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Samstag, 2. Februar 2013

IKEA-DREAMING (Fantasysatire) ein Auszug von Alfred Franz Dworak


 

"Ikea-Dreaming" (Fantasysatire)


Sonst ging Haberl (55) immer zu Betten Schmid. Aber heute war es endlich soweit, er hatte sich zu etwas Neuem durchgerungen.
Menschenmassen unterschiedlichen Alters, Couleur und Herkunft zwängten sich durch den schmalen Eingang, wie Brösel durch die Verengung der Staubsaugerdüse in das Rohr, wo für sie eine Reise in das Unbekannte zu beginnen schien. Und mittendrin, F. Haberl, auf Anraten der jungen etwas flippigen Studentin Fräulein Hansen. Die war erst kürzlich in sein Haus mit den überteuerten Einzimmerappartements eingezogen.
Vorbei an der Information wurde er mit einem Katalog bestückt und ab ging die Reise im Menschenpulk die Treppe aufwärts. »Fast wie in der U-Bahn«, dachte er sich, nur die Haltestangen und die vertraute Stimme des Zugführers fehlte, um den Eindruck zu komplementieren.
»Aah, die Kinderabteilung ist immer noch net fertig«, schrie eine jüngere Dame mit Kind entsetzt auf. Ließ dabei das Kind los, das wiederum unserem Haberl zwischen die Beine geriet und er haltlos, kopfüber in die Leere der Kinderabteilung stürzte. Während des Fallens, kurz bevor er aufschlug, erkannte er noch ein Schild, das anscheinend am Boden klebte, Tantra – Birke Nachbildung 17 EUR/qm. Im Lager …
 Haberl erwachte, da zwei zerlumpte Kinder an ihm zerrten. Vermutlich von irgendwelchen Eltern vergessen und jetzt zufällig beim Ausräumen der Kinderabteilung wiederentdeckt. Er stand auf, der Schädel brummte, er wollte zurück in den Pulk, der gerade mal einen halben Meter weiter war als zuvor. »Aah, solange war ich doch nicht weg!«
»Hinten anstellen«, schrie ein unfreundlich dreinblickender Zeitgenosse von beachtlicher Größe und stierigem Nacken.
»Lasst ’n no rein!«, besänftigte ihn eine ältere Dame mit Trachtenkleid und bayerischem Akzent, »der war wirklich auch vorher schon vor mir in der Schlange!«
Wieder eingereiht ging es im Rhythmus von Glenn Millers Chatanooga Choo-Choo Richtung Küchenabteilung. Eine Familie, je zur Hälfte vor und auch hinter ihm postiert, drängte in die Küche Lantula. Jäh wurde Haberl mitgerissen.
Vor einem Bild mit glücklichen Ferkeln kam er zum Stillstand. Oberhalb, ein Gemälde des gleichen Malers, mit ein paar Hühnchen drauf, die zufrieden auf der Stange zu gackern schienen.
»Komisch«, grinste Haberl, »wenn die wüssten.«
Und schon wurden die Ferkel und die Hühnchen in ihren Bildern lebendig, sprangen und flatterten aufgeregt in der Küche umher, bis sich automatisch die Türen des Backrohrs und der Mikrowelle öffneten und die Tiere verschlangen. Beide Geräte klingelten, die Türen sprangen genauso automatisch und von Geisterhand auf, wie zuvor. Aber es tanzten Schweinehaxen und Hähnchenkeulen in Cancanart, kross gebraten heraus, zu der Musik Psycho Chicken von den Fools.
Haberl war entsetzt und erstaunt zugleich. Überlegte kurz und dachte sich, »Na und schon!« und wollte sich eine Keule schnappen. Doch alles verschwand, wie vorher gekommen.
»Blödsinn, träume ich!«, kniff die Augen zusammen, rieb auch daran, und als alles so blieb, reihte er sich wieder ein. Da ihn viele seiner Reisebegleiter bereits kannten, ging alles viel reibungsloser als vorher.
»Wohnzimmer, Couchgarnituren, alles aussteigen« … »Heinz-Werner komm!«
Etwas riss ihn am Arm und zerrte ihn auf eine Couch namens Amal, Fridbo blau.
»Ich bin doch Single!«, rebellierte eine innere Stimme in ihm heftig.
Jetzt erkannte die Frau ihren Fehlgriff und lief Entschuldigungsformeln brummend zurück in den Pulk, fand ihren richtigen Mann und riss den Ahnungslosen einer anderen gleichaltrigen Frau aus dem Arm. Wie ein Dominostein den anderen …
Erschöpft blieb Haberl sitzen. Das Musikstück Ventura Highway von America begann leise einzusetzen.
»Chewing on a piece of grass« …, er zog an der Jalousie »Epsilon« neben sich, erwartete eine Wand oder zumindest ein Fenster zum anderen Wohnzimmer.
Aber es lief ein Film ab und in ihm, F. Haberl, in einem BMW Roadster auf der Route 66 und Fräulein Hansen als Anhalterin am Straßenrand, im superkurzen Mini, lasziv verspielt an einem Grashalm im Mundwinkel kauend (...)

