auf einer Flöte pfiff. Dieses Quergäßchen führte an einer Mauer und einigen Neubauten entlang zur Rue Neuve-des-Mathurins.
Der besagte, übrigens gewählt angezogene junge Mann, der den Hohlweg betrat, wandelte in diesem Augenblick selbstverständlich nicht auf dem Weg der Tugend. Er betrat ihn, weil er einem weiblichen Wesen nachging, das ohne Zaudern und ohne Verlegenheit vor ihm im verdächtigen Dunkel der Gasse verschwunden war.
Er war ein vornehmer junger Lebemann, ein gant jaune, wie man damals solche Leute nannte. Er hatte im Café de Paris umständlich zu Abend gegessen, sich sodann bei Tortoni (jetzt nicht mehr vorhanden) an das Geländer gesetzt und dort lässig die Weiber betrachtet, die den Boulevard hingingen. Eine nun war mehrere Male vorübergekommen, und ungeachtet dieses Umstandes und trotz der auffälligen Kleidung dieser Frau und ihrem gespreizten Gang, der sie hinlänglich kennzeichnete, und obgleich der junge Mann, der sich Robert von Tressignies nannte, schrecklich verlebt war und überdies gerade von einer Reise im Osten heimgekehrt war, wo er das Tierchen Weib in allen Rassen und Abarten reichlich kennengelernt hatte, war er der abendlichen Spaziergängerin doch beim fünften Vorbeigange gefolgt, wie ein Hund einer läufigen Hündin. Er verspottete sich selber mit diesem Vergleich, denn er besaß die Fähigkeit, sich zu beobachten und sein eigenes Tun und Lassen zu beurteilen, ohne daß seine Gedanken, so häufig sie mit seinen Taten nicht übereinstimmten, diese gehemmt hätten. Andererseits trübten seine Handlungen durchaus nicht seine Urteilskraft. Ein gräßlicher Doppelzustand!
Tressignies war über die Dreißig. Seine erste Jugend war in jener Oberflächlichkeit dahingegangen, die den Mann zum verliebten Affen, den Weibern gegenüber wenig wählerisch, machen. Darüber war er hinaus. Allmählich war er ein kühler und vielerfahrener Wüstling geworden, ein stark vergeistigter Genußmensch, der genug Betrachtungen über seine sinnlichen Schwächen angestellt hatte, um nicht mehr der Narr seiner Gelüste zu sein, aber auch weder Angst noch Abscheu vor irgendwelcher Empfindung verspürte. Eben hatte er den leisen Eindruck gehabt, etwas noch nicht Erlebtem nahe zu sein. Neugierig hatte er seinen Platz verlassen, gewillt, schließlich auch nur einem sehr alltäglichen Abenteuer nachzulaufen. In der Tat war das Frauenzimmer, das vor ihm herstolzierte, nichts weiter als eine Dirne der niedrigsten Klasse, aber sie war von so sichtlicher Schönheit, daß man sich wundern mußte, daß sie ihr nicht geholfen hatte, ein paar Sprossen höher zu klettern, daß sie keinen Verehrer gefunden, der sie dem Pfuhl der Straße enthoben hatte. Denn wo der liebe Gott in Paris ein hübsches Weib hinstellt, da setzt der Teufel rasch einen Narren dicht daneben, der es aushält.
Tressignies hatte aber noch einen besonderen Grund, daß er dem Frauenzimmer folgte. Es war nicht bloß die gebieterische Schönheit, die anderen Parisern vielleicht entging, weil sie nichts von wahrhaftiger Schönheit verstehen und ihr demokratisch gewordener Schönheitssinn jedweder Vornehmheit entbehrt. Diese weibliche Gestalt hatte eine Erinnerung in ihm erweckt. Sie war ihm wie jener Spottvogel über den Weg gehüpft, der so tut, als sei er eine Nachtigall, wie Byron wehmütig einmal in seinem Tagebuch sagt. Sie erinnerte ihn an eine andere Frau, die ihm anderswo einmal begegnet war. Es war sicher, ganz sicher, daß nur eine Ähnlichkeit vorlag, aber die eine glich der anderen zum Verwechseln, wenn sie auch nie in die Lage kommen konnten, miteinander verwechselt zu werden. Übrigens reizte ihn diese Ähnlichkeit mehr, als daß sie ihn verwunderte, denn er war ein viel zu erfahrener Beobachter, um nicht zu wissen, daß sich das menschliche Antlitz, dessen Formen sich in den Grenzen fester unbeugsamer mathematischer Gesetze bewegen, in einigen wenigen Grundarten immer wiederholt. Die Schönheit ist einheitlich; die Häßlichkeit vielgestaltig.
