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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dichterhain, Bände 5 bis 8

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Freitag, 7. Juni 2013

Fantasie zur Nacht: DISKOTOILETTE von Thomas Reich

Diskotoilette


Der Armrücken
schirmt die Neonsonne ab
die Leichtigkeit im Rücken
als ich
gegen die nackten Fliesen taumle

finde keinen Halt
bloß in den Haaren
in die ich mich kralle
es ist
als würde ich
eine Schaufensterpuppe ficken

von allen
die ich hielt
sah ich nur die Hinterköpfe
niemals ihr Gesicht

der Chromüberzug über der Welt
Installationen der Bedeutungslosigkeit

es könnte auch
das Haupt der Medusa sein
immer in Bewegung
während ich
zu Stein erstarre. 

(c) Thomas Reich

Sonntag, 4. Dezember 2011

Domenica ist 2011 nach St. Pauli zurückgekehrt


Im April 2011 wurde im Hamburger Panoptikum am Spielbudenplatz auf St. Pauli die Wachsfigur von Domenica Anita Niehoff enthüllt. Nach ihrem Tod entstand die Idee, Deutschlands berühmtester Prostituierten und Streetworkerin einen Platz im Panoptikum zu geben, um sie so vor dem Vergessen zu bewahren.
Über ein Jahr arbeiteten der Bildhauer Gottfried Krüger und sein Team an der Figur, die nun fast zeitgleich mit der Domenica-Ausstellung im St.-Pauli-Museum fertiggestellt wurde. Zeit ihres Lebens setzte sich Domenica für die Belange der Prostituierten ein und versuchte, für sie ein Minimum an sozialer Sicherheit zu erreichen. Seit 1990 betreute sie bis zur Selbstaufgabe als Sozialarbeiterin drogenabhängige Mädchen und Frauen und war Mitinitiatorin mehrerer sozialer Projekte.
Die Stadt Hamburg ehrte sie durch ein Begräbnis im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof, wo bedeutende Hamburgerinnen ihre letzte Ruhestätte finden. Das Panoptikum ist die älteste Wachsfigurenausstellung in Deutschland. Seit seiner Gründung vor über 130 Jahren befindet es sich im Besitz der Familie Faerber, inzwischen in der vierten Generation.

www.panoptikum.de

Freitag, 14. Oktober 2011

Buchbesprechung: Schoßgebete

Charlotte Roche
Schoßgebete
München 2011, 283 S., Paperback mit Innenklappen
16,99 €, Piper 