Wie es weitergeht, erfahren Sie in der Kurzgeschichtensammlung „Wochenende ohne Ende“ von Alfred Franz Dworak.

Dienstag, 22. Januar 2013

DER VERLORENE RETTER von Artem Zolotarov

(c) www.BilderKostenlos.org

Der verlorene Retter

"Man muss sich gegenseitig helfen, das ist ein Naturgesetz."
Die untergehende Sonne kämpft gegen das Leuchten und Flackern der Neonbuchstaben auf dem Parkplatz. Nachdem die letzten Autos das Weite gesucht haben, gehen die Lichter aus, und die Nacht setzt zu ihrer Patrouille an. Allein der Wind wirbelt abenteuerlustige Herbstblätter herum, die ihren Müttern vor langer Zeit entrissen, auf die erlösende Härte und Stille der Winterböden warten. Doch der Winter ist nicht jedem ein Freund. Eine vermummte Gestalt stolpert die Straße entlang. Sie trägt einen alten Militärmantel, dem, aus seinem Gefecht gegen den Lauf der Zeit, zahlreiche Löcher und notdürftig geflickte Wunden geblieben sind. Die Flasche in seiner Rechten ist noch halb voll und der fehlende Rest wärmt seine Innereien, so dass er die Kälte kaum spürt. Hinter der Mülltonne breitet er sein Nachtlager aus – ein Pappestück und einen Sack. In seinen Augen ebbt der Schmerz und die Flut der Erinnerungen übermannt ihn.

Wie wars heute in der Praxis, Papa?“
Wie immer, Schatz. Frau Müller war diese Woche zum vierten Mal bei mir. Sie hat sich den Zeigefinger an einer Raviolidose geschnitten und bekam Panik. Aber ich konnte sie überzeugen, dass eine Amputation nicht nötig sei und die Wunde mit einem Wundpflaster versorgt.“
Oje, die Frau nervt dich doch bestimmt ohne Ende?“
Manchmal schon. Aber sie kann nichts dafür. Nachdem ihr Mann gestorben ist, hat sie nicht mehr viel zu tun. Da ist jeder menschliche Kontakt wie ein Kur für die Seele.“
Die kleine Familie war gerade auf dem Weg nach Hause. Sie hatten in ihrem Lieblingsrestaurant zu Abend gegessen und freuten sich auf den Dvd-Abend, den der Vater ihnen versprochen hatte. Als Arzt war er nur selten für solche Freizeitaktivitäten zu haben, aber dieses Mal wurde er mit sanfter Gewalt von seiner Frau gezwungen und freute sich sogar, dass ihn endlich jemand aus seinem Praxis-Alltag befreien konnte.
Auf der Landstraße war es ruhig. Der Mercedes glitt durch die Dunkelheit und das weiß-blaue Neonlicht der Frontleuchten schnitt zwei Kegel in das vom Regen geschwärzte Asphaltfleisch. Vater Uwe hielt das Lenkrad sicher und konzentrierte sich auf die Straße. Der Regen setze wieder ein und kleine Tropfen benetzten die Scheibe des Wagens. Die Sicht wurde immer schlechter. Nach wenigen Minuten kamen die Scheibenwischer den Wassermassen kaum mehr nach und Uwe schaltete die sie auf die höchste Stufe. Eine letzte Kreuzung war noch zu überqueren, bis die heimische Garage als sicherer Hort vor dem Regenschauer bereitstand. Die Ampel winkte einladend gelb, da zu dieser späten Stunde kein großes Verkehrsaufkommen die Kreuzung mehr belastete. Uwe hielt an der Kreuzung, schaute zu beiden Seiten und setze den Wagen wieder in Bewegung, dabei vergaß er den richtigen Gang einzulegen, so dass das Getriebe, nach einem kurzen Aufschrei, seine Arbeit versagte und das Brummen des Motors verstummte. Nur noch das monotone Regenrauschen war zu hören war.
Ach Uwe, immer wieder dasselbe mit dir“, sagte die Mutter. „Gib dich nicht auf, lern Hupen und Schalten“, ergänzte sie scherzhaft.
Ist gut Schatz, wir haben alle herzhaft gelacht.“
Keiner der Wageninsassen bemerkte, wie sich ein zu schnell fahrender Transporter ihnen näherte. Dessen Fahrer wiederum tippte gerade eine kleine Liebesnachricht für seine Frau ins Handy.
Der Transporter prallte mit voller Wucht in den Familienwagen.