Aber selbst deren Mannigfachheit ist beschränkt. Unendlich ist nur der Ausdruck; denn dieser ist eine Offenbarung der Seele, die sich in den regelmäßigen wie unregelmäßigen, in den klaren wie in den wirren Zügen der Menschengesichter spiegelt. An derlei dachte Tressignies flüchtig, als er dieser Frau nachging, die den Schwall des Boulevard durchschnitt wie eine Sense, stolzer noch als die Königin von Saba des Tintoretto, in ihrem goldgelben Atlaskleid, dessen Falten beim Gehen raschelten und herausfordernd aufleuchteten. Umgetan hatte sie einen prächtigen türkischen Schal mit breiten weißen, scharlachroten und goldgelben Streifen; und von ihrem weißen protzigen Hut wehte bis auf die Schulter herab eine große rote Feder, eine »Trauerweide«, wie die damalige Mode sie nannte. An dieser Frau drückte diese Feder indessen alles andere denn Trübsal aus. Tressignies hatte erwartet, daß sie mit all ihrem Kokottenprunk in die hellerleuchtete Chaussee d'Antin einschwenken werde. Zu seinem Erstaunen betrat sie aber die Rue Basse-du-Rempart, den damaligen Schandfleck des Boulevards. Nicht so unerschrocken wie die Voranschreitende, zögerte der elegante junge Mann, aber nur kurz, ihr in seinen Lackstiefeln »dahinein« zu folgen.
Ein paar Augenblicke blieb das grelle Goldkleid im Dunkel des finsteren Loches verschwunden, aber alsbald, an der einzigen Straßenlaterne, der ersten lichten Stelle der Gasse, flackerte es wieder auf. Tressignies beeilte sich, die vor ihm Schreitende einzuholen. Das kostete wenig Mühe, denn sie ging langsamer, in Gewißheit, daß er ihr nachkäme. Als er nun ihr zur Seite war, wandte sie ihm ihr Antlitz zu und sah ihn an, scharf und dreist, wie Frauenzimmer ihrer Art dies zu tun pflegen. Er war tatsächlich wie geblendet von der Formenschönheit dieses Gesichts, das trotz der stark aufgetragenen roten Schminke im kärglichen fahlen Laternenlicht den warmen goldbraunen Ton der Haut darunter recht gut wahrnehmen ließ.
»Sie sind Spanierin?« fragte Tressignies, der in ihr eine hervorragende Vertreterin ihrer Rasse erkannte.
»Si!« gab sie zur Antwort. Spanierin sein, war zu jenen Zeiten (um 1825) etwas Besonderes. Das war gangbare Münze. Die Romane von damals, das Theater der Clara Gazul (von Prosper Mérimée), die Dichtungen Alfreds von Musset, der Tanz von Mariano Camprubi und Dolores Serral hatten die pfirsichfarbenen Frauen mit den Granatwangen in Mode gebracht. Nicht alle, die Spanierin zu sein vorgaben, waren welche. Diese hielt offenbar auf ihr Spaniertum nicht mehr als auf ihren sonstigen Staat. Ohne Übergang fügte sie dem einen spanischen Wort auf französisch hinzu: »Kommst du mit?« Sie duzte also jedermann wie die gemeinste Dirne aus der Rue de Poulies. Der Ton, die bereits heisere Stimme, die verfrühte Vertraulichkeit, dies göttliche Du – der Himmel im Munde einer geliebten Frau, aber üble Unverschämtheit in der Rede eines Weibes, der man nur der Erstbeste ist – hätte genügt, um Tressignies mit Ekel zu erfüllen und von dannen zu treiben, aber der Satan hielt ihn gefangen. Seine Abenteuerlust, im Verein mit grober Sinnlichkeit, beide geweckt beim ersten Anblick dieser Dirne, die ihn mehr reizte als bloß ein prächtiger, in Atlas schillernder Leib, hätten ihn in diesem Augenblick zu wer weiß was Tollem verleitet.
»Beim Teufel, ja!« sagte er. »Natürlich komme ich mit!« Und in Gedanken setzte er hinzu: Wie kann sie noch fragen? Ich werde mich morgen tüchtig abduschen.
