Das Fenster mit den roten Vorhängen (1874)
Es ist schrecklich lange her, als ich mich eines Tages zur Jagd auf Wasserwild nach den Sümpfen des Westens aufmachte. In der Gegend, nach der ich wollte, gab es damals noch keine Eisenbahn. Ich setzte mich also in die Post, die am Wegkreuz bei dem Schloß Rueil vorbeifuhr.
Ein einziger Reisender saß im Abteil erster Klasse, und zwar ein in jeder Hinsicht ganz besonderer Mensch. Ich kannte ihn, wie man sich so kennt. Er war mir in der Gesellschaft öfters begegnet. Sagen wir, er hieß Graf von Brassard.
Es war nachmittags gegen fünf Uhr. Die Sonne warf nur noch matte Strahlen auf den Staub der Landstraße, hinter deren Pappelreihen sich die weiten Wiesen dehnten. Unsere vier starkkruppigen Gäule trabten flott vorwärts, vom Peitschenknall des Postillions getrieben.
Brassard, der, nebenbei bemerkt, in England erzogen war, stand damals längst auf der Höhe des Lebens, aber er gehörte zu jener Sorte von Menschen, die, schon dem Tode verfallen, sich dies nicht anmerken lassen und bis zum letzten Augenblick behaupten, sie dächten nicht an das Sterben. Im gewöhnlichen Leben und auch in der Literatur spottet man über Leute, die jung zu sein vermeinen, obgleich sie über die glückliche Zeit der Torheiten beträchtlich hinaus sind. Der Spott ist am Platze, wenn solches Jung-bleiben-Wollen in lächerlicher Form zutage tritt. Zuweilen jedoch wirkt dieses Nichtlassen von der Jugend geradezu großartig. Stolze Naturen lassen sich nicht werfen. Im Grunde freilich ist auch das sinnlos, denn es ist vergebliches Bemühen. Aber es ist schön, wie so vieles Sinnlose. Wer so dem Alter trotzt, in dem lebt der nämliche Heldengeist wie in der Alten Garde bei Waterloo, die eher starb, als daß sie sich ergab. Und für ein Soldatenherz ist das Nie-und-nimmer-sich-Ergeben doch die Losung in allen Dingen des Lebens.
Der sich nie ergebende Brassard – er lebt übrigens noch; wie er lebt, das geht aus dem Folgenden hervor – war damals, als ich zu ihm in die Postkutsche stieg, im Lästermunde der Welt ein sogenannter »alter Schwerenöter«. Wem hingegen Zahlen und Urkunden über das Alter eines Menschen nicht viel bedeuten, weil jedermann just so alt ist, wie er aussieht, dem war und blieb der Graf einfach »ein Schwerenöter«, oder besser ausgedrückt – denn diese Bezeichnung klingt zu kleinbürgerlich – ein Prachtmensch. Entschieden war er das zum Beispiel in den Augen der Marquise von V***, einer Kennerin in punkto Mannestugend, einer echten Dalila, die so manchen Simson unter ihrer Schere gehabt hatte. Alte Schwerenöter sind zumeist lüsterne, magere, dürftige, gezierte Erscheinungen. So darf man sich aber den Grafen von Brassard ja nicht vorstellen. Da bekäme man ein grundfalsches Bild. Leib, Geist, Haltung, Bewegung, alles an ihm war stattlich, verschwenderisch, vornehm, herrenhaft-gelassen. Mit einem Wort, er war ein echter Dandy wie Georg Brummell in seiner besten Zeit. Wäre er weniger ein Dandy gewesen, so hätte er es zweifellos bis zum Marschall von Frankreich gebracht. Er war einer der glänzendsten Offiziere des ersten Kaiserreichs. Regimentskameraden von ihm haben mir des öfteren seine Tapferkeit gerühmt. Sie sei so groß gewesen, wie die von Murat und Marmont zusammengenommen. Dazu hatte er viel Witz und viel Kaltblütigkeit. Somit hätte er als Soldat rasch sehr hoch kommen können, wenn er nicht eben so sehr Dandy gewesen wäre. Einem Offizier müssen Gehorsam, Pünktlichkeit und allerlei andere Diensttugenden in Fleisch und Blut übergegangen sein. Das ist aber mit dem Dandytum unvereinbar. Man kann nicht Berufssoldat und zugleich Dandy sein. Offiziere wie Brassard sind in einem fort nahe daran, um die Ecke zu gehen. Und Brassard wäre während seiner Soldatenzeit zwanzigmal um die Ecke gegangen, wenn er nicht wie alle Lebenskünstler Glück gehabt hätte. Mazarin hätte ihn brauchen können; seine Nichten auch, freilich aus anderen Gründen. Brassard war wirklich ein Prachtmensch.
