"Man muss sich
gegenseitig helfen, das ist ein Naturgesetz."
Die untergehende Sonne kämpft gegen
das Leuchten und Flackern der Neonbuchstaben auf dem Parkplatz.
Nachdem die letzten Autos das Weite gesucht haben, gehen die Lichter
aus, und die Nacht setzt zu ihrer Patrouille an. Allein der Wind
wirbelt abenteuerlustige Herbstblätter herum, die ihren Müttern vor
langer Zeit entrissen, auf die erlösende Härte und Stille der
Winterböden warten. Doch der Winter ist nicht jedem ein Freund. Eine
vermummte Gestalt stolpert die Straße entlang. Sie trägt einen
alten Militärmantel, dem, aus seinem Gefecht gegen den Lauf der
Zeit, zahlreiche Löcher und notdürftig geflickte Wunden geblieben
sind. Die Flasche in seiner Rechten ist noch halb voll und der
fehlende Rest wärmt seine Innereien, so dass er die Kälte kaum
spürt. Hinter der Mülltonne breitet er sein Nachtlager aus – ein
Pappestück und einen Sack. In seinen Augen ebbt der Schmerz und die
Flut der Erinnerungen übermannt ihn.
„Wie wars heute in der Praxis,
Papa?“
„Wie immer, Schatz. Frau Müller
war diese Woche zum vierten Mal bei mir. Sie hat sich den Zeigefinger
an einer Raviolidose geschnitten und bekam Panik. Aber ich konnte sie
überzeugen, dass eine Amputation nicht nötig sei und die Wunde mit
einem Wundpflaster versorgt.“
„Oje, die Frau nervt dich doch
bestimmt ohne Ende?“
„Manchmal schon. Aber sie kann
nichts dafür. Nachdem ihr Mann gestorben ist, hat sie nicht mehr
viel zu tun. Da ist jeder menschliche Kontakt wie ein Kur für die
Seele.“
Die kleine Familie war gerade auf
dem Weg nach Hause. Sie hatten in ihrem Lieblingsrestaurant zu Abend
gegessen und freuten sich auf den Dvd-Abend, den der Vater ihnen
versprochen hatte. Als Arzt war er nur selten für solche
Freizeitaktivitäten zu haben, aber dieses Mal wurde er mit sanfter
Gewalt von seiner Frau gezwungen und freute sich sogar, dass ihn
endlich jemand aus seinem Praxis-Alltag befreien konnte.
Auf der Landstraße war es ruhig.
Der Mercedes glitt durch die Dunkelheit und das weiß-blaue Neonlicht
der Frontleuchten schnitt zwei Kegel in das vom Regen geschwärzte
Asphaltfleisch. Vater Uwe hielt das Lenkrad sicher und konzentrierte
sich auf die Straße. Der Regen setze wieder ein und kleine Tropfen
benetzten die Scheibe des Wagens. Die Sicht wurde immer schlechter.
Nach wenigen Minuten kamen die Scheibenwischer den Wassermassen kaum
mehr nach und Uwe schaltete die sie auf die höchste Stufe. Eine
letzte Kreuzung war noch zu überqueren, bis die heimische Garage als
sicherer Hort vor dem Regenschauer bereitstand. Die Ampel winkte
einladend gelb, da zu dieser späten Stunde kein großes
Verkehrsaufkommen die Kreuzung mehr belastete. Uwe hielt an der
Kreuzung, schaute zu beiden Seiten und setze den Wagen wieder in
Bewegung, dabei vergaß er den richtigen Gang einzulegen, so dass das
Getriebe, nach einem kurzen Aufschrei, seine Arbeit versagte und das
Brummen des Motors verstummte. Nur noch das monotone Regenrauschen
war zu hören war.
„Ach Uwe, immer wieder dasselbe
mit dir“, sagte die Mutter. „Gib dich nicht auf, lern Hupen und
Schalten“, ergänzte sie scherzhaft.
„Ist gut Schatz, wir haben alle
herzhaft gelacht.“
Keiner der Wageninsassen bemerkte,
wie sich ein zu schnell fahrender Transporter ihnen näherte. Dessen
Fahrer wiederum tippte gerade eine kleine Liebesnachricht für seine
Frau ins Handy.
Der Transporter prallte mit voller
Wucht in den Familienwagen.