Sie kamen an das Ende des Durchganges, wo man zur Rue-des-Mathurins gelangte. In diese gingen sie. Zwischen hohen Haufen von Ziegelsteinen und im Entstehen begriffenen Gebäuden türmte sich ein freistehender einzelner Bau. Offenbar hatte dieses schmale häßliche verfallene und trübselige Haus schon manche Sünde und manches Verbrechen in seinen grauen mürrischen Mauern beherbergt; und wohl war es nur erhalten geblieben, um ihrer noch mehr in sich zu bergen. Kaum hob es sich vom schwarzen Himmel ab. Es war ein blindes Haus, wenn man erleuchtete Fenster als die Augen eines Gebäudes ansieht. Nur eine kleine Laterne an einer langen Stange lauerte weit vorgereckt aus der Finsternis hervor, wie um die Vorübergehenden anzukrallen.
Dieses gräßliche Haus hatte die klassische halboffene Tür der üblen Orte. Drin führte ein kümmerlicher Gang zu einer Treppe, die ganz hinten begann. Man erkannte von weitem die ersten Stufen im kärglichen trüben Licht.
Das Frauenzimmer betrat den engen Gang, den es mit den üppigen Schultern und den bauschigen Falten des Rockes beinahe ausfüllte, und mit leichten, diesen Aufstieg gewöhnten Füßen erklomm es rasch die Schneckentreppe. Der Vergleich in diesem Worte paßte hier um so besser, weil die Stufen klebrig waren wie eine Schnecke. Auffällig war es, daß der abscheuliche Treppengang heller ward, je höher man kam. Das war nicht mehr der matte Schein der stinkenden Ölfunzel im Gang des ersten Geschosses, sondern ein Licht, das immer voller wurde und im zweiten Stock geradezu eine Lichtflut spendete. Zwei kerzentragende Wandleuchter aus Erz waren der prunkende Quell der verschwenderischen Strahlen vor einer Tür von gewöhnlichem Aussehen, an der eine jener Karten befestigt war, wie sie die Dirnen bei sich führen.
Überrascht von dieser Herrlichkeit, die im Widerspruch mit dem ganzen Hause stand, denn die Laternenträger verrieten eine gute Künstlerhand, achtete Tresignies mehr darauf als auf die Karte mit dem Namen der Frau, den er zu wissen nicht nötig hatte, denn er begleitete sie ja. Während er die Dinge betrachtete und das Frauenzimmer die so sonderbar geschmückte und so reichlich beleuchtete Tür aufschloß, fielen ihm die »Überraschungen« der Kleinen Häuser in den Zeiten Ludwigs des Fünfzehnten ein. Diese Person, dachte er bei sich, hat vermutlich etwelche Romane oder Denkwürdigkeiten aus jener Zeit gelesen und darnach den Einfall bekommen, eine hübsche Wohnung voll wollüstiger Romantik an einem Orte einzurichten, wo man dergleichen niemals vermutet. Aber als sich die Tür öffnete, sah er sich zu seiner erneuten Überraschung getäuscht.
Es war tatsächlich nur die gewöhnliche unordentliche Behausung einer Kokotte. Auf allen Möbeln lagen Kleidungsstücke herum, und aus dem Alkoven leuchtete ein Riesenbett, das Manövergelände, mit schamlosen Spiegeln im Hintergrund und oben an der Decke. Man sah, wo man sich befand. Auf dem Kaminsims standen kleine Flaschen, in der Eile des Weggangs zum abendlichen Raubzug unverstöpselt gelassen, und durchdufteten die schwüle Luft des Raumes, in dem der Rest männlicher Standhaftigkeit nach drei Atemzügen verfliegen mußte. Zu beiden Seiten des Kamins brannten Kerzen in Armleuchtern nämlichen Stils wie die draußen vor der Tür. Überall lagen Tierfelle als Teppiche über dem Teppich. Es war für alles gesorgt. Endlich konnte man durch eine offene Tür, durch Vorhänge hindurch, in ein geheimnisvolles Ankleidezimmer blicken, in das Allerheiligste dieser Venuspriesterin.
Alle diese Einzelheiten nahm Tressignies erst später wahr. Zunächst sah er nur die Dirne, zu der er mitgekommen war. Da er wußte, bei wem er sich befand, machte er keine Umstände. Er zog sie ohne weiteres zu sich auf das Sofa und nahm sie zwischen die Knie. Sie hatte Hut und Schal abgelegt und auf einen Sessel geworfen. Beide Hände um ihre Taille gekrallt, betrachtete er sie von oben bis unten, wie ein Trinker, der das Glas gegen das Licht, hält, ehe er es an seine Lippen setzt.