Charlotte Roche hat wieder zugeschlagen. Hat sie das? Ein Sammelsurium von Selbsterfahrung mit degoutanten Beilagen, früher anal, jetzt oral fixiert? Nein, die "Schoßgebete" sind etwas anderes als die "Feuchtgebiete".
In medias res werden zwar die sexuellen Gewohnheiten von Elizabeth Kiehl (anfangs 30) und ihrem wesentlich älteren Mann Georg analysiert und beschrieben, dahinter aber steckt etwas anderes. Es ist das Bild einer zwangshedonistischen Gesellschaft, materialistisch, atheistisch, viele Trinker und eben lustbetont orientiert, verkörpert durch eine traumatisierte Protagonistin, die nichts als Angst empfindet, mit einem Bein immer im Tod. Wie das Bewusstsein der vielen TV-Zuschauer, die nichts erleben als Leichen zuhauf. Die schwere Traumatisierung ist auch Charlotte Roches Trauma. Ein Autounfall vor 8 Jahren löschte das Leben von Elizabeths drei Brüdern aus, die Mutter schwer verletzt und im Rollstuhl weiterlebend durch eine Kollision mit einem Benzinlaster. Elizabeth musste bei ihrer Mutter im Krankenzimmer wochenlang ausharren, und zeugte in einigen freien Stunden mit ihrem ersten Mann Stefan ihre Tochter, was ihnen zuvor nicht und danach nicht mehr gelungen war. Die Kleine stand später unweigerlich mit dem Drama in engem Zusammenhang. Sie wurde immer in Verbindung mit den drei toten Brüdern gesehen. Das Unglück passierte auf dem Weg zur geplanten, niemals vollzogenen Hochzeit in England, wodurch die Beziehung des Paares schwer belastet und nicht überlebensfähig war. Alles was mit der ausgefallenen Hochzeit zu tun hat, sammelte Elizabeth in einem Koffer. Auch zwei silberne Eichelnüsse (auf dem Umschlag zu sehen), die wie das andere im Koffer Unglücksträger bzw- verursacher sind.
Die einzige Spiritualität erlangen die Hauptpersonen des Romans durch Sex. Zu ihm beten sie, er ist ihr Gott. Als Kompensation dient Elizabeth die Sexualität, eine regelrechte Droge, die das Dasein erträglich macht, die sie mit ihrem Mann nur dann intensiv und besonders erleben kann, wenn beide sich eine dritte Person dazunehmen, und zwar wegen Georgs Einstellung ausschließlich eine Frau, obwohl sich Elizabeth sehnlichst einen zweiten Mann wünscht. Aber der Mann geht vor, so ihre Erziehung. Die Partnerin finden sie in einem Puff, wo sich Georg die Kandidatinnen genau aussucht und schon eine sehr hohe Routine im Erkennen des Eignungsgrades erlangt hat. Sie feiern und zelebrieren regelmäßig voller Lust und Wonne ein mehrere Hundert Euro schweres Threesome. Eigentlich sollte der Titel "Stoßgebete" heißen, um die Doppeldeutigkeit hervorzuheben.
Und sind glücklich und zufrieden... wenn da nicht der ständig bohrende Minderwertigkeitskomplex arbeiten würde. Was mache ich da, ist es gut? Die Männerfeindlichkeit der Mutter, die Oralsex völlig ablehnte und verteufelte, der penible, zwanghafte Vater, der immer alles bestens und exakt erwartete. So quält sich Elizabeth trotz Genuss mit Ungewissheit, Gewissensbissen, zwanghaften Gedanken und besucht auch regelmäßig am nächsten Tag nach der oft abends nach immergleichem Fahrplan stattfindenden Zelebrierung - Fußweg ins Puff, Abendessen, eine Gläschen Sekt zuvor, Kennenlernen der ausgesuchten Kandidatin und Start mit der Lesbierinnennummer - ihre Psychotherapeutin zur "Beichte", die gar keine ist, nur ein detailliertes Beschreiben ihrer Wahrnehmung, und zur Stärkung ihrer Entwicklung.
Wie in einem Entwicklungsroman entfernt sich die Protagonistin auch vom tief in uns sitzenden Eifersuchtsdenken, der Neidempfindung und den Muss-Zwängen hin zu der Wunscherfüllung, ihre Partnerschaft erhalten, aber auf Fremdgehen bewusst nicht verzichten zu wollen. Im Eheleben ist Sex bei Nacht für Elizabeth unvorstellbar, weil sie die Atemzüge des Partners nicht genau der Erregung oder dem Schlaf zuordnen kann. Bei ihrer Therapeutin erfährt sie, dass all ihre Ängste nur Projektionen ihrer Probleme sind, das alles in Ordnung wäre, wenn alle Beteiligten es wollten, das sie im Grunde nichts zu befürchten hätte. Das ganze Leid in Beziehungen, ihr Zerbrechen, ihre Intoleranz, eine Folge der Eifersucht und des Neids. Bürgerliches Besitzdenken und Engstirnigkeit vergiften alles Zusammenleben, obwohl sich im Grunde jeder nach einem außerehelichen Erlebnis sehnt. So machen es beide zusammen mit einer dritten Person und halten ihre Beziehung dadurch am Leben. Was fehlt ist der letzte Befreiungsschritt, sich andere Männer zu genehmigen. Mit dem Christentum ist sie schon lange fertig, sie verachtet die Schizophrenie der Leute und ihrer Moral: Die Verbrennung ihrer Brüder muss im Krematorium in Belgien, dem Unfallort, stattfinden und es gibt Urnen, obwohl die Leichen zu nichts verbrannten. (Was ist dann drin?) Sie hält Christen für zu schwach zu erkennen, dass es keinen Sinn gibt. Sie machen sich was vor mit dem Jenseits:


"Das Leben ist sinnlos, die Erde ist sinnlos, wir sind Zufall, und es gibt niemals ein Leben nach dem Tod."


So tendiert auch Elizabeth immer wieder zu Todes- oder auch Freitodphantasien und der Frage, wie das Nachleben geregelt sein soll. Sie hat schon mehrfach ihr Testament geändert, ist Stammkunde beim Notar, und wünscht sich, dass Georg und ihr erster Ehemann zusammenziehen, um ihre Tochter Liza gemeinsam zu erziehen und zu behüten. Die Absurdität dieses Wunsches liegt offen, weswegen Georg sie auch bittet das Testament zu zerreißen, sie aber hält fest. Ihr beste Freundin soll alles erben, obwohl sie sie nicht sonderlich mag, sie beneidet, ihr nicht viel gönnt.
Roches Spiegel unserer von Ängsten und Sinnlosigkeit geprägten Welterfahrung, kompensiert mit Sex, das Leben von Patchworkfamilien, das Zusammentreffen vieler unterschiedlicher (Sex-)Sozialisationen, das Analysieren und Auflösen von Zwängen, Werten und Moral in der Familie bzw. zwischen (Ehe-)Partnern beschreibt unsere Gesellschaft in einer evidenten Schizophrenie. Und zwar aus zwanghaften Versuchen einerseits ein Wertesystem aufzubauen und zu halten, das im Grunde nur krank und unglücklich macht, und der krassen real erfahrbaren, aber vertuschten Sinnlosigkeit mit all ihren libertinären Konsequenzen für Leben, Lieben und Handeln andererseits. Aktuelles, postmodernes, westliches, verlogenes Leben - wir wollen ganz anders leben, als wir dürfen und sollen. Die Befreiung ein langwieriger Prozess.