Als er die Augen aufmachte, fand er
sich in einem Krankenhauszimmer wieder. Eine Infusion beschwerte
seinen Arm und um seinen Kopf ertastete er einen Verband. In seinem
Kopf war es leer, nur der Regen prasselte immer noch und wusch alles
fort. Ein Flimmern machte sich bemerkbar und ihm wurde klar, dass er
unter Medikamenteneinfluss stand. Wie oft hat er selbst Patienten
betäubt, um sie von ihrem Schmerzen zu erlösen und nun war er
selbst der Patient. Die Zimmertür ging auf und eine Schwester kam
herein. Ihr folgte der Arzt.
„Herr Bonn, es freut mich, dass
Sie wieder bei uns sind. Wie geht es Ihrem Kopf?“
„Was ist passiert? Wo ist meine
Familie?! Wo sind meine Kinder!?!“
„Herr Bonn, Sie brauchen jetzt
Ruhe, viel Ruhe und Erholung. Das ist das Wichtigste.“
„Sagen Sie mir, wo meine Kinder
sind!“
Der Arzt schaute verlegen zu Boden,
dann kam er näher ans Bett, legte seine Hand auf Uwes Schulter.
„Es tut mir Leid. Es gab einen
schrecklichen Autounfall in den Sie uns Ihre Familie verwickelt
wurden und... Sie... ähm.“
Er stockte und suchte nach dem
richtigen Worten. Seine Augen ließen Mitgefühl erahnen, spiegelten
aber nur die routinierte Schauspielkunst eines Profis. Er senkte den
Blick wieder zu Boden, zählte innerlich bis drei und sagte: „Es
tut mir Leid. Keiner außer Ihnen hat den Unfall überlebt. Dass Sie
noch am Leben sind, ist auch ein Wunder.“
Das Flimmern wurde wieder stärker,
dazu kam ein Piepen und Pfeifen. In Uwes Kopf blähte sich etwas auf
und platzte, was ihn bewusstlos werden ließ.
Nach drei kräftigen
Schlücken ist die Flasche leer, wobei gut die Hälfte des Gesöffs
auf seinem Mantel landet. Uwe greift in die Tasche und sucht nach
Geld, sucht nach dem, was er vor kurzem noch in Überfluss hatte und
was ihm jetzt fehlt, um den damaligen Überfluss wieder kurz aufleben
zu lassen. Die schmutzige Hand holt ein paar Cent heraus, und ihm
wird klar, dass es für keine Flasche mehr reichen wird. Benebelt und
durchnässt rollt er sich auf die Seite, um die gewohnt albtraumvolle
Nachtruhe zu empfangen.
Ein plötzliches
Krachen zieht ihn aus dem Schlaf. Benebelt macht er die verquollenen
Augen auf. Beim Blick nach vorne erkennt er, was den Lärm verursacht
hat. In zehn Metern Entfernung, direkt neben dem Parkplatz, stehen
zwei Autowracks. Rauch qualmt aus den Motorhauben, die Scheiben sind
zerbrochen und eines der Fahrzeuge liegt mit den Rädern nach oben.
Plötzlich
durchfährt ein Ruck seinen Körper. Er springt auf und setzt sich in
Bewegung. Sein Kopf ist plötzlich klar, seine Augen wach; er ist
bereit, Gelerntes umzusetzen, Leben zu retten, einfach zu helfen. Am
Unfallort angekommen, findet er zwei bewusstlose Fahrer.
Blutüberströmt liegen beide in den Autowracks. Hektisch zieht er
beide hinaus und versorgt sie notdürftig – stabile Seitenlage,
Beatmung, Blutung stoppen. Doch eines der Opfer blutet weiter, der
Blutstrom will nicht aufhören, egal was er macht, es scheint
aussichtslos. Mit einem Druckverband presst er die Wunde zu. Minuten
vergehen, die ihm wie Stunden vorkommen bis er Krankenwagensirenen
näher kommen hört. Sanitäter springen aus den Wagen und rennen zu
den Verletzten. Alles ist wie früher, denkt er sich, es ist alles
wieder wie früher.
Am nächsten Tag
überschlagen sich die Zeitungen mit Sensationsschlagzeilen:
„Schwerer Autounfall, beide Fahrer überleben wie durch ein
Wunder.“
„Prost,
auf euch, Jungs“, sagt er zu sich selbst, als er die neue
Kornflasche zum Mund führt. Es ist wieder Abend und die Kälte
frisst sich heute stärker in sein Fleisch. Sie haben ihn mit keinem
Wort erwähnt. Traurig blickt er zu Boden und zählt bis drei. Die
zusammengeknüllte Zeitung dient heute als Kissen. Wenigstens
etwas...