Als er die Augen aufmachte, fand er sich in einem Krankenhauszimmer wieder. Eine Infusion beschwerte seinen Arm und um seinen Kopf ertastete er einen Verband. In seinem Kopf war es leer, nur der Regen prasselte immer noch und wusch alles fort. Ein Flimmern machte sich bemerkbar und ihm wurde klar, dass er unter Medikamenteneinfluss stand. Wie oft hat er selbst Patienten betäubt, um sie von ihrem Schmerzen zu erlösen und nun war er selbst der Patient. Die Zimmertür ging auf und eine Schwester kam herein. Ihr folgte der Arzt.
Herr Bonn, es freut mich, dass Sie wieder bei uns sind. Wie geht es Ihrem Kopf?“
Was ist passiert? Wo ist meine Familie?! Wo sind meine Kinder!?!“
Herr Bonn, Sie brauchen jetzt Ruhe, viel Ruhe und Erholung. Das ist das Wichtigste.“
Sagen Sie mir, wo meine Kinder sind!“
Der Arzt schaute verlegen zu Boden, dann kam er näher ans Bett, legte seine Hand auf Uwes Schulter.
Es tut mir Leid. Es gab einen schrecklichen Autounfall in den Sie uns Ihre Familie verwickelt wurden und... Sie... ähm.“
Er stockte und suchte nach dem richtigen Worten. Seine Augen ließen Mitgefühl erahnen, spiegelten aber nur die routinierte Schauspielkunst eines Profis. Er senkte den Blick wieder zu Boden, zählte innerlich bis drei und sagte: „Es tut mir Leid. Keiner außer Ihnen hat den Unfall überlebt. Dass Sie noch am Leben sind, ist auch ein Wunder.“
Das Flimmern wurde wieder stärker, dazu kam ein Piepen und Pfeifen. In Uwes Kopf blähte sich etwas auf und platzte, was ihn bewusstlos werden ließ.

Nach drei kräftigen Schlücken ist die Flasche leer, wobei gut die Hälfte des Gesöffs auf seinem Mantel landet. Uwe greift in die Tasche und sucht nach Geld, sucht nach dem, was er vor kurzem noch in Überfluss hatte und was ihm jetzt fehlt, um den damaligen Überfluss wieder kurz aufleben zu lassen. Die schmutzige Hand holt ein paar Cent heraus, und ihm wird klar, dass es für keine Flasche mehr reichen wird. Benebelt und durchnässt rollt er sich auf die Seite, um die gewohnt albtraumvolle Nachtruhe zu empfangen.
Ein plötzliches Krachen zieht ihn aus dem Schlaf. Benebelt macht er die verquollenen Augen auf. Beim Blick nach vorne erkennt er, was den Lärm verursacht hat. In zehn Metern Entfernung, direkt neben dem Parkplatz, stehen zwei Autowracks. Rauch qualmt aus den Motorhauben, die Scheiben sind zerbrochen und eines der Fahrzeuge liegt mit den Rädern nach oben.
Plötzlich durchfährt ein Ruck seinen Körper. Er springt auf und setzt sich in Bewegung. Sein Kopf ist plötzlich klar, seine Augen wach; er ist bereit, Gelerntes umzusetzen, Leben zu retten, einfach zu helfen. Am Unfallort angekommen, findet er zwei bewusstlose Fahrer. Blutüberströmt liegen beide in den Autowracks. Hektisch zieht er beide hinaus und versorgt sie notdürftig – stabile Seitenlage, Beatmung, Blutung stoppen. Doch eines der Opfer blutet weiter, der Blutstrom will nicht aufhören, egal was er macht, es scheint aussichtslos. Mit einem Druckverband presst er die Wunde zu. Minuten vergehen, die ihm wie Stunden vorkommen bis er Krankenwagensirenen näher kommen hört. Sanitäter springen aus den Wagen und rennen zu den Verletzten. Alles ist wie früher, denkt er sich, es ist alles wieder wie früher.