Der Eindruck, den sie ihm auf dem Boulevard gemacht hatte, war keine Täuschung gewesen. Sie war so recht ein Leckerbissen für einen verlebten Lüstling und groben Weiberhengst. Auch die Ähnlichkeit, die ihm sofort im flimmernden Helldunkel des Boulevards aufgefallen war, verflüchtete sich nicht im vollen ruhigen Lampenlicht. Nur besaß »Die andere«, an die sie ihn so stark gemahnte, nicht den Ausdruck des zielbewußten, fast schrecklichen Hochmuts, den der Teufel, der große Spaßmacher und Sozialist, einer Herzogin verweigert und zur Abwechselung einmal einem Weibe der Gasse verliehen hatte. Ohne Hut, mit ihrem schwarzen Haar, dem gelben Kleid, den üppigen Schultern und den noch üppigeren Hüften erinnerte sie an die Judith des Horaz Vernet, nur war ihr Wuchs venusinischer und ihre Gesichtszüge düsterer. Ein schreiender Widerspruch: Sie besaß den Körper, aber nicht den Kopf einer Dirne! Dieser Kurtisanenleib, dessen Rundungen Hände und Mund herausforderten, war mit einem Gesicht verbunden, dessen Hoffart die entflammten Sinne in Eis getaucht und Geilheit zu Respekt gewandelt hätte, wenn den hehren Linienschwung nicht schlüpfriges Kokottenlächeln entheiligte. Auf der Straße war solch schamloser Sirenengruß von ihrem roten Mund genug geflossen, aber jetzt, auf den Knien des Besuchers, war ihr Gesicht ernst und von so seltsamer Feindseligkeit, daß sie nur einen Krummsäbel in die Hand hätte zu nehmen brauchen, um Tressignies in die Rolle des Holophernes zu versetzen.
Er erkannte ihre fürstliche Schönheit. Sie ließ die Prüfung ihrer Reize stumm über sich ergehen, aber auch sie musterte ihn ihrerseits, und zwar betrachtete sie ihn nicht mit der habgierigen einseitigen Neugier ihresgleichen, das den Mann wie ein verdächtiges Geldstück abwägt; sondern offenbar dachte sie an ganz andere Dinge als an Gewinn und Genuß. Sie sah aus, als sei sie im Begriff, ein Verbrechen zu begehen. Ein glückliches Abenteuer, dachte Tressignies bei sich, der sie prüfte wie einen Gaul, ehe man ihn in Besitz nimmt. Wenn ihre Wollust nur so wild wäre wie ihr Gesicht! Er, der vielerfahrene Weiberkenner, der auf dem Marktplatz von Arianopel die schönsten Jungfrauen erhandelt hatte und sich auf den Preis eines Frauenleibes von solcher Form und Farbe verstand, warf für diesen auf zwei Stunden ein halbes Dutzend Goldstücke in eine blaue Kristallschale, die er mit der Hand gerade erreichen konnte und die vermutlich noch nie soviel Gold aufgenommen hatte. »Ich gefalle dir also!« rief sie angesichts des Geldes frech und zu allem bereit, vielleicht auch ungeduldig über die Musterung, die ihr mehr Neugierde als Begehrlichkeit zu verraten schien. Zeitvergeudung gilt Dirnen als Verlust oder Beleidigung. »Laß mich das ablegen!« fügte sie hinzu, als sei ihr das Kleid lästig, und begann die Knöpfe daran aufzuknöpfen. Dabei entwandte sie sich seinen Knien und ging in das Ankleidezimmer nebenan.