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Es ist schrecklich lange her, als ich mich eines Tages zur Jagd auf Wasserwild nach den Sümpfen des Westens aufmachte. In der Gegend, nach der ich wollte, gab es damals noch keine Eisenbahn. Ich setzte mich also in die Post, die am Wegkreuz bei dem Schloß Rueil vorbeifuhr.
Ein einziger Reisender saß im Abteil erster Klasse, und zwar ein in jeder Hinsicht ganz besonderer Mensch. Ich kannte ihn, wie man sich so kennt. Er war mir in der Gesellschaft öfters begegnet. Sagen wir, er hieß Graf von Brassard.
Es war nachmittags gegen fünf Uhr. Die Sonne warf nur noch matte Strahlen auf den Staub der Landstraße, hinter deren Pappelreihen sich die weiten Wiesen dehnten. Unsere vier starkkruppigen Gäule trabten flott vorwärts, vom Peitschenknall des Postillions getrieben.
Brassard, der, nebenbei bemerkt, in England erzogen war, stand damals längst auf der Höhe des Lebens, aber er gehörte zu jener Sorte von Menschen, die, schon dem Tode verfallen, sich dies nicht anmerken lassen und bis zum letzten Augenblick behaupten, sie dächten nicht an das Sterben. Im gewöhnlichen Leben und auch in der Literatur spottet man über Leute, die jung zu sein vermeinen, obgleich sie über die glückliche Zeit der Torheiten beträchtlich hinaus sind. Der Spott ist am Platze, wenn solches Jung-bleiben-Wollen in lächerlicher Form zutage tritt. Zuweilen jedoch wirkt dieses Nichtlassen von der Jugend geradezu großartig. Stolze Naturen lassen sich nicht werfen. Im Grunde freilich ist auch das sinnlos, denn es ist vergebliches Bemühen. Aber es ist schön, wie so vieles Sinnlose. Wer so dem Alter trotzt, in dem lebt der nämliche Heldengeist wie in der Alten Garde bei Waterloo, die eher starb, als daß sie sich ergab. Und für ein Soldatenherz ist das Nie-und-nimmer-sich-Ergeben doch die Losung in allen Dingen des Lebens.
Der sich nie ergebende Brassard – er lebt übrigens noch; wie er lebt, das geht aus dem Folgenden hervor – war damals, als ich zu ihm in die Postkutsche stieg, im Lästermunde der Welt ein sogenannter »alter Schwerenöter«. Wem hingegen Zahlen und Urkunden über das Alter eines Menschen nicht viel bedeuten, weil jedermann just so alt ist, wie er aussieht, dem war und blieb der Graf einfach »ein Schwerenöter«, oder besser ausgedrückt – denn diese Bezeichnung klingt zu kleinbürgerlich – ein Prachtmensch. Entschieden war er das zum Beispiel in den Augen der Marquise von V***, einer Kennerin in punkto Mannestugend, einer echten Dalila, die so manchen Simson unter ihrer Schere gehabt hatte. Alte Schwerenöter sind zumeist lüsterne, magere, dürftige, gezierte Erscheinungen. So darf man sich aber den Grafen von Brassard ja nicht vorstellen. Da bekäme man ein grundfalsches Bild. Leib, Geist, Haltung, Bewegung, alles an ihm war stattlich, verschwenderisch, vornehm, herrenhaft-gelassen. Mit einem Wort, er war ein echter Dandy wie Georg Brummell in seiner besten Zeit. Wäre er weniger ein Dandy gewesen, so hätte er es zweifellos bis zum Marschall von Frankreich gebracht. Er war einer der glänzendsten Offiziere des ersten Kaiserreichs. Regimentskameraden von ihm haben mir des öfteren seine Tapferkeit gerühmt. Sie sei so groß gewesen, wie die von Murat und Marmont zusammengenommen. Dazu hatte er viel Witz und viel Kaltblütigkeit. Somit hätte er als Soldat rasch sehr hoch kommen können, wenn er nicht eben so sehr Dandy gewesen wäre. Einem Offizier müssen Gehorsam, Pünktlichkeit und allerlei andere Diensttugenden in Fleisch und Blut übergegangen sein. Das ist aber mit dem Dandytum unvereinbar. Man kann nicht Berufssoldat und zugleich Dandy sein. Offiziere wie Brassard sind in einem fort nahe daran, um die Ecke zu gehen. Und Brassard wäre während seiner Soldatenzeit zwanzigmal um die Ecke gegangen, wenn er nicht wie alle Lebenskünstler Glück gehabt hätte. Mazarin hätte ihn brauchen können; seine Nichten auch, freilich aus anderen Gründen. Brassard war wirklich ein Prachtmensch.
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