Am nächsten Tag überschlagen sich die Zeitungen mit Sensationsschlagzeilen: „Schwerer Autounfall, beide Fahrer überleben wie durch ein Wunder.“
Prost, auf euch, Jungs“, sagt er zu sich selbst, als er die neue Kornflasche zum Mund führt. Es ist wieder Abend und die Kälte frisst sich heute stärker in sein Fleisch. Sie haben ihn mit keinem Wort erwähnt. Traurig blickt er zu Boden und zählt bis drei. Die zusammengeknüllte Zeitung dient heute als Kissen. Wenigstens etwas...

Sonntag, 6. Januar 2013

Buchvorstellung: SCHNEEDORF von Siegbert Münch


Siegbert Münch
Schneedorf
Kurzgeschichten

Wir wurden immer dünner, die Kinder und ich. Es war ja auch nichts mehr Essbares da. Manchmal habe ich Suppe von Heuresten gekocht, damit die Kinder etwas im Bauch hatten. Sie wisse nicht mehr genau wann, jedenfalls vor Weihnachten habe es gekratzt am Fensterladen. Danach habe sich ihr Mann ein paarmal mit seinem Spezi, dem Kaucher, getroffen. Von da an hat der Bernhard abends das Haus verlassen. Im Holzschuppen nach dem Rechten sehen, hat er behauptet und seine Spur zeigte auch nur über den Hof. Er hat von diesem Tag an nicht mehr über Hunger geklagt, obwohl er kaum mehr etwas aß. Nur Schneewasser hat er getrunken, viel. Warum sie nicht gleich die Polizei verständigt habe, als sie ihren Mann gefunden hatte
Ich war so böse, wie er dalag, nackt, mit feistem Bauch, die Hände auf den Rücken gefesselt, erstickt an einer Speckseite im Rachen. Während die Kinder und ich beinahe verhungert wären, hat er sich jeden Abend den Wanst vollgehauen. Hinter idyllischen Türen und Fenstern hockt das Grauen, getarnt als Harmonie, als Liebe, als Familienfreude - doch wer die Fassade zu durchdringen vermag, dem stockt vor Furcht der Atem. Bitterböse Kurzgeschichten aus dem Kaiserslauterner Raum ...

Freitag, 21. Dezember 2012

"Schlittenfahren im Winter an der Obermosel" von Karin Michaeli


Ein bisschen Gruseln gefällig ?



Das kleine Dorf an der Mosel, von dem hier die Rede ist, liegt am Hang. Oben auf dem Berg steht eine alte Kapelle. Die war vor tausend Jahren besiedelt von Mönchen. Sie lebten dort vom Weinanbau und von Viehzucht. Wie man erzählt, verstanden sie es gar gut, einen kräftigen Schluck aus der Flasche zu nehmen an hohen Fest- und Feiertagen. Manchmal trieben sie es so arg, das sie im Innenhof des Klosters zu heiteren Gesängen im Kreis tanzten und man erzählt sich, das diese Feste oft bis in die frühen Morgenstunden dauerten. Im Dorf unterhalb der Kapelle hallte das Echo der Gesänge nach und die Menschen schauten angstvoll nach oben, bekreuzigten sich und bekamen es mit der Angst zu tun. Niemand aus dem Dorf war je zugegen bei diesen Feiern und niemand wußte, was dort wirklich geschah. Manch einer versuchte schon mal heimlich des nachts über die Mauern zu schauen – aber die waren so hoch, das man beim beim besten Willen nichts sehen konnte. Aber es erschall schon mal eine Stimme: „Fort mit Euch, Ihr Lumpengesindel, haut ab !“

Man spekulierte, das vielleicht aus dem nahegelegenen Kloster des Nachbardorfes die Nonnen dort mit feierten – hörte man doch hin und wieder ein weibliches lautes Lachen in der Nacht erklingen.

Es war ein sagenumwobenes altes Kloster und die Geschichten um die Mönche verdichteten sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr. In meiner Kindheit in den sechziger Jahren waren die Geschichten schon so weit gediehen, das man den Mönchen unterstellte, sie würden nachts mit den Totenschädeln des nahegelegenen Friedhofes Fußball spielen.