»Will sie ihr Kleid schonen?« fragte sich Tressignies. »Verfluchte Alltäglichkeit!« Eben hatte er eine unersättliche Messalina vor sich zu haben geträumt; jetzt sank er in die gemeine Wirklichkeit zurück. Er fühlte sich wieder bei der Dirne, der Pariser Dirne, die sie trotz der Göttlichkeit ihres Körpers war. Hol mich der Teufel! dachte er weiter. Romantik steckt in diesen Menschen nicht. Man muß sich bei ihnen an die Haut halten! Und er nahm sich vor, sich damit zu begnügen. Da kam sie zurück aus dem Nebengemach, gerüstet zum Tournier, in einem Anzug, der keiner ist, eine Gladiatorin der Lust. Tressignies war wie geblendet von einer Pracht, die selbst sein kennerisches Auge, der Bildhauerblick des homme à femmes, auf dem Boulevard unter den verheißungsvollen Umrissen ihrer Kleider und dem Schwung ihrer Glieder beim Gang im voraus nicht erschaut hatte. Sie war nicht ganz nackt, aber ärger denn dies, schamloser, als sei sie einfach nackt gekommen. Empörend schamlos. Bloße Nacktheit ist keusch. Es ist die tapfere Nacktheit. Diese über alle Grenzen schamlose tiefverdorbene Dirne hingegen, die, um die Sinne der Männer heißer zu entflammen, sich am liebsten selber in Brand gesetzt hätte, wäre sie auch dabei wie eine der lebenden Fackeln Neros zugrunde gegangen, verhüllte die kühne Fleischesblöße in die vergängliche Halbnacktheit durchsichtiger dünner Schleier, Diese Mischung von Berechnung und schlechtem Geschmack in ihrer frech herausfordernden Pracht erinnerte Tressignies an eine damals bei allen Kunsthändlern im Schaufenster stehende unbeschreibliche Statuette, die auf dem Sockel den geheimnisvollen Namen »Madame Husson« trug. Hier war jene Gestalt geiler Träume zur Wirklichkeit geworden.
Völlig sicher der Erregung, die sie in diesem Aufzug zu verursachen gewohnt war, stürzte sie unbändig auf ihn los und bot seinem Mund ihren prangenden Busen dar, mit der Gebärde der Phryne, die den Heiligen in Versuchung bringt, auf dem Gemälde des Paolo Veronese. Tressignies war kein Heiliger. Heißhungrig nahm er, was sich ihm bot. Er riß die tierische Verführerin in seine Arme mit einem Feuer, dem ihrem gleich.
Wirft sie sich so in alle Arme, die sie umschließen? fragte sich Tressignies. Mochte sie noch so erfahren in ihrem Dirnenhandwerk oder in ihrer Kurtisanenkunst sein: ihre rasende tobende Glut spottete der Erklärung durch unnatürliche oder krankhafte Sinnlichkeit. Es war mehr als das. Befand sie sich noch im Anfang ihrer Hetärenlaufbahn, daß sie sich mit so viel Wollust hingab?
Es war etwas wirklich Wildes und Gieriges in ihrer Art, als ob sie bei jedweder Zärtlichkeit ihr Leben lassen oder das des Partners in sich saugen wollte. Zu jener Zeit liebten es die Pariser Dirnen, denen der nette Name »Loretten« nicht mehr genügte, den ihnen die Literatur beigelegt und den Gavarni verewigt hat, nach morgenländischer Art »Panther« genannt zu werden. Auf keine ihrer Genossinnen paßte diese Bezeichnung trefflicher als auf diese Spanierin. Sie hatte die Biegsamkeit, die Sprunghaftigkeit einer Pantherkatze; sie wand sich, kratzte und biß wie sie. Tressignies konnte nicht umhin, sich zu gestehen, daß ihm noch nie ein Weib zu eigen gewesen war, das ihm einen so ungeheuerlichen Sinnesgenuß bereitet hatte wie diese Frau, deren Wollustrausch sich ihm in der Berührung mitteilte. Und doch hatte Tressignies wahrhaft geliebt.
Es gibt – ungewiß, ob zum Ruhm oder zur Schande der menschlichen Natur – in dem, was man wohl allzu verächtlich »Liebesfreuden« nennt, ebenso tiefe Abgründe wie in der Leidenschaft. In einen solchen Abgrund fühlte sich Tressignies versinken wie in den Strudel eines wilden Stromes, in dem kein Schwimmen hilft. Er sah sich weit über den Grenzen seiner sündhaften Erinnerungen, ja über den Träumen seiner starken und verdorbenen Phantasie. Er vergaß, wer sie war und warum er hergekommen war, das Haus und die Umgebung, bei deren ersten Anblick ihm übel geworden war. Er hatte seine Seele verloren an ihren Leib. Seine sonst schwer besiegbaren Sinne waren völlig berauscht, betört.