Wir Kinder liebten es, abends mit den Erwachsenen auf den hohen Berg zu gehen mit Schlitten und Bobs. Ein Bob war damals keine Hartschale, mit der man Eiswände herab fegt. Ein Bob war ein langer selbst gebastelter Schlitten aus Holz, auf dem bis zu 15 Leute hintereinander sitzen konnten.

Die „guten“ Bobfahrer hatten Mitleid mit uns neidischen Kindern mit den kleinen Schlitten und holten uns auf dem Bob mit – eng eingequetscht zwischen den Erwachsenen. Die kleinen Schlitten wurden einfach hinten an den Bob dran geknüpft und darauf setzten sich dann die Erwachsenen, die uns den Platz auf dem Bob überlassen hatten.

Die Fahrt nach unten ging von der alten Kapelle bergab bis hin zum Ufer der Mosel, wobei der gute Bobfahrer früh genug abzubremsen verstand, damit wir nicht alle im Wasser landeten. Es waren immerhin an die sieben Kilometer Fahrt – da kommt ordentlich Speed auf das Gefährt. Johlend und schreiend ging die rasante Fahrt nach unten. Vor Autos brauchten wir uns nicht zu fürchten. Die fuhren zu dieser Zeit am Abend noch nicht diesen Weg, der heute eine Bundesstrasse ist und nicht mehr mit dem Schlitten befahren werden kann.

Eines Abends entfernte ich mich mit dem Nachbarjungen Benjamin heimlich von der Schlitten fahrenden Schar in Richtung Friedhof vor der Kapelle. Wir hatten den Plan, um Mitternacht zu schauen, ob dort tatsächlich die Mönche immer noch Fußball mit den Totenschädeln spielen, so wie es die Sage erzählte. Es war eine Mutprobe zwischen mir und Benjamin. „Wetten, das Du Dich nicht traust, um Mitternacht dorthin zu gehen“ sagte Benjamin zu mir. „Doch, wenn Du mitkommst, mache ich das“, lautete meine mutige Antwort. Sie war sehr mutig, weil Benjamin war klein und hätte mich niemals beschützen können – dachte ich. Benjamin liebte mich. Das war mir schon seit dem 2. Schuljahr klar – aber er interessierte mich nicht, weil er so klein und schwächlich war.

Außerdem lief ihm immer die Nase und das sah unappetitlich aus.

Wir waren also so gegen elf Uhr am späten Abend alleine auf dem kalten Friedhof und vor Mitternacht würde die bob fahrende muntere Schar nicht wieder oben sein. Wir konnten also in aller Ruhe abwarten, was geschieht. Totenstille herrschte auf dem schneebedeckten Friedhof. Der Schnee lag unschuldig und unberührt auf den Gräbern und den Friedhofswegen und es war noch nicht mal der Abdruck einer Krähe darauf zu sehen. Die Turmuhr schlug halb zwölf und in der Kapelle ging langsam ein diffuses Licht an. In dem Moment sank unser Mut bis in die Hose und wir klammerten uns aneinander. Benjamin meinte, er müsse mal eben hinter einem Baum verschwinden, um Wasser abzulassen. Er kam und kam nicht wieder. Ich wurde nervös, schlich zu dem Baum – aber Benjamin war nicht zu sehen. In den Bäumen raschelte es und ein Rabe flog erschrocken vom Geäst. Ich schaute nach oben in eine Fratze, die das Aussehen eines Totenschädels hatte. Nach einem Wischen über die Augen war die Fratze wieder weg und ich nahm allen Mut zusammen und rief laut „Benjamin, wo bist du ?!“ Nichts rührte sich. Angst fing an, sich meiner zu bemächtigen. Es war kurz vor Mitternacht und das Licht in der Kapelle wurde heller und heller. Kleines Glockengeläut drang nach außen und ich zitterte vor Angst wie Espenlaub. Starr vor Angst stand ich an den Baum gepresst mit weit geöffneten Augen. Vielleicht hatte nun meine letzte Stunde geschlagen, dachte ich mir und ich war bereit, alles was jetzt kommt, zu ertragen. Die Angstlähmung in mir ließ auch keine andere Wahl.

Die Turmuhr schlug 12 Uhr Mitternacht. Jetzt, jetzt musste es losgehen. Ich wartete auf die Mönche, die nun vielleicht auch mit meinem kleinen Kinderkörper Fußball spielen würden und mit schreckgeweiteten Augen sah ich, wie die Tür der Kapelle sich öffnete. Und in der erleuchteten Kapelle stand nun die gesamte Bob- und Schlittenfahrgemeinschaft in der Tür und sang „Happy Birthday to you“. Und Benjamin löste sich aus der Menge, trat auf mich zu und reichte mir einen Weihnachtsmann aus Schokolade. „Darf ich Dir als erster zum Geburtstag gratulieren?“, fragte er schelmisch lächelnd und drückte mir einen nasentriefenden feuchten Kuss auf die Wange. Meine Reaktion folgte in Sekundenschnelle – die Erlösung, das hier kein Massaker stattfinden würde, machte einer hellen Wut Platz und ich scheuerte ihm eine auf die Wange, das diese rot anlief. „Du Sauhund!“ schrie ich, „du Sauhund...“. Alle lachten, fingen an zu singen und brachten mir ihre Geschenke dar. „Du wolltest es immer wissen“, sagten sie, „Du hattest immer die größte Klappe, wenn es drum ging, herauszufinden, wo was los ist ! Und jetzt hast Du hier mal Dein Abenteuer! Na, gefällt es Dir?“

Nein, es gefiel mir nicht. Ich wollte nur zu Hause bei Mama und Papa sein und nie wieder heimlich abends mit den Erwachsenen Bob fahren. Denn die Bobfahrten hatte ich mir redlich erschlichen, indem ich zu Hause Lügen erzählte, ich würde die Oma Lissi betreuen, die sich am Abend so fürchtete. Aber Mama und Papa wussten wohl Bescheid und traten als letzte aus der Kapelle mit einem lachenden und einem weinenden Auge. „Lügen haben kurze Beine“, lachten sie mir zu, nahmen mich in die Arme und küssten mir die Tränen weg


Mit Benjamin bin ich seit 30 Jahren verheiratet. Nach dieser Geschichte sah ich niemand anderen mehr an. - Aber wenn er im Januar Geburtstag hat, wird er eine Überraschung erleben. Meine Koffer sind gepackt. Das Ticket für Kuba ist organisiert. Ich kann fließend spanisch sprechen. Das habe ich in dreißig Jahren heimlich gelernt und in Kuba werde ich mit Benjamins Lebensversicherung ein neues Leben anfangen.

Die Überraschung wird perfekt sein. So wie damals vor 40 Jahren werde ich ihn zur Kapelle bitten um Mitternacht und ihm sagen, dass ich mal Wasser lassen muss hinter einem Baum. Er wird um Mitternacht die Tür zur Kapelle öffnen, weil er meine Stimme von innen rufen hört „Benjamin, komm doch rein – Deine Liebste wartet auf Dich!“ -

Nach meinem heimlichen Elektrikerkursus in Frankreich bin ich in der Lage, eine Türklinke unter Starkstrom zu setzen und alle Relikte, die auf einen Kurzschluss hinweisen, zu entfernen. Er hatte immer schon ein schwaches Herz, der kleine kränkliche Benjamin mit dem feuchten Schnodder unter der Nase ...

Mein Alibi ist perfekt. Ich beherrsche den Computer nach einem PC-Kursus in Luxemburg meisterhaft und während er vor der Kapelle den Weg ins Jenseits antritt, schreibe ich eine Geschichte zu Hause. Eine Geschichte darüber, wie man kleine Kinder erschreckt ...

Oh, übrigens:

Die Geschichte ging gut aus für mich. Ich sitze in Varadero am Strand mit einem Coctail und klappere auf meinem Laptop in meinen Erinnerungen und dabei fiel mir diese wichtige Geschichte ein.

(c) Karin Michaeli

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Buchvorstellung: EIN LÄCHELN FÜR DIE LIEBE von Ute AnneMarie Schuster


Ute AnneMarie Schuster
Ein Lächeln für die Liebe
228 S., Hardcover mit Leseband, 18,90 EUR
als eBook 9,95 EUR
Ein Lächeln für die Liebe - Autorin Ute AnneMarie Schuster
Ein Lächeln für die Liebe ist ein extravagantes Werk für den Liebhaber zartsinnlicher Lyrik und kunstvoll arrangierten Fotografien. Sozusagen eine Sinfonie aus Wort und Bild. 72 Gedichte, 26 Reime und 3 Kurzgeschichten – Insgesamt 101 Buchstabenlächeln für die Liebe von Ute Anne-Marie Schuster umfasst dieser außergewöhnliche Band, untermalt mit 23 Aufnahmen vom art-photograph Andreas Bübl. Ein Meisterwerk für den Liebhaber der romantischen Kunst, das auch Ihrer Liebe ein Lächeln schenkt