Sie war so verschwenderisch in ihren Zärtlichkeiten, daß er in einen Zustand geriet, wo er, der Liebesleugner, der große Zweifler, dem tollen Gedanken verfiel, in dieser erkauften Frau, die doch unmöglich zu jedem so sein könne, zum mindesten eine verliebte Anwandlung erweckt zu haben, denn sonst mußte sie sich doch binnen kurzem körperlich zugrunde richten. Diesen Wahn hegte Robert von Tressignies, dem wie seinem berühmten Namensvetter Robert Lovelace (dem Helden in der »Klarissa«, dem heute vergessenen Roman von Samuel Richardson) eiskaltes Blut in den Adern rann. Ein paar Minuten lang war dieser Herrenmensch Narr genug, daran zu glauben. Aber dieser eitle Wahn, entzündet an den Flammen der Wollust, die hier so glutvoll waren wie die der wahren Leidenschaft, hatte es sehr bald mit dem Zweifel zu tun, der ihn in der Zwischenzeit von einer Liebesraserei zur anderen überfiel. Aus der Tiefe seines Ichs rief ihm eine Stimme zu: »Du bist es nicht, dem sie sich mit dir hingibt!«
Er hatte sie nämlich beobachtet, in einem Augenblick, wo diese Pantherkatze ihn am glühendsten umwand und am zärtlichsten umkoste, wie sie, in ferne Erinnerung verloren, ein Armband betrachtete, auf dem er das Bildnis eines Mannes erkannte. Ein paar spanische Worte, die Tressignies in seiner Sprachunkenntnis nicht verstand, im Gemisch mit bacchantischen Schreien, galten wohl ebenso einem Abwesenden. Daß er der Stellvertreter eines anderen war, daß er einen anderen vorstellte, daß er das bloße Werkzeug eines Truggenusses war, des Ersatzes von etwas Unerreichbarem, zu dem verzweifelte Seelen ihre Zuflucht nehmen – dieser Gedanke übermannte seinen Geist auf das heftigste und ertötete mit einem Schlage alle seine Verrücktheit.
In einem Anfall von sinnloser Eifersucht und wilder Eitelkeit, in dem der Mann nicht mehr Herr seiner selbst ist, packte er die Daliegende rasch am Arm, um das Armband genauer zu sehen, das sie so innig angeschaut hatte, in einem Augenblick, da er geglaubt, sie müsse ihm ganz und gar angehören.
»Zeig mir das Bild!« sagte er mit einer Stimme, die noch roher war als seine Hand.
Sie wußte, was das besagte, aber ohne Stolz wies sie ihn zurecht.
»Wie kann man auf eine ... eifersüchtig sein wie ich eine bin?« Sie gebrauchte nicht das Wort »Dirne«, sondern ein gröberes. Tressignies war starr. »Du willst es sehen?« fuhr sie fort. »Hier!« Ihr voller, noch vom Schweiß der rasenden Wollust nasser Arm kam ihm nahe.
Es war das Bild eines häßlichen schmächtigen Mannes mit olivenfarbener Hautfarbe und gelblich-schwarzen Augen, einer finsteren, aber nicht unvornehmen Erscheinung, offenbar ein Straßenräuber oder ein Grande Spaniens. Nein, zweifellos ein Grande, denn er trug die Ordenskette des Goldnen Vlieses um den Hals.
»Wo hast du dir das angeeignet?« fragte Tressignies, in sicherer Erwartung, daß sie ihm jetzt einen Roman auftischen werde, die übliche Verführungsgeschichte, die bekannte Historie vom ersten, die sie alle erzählen.
»Angeeignet?« wiederholte sie empört. »Por Dios! Von ihm selbst geschenkt bekommen.«
»Von ihm? Wohl deinem Geliebten?« meinte Tressignies. »Dann hast du ihn betrogen. Er hat dich zum Teufel gejagt, und so bist du abgerutscht bis hierher?«
»Es ist nicht mein Geliebter«, sagte sie kühl, gegen Kränkung und Verdacht unempfindlich wie Stahl.
»Dann war er es!« sagte Tressignies. »Aber du liebst ihn noch immer. Vorhin an deinen Augen habe ich es gesehen...«
Sie lachte höhnisch auf.
»Dann verstehst du also nichts weder von Liebe noch von Haß!« rief sie. »Diesen Mann lieben? Ich verabscheue ihn. Es ist mein Gatte!«
»Dein Gatte?«
»Ja, mein Gatte!« wiederholte sie. »Einer der größten Herren Spaniens. Dreifacher Herzog, vierfacher Marquis, fünffacher Graf, Grande verschiedener Grade, Ritter vom Goldnen Vlies! Und ich bin die Herzogin Arcos von Sierra-Leone.«

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