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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Samstag, 11. Mai 2024

Wie war's in Wagners "Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg" in der Frankfurter Oper ?





Richards Wagner Tannhäuser, vom südafrikanischen Matthew Wild in der Oper Frankfurt inszeniert, beginnt mit einer Überraschung. Keine germanischen Heroengestalten, Prunk, Protz, Nationalismus, kein Wichtel-, Gnomen- und Elfenspuk, sondern moderner entfesselter Libertinismus. Wir hatten Glück: Kein Marquis de Sade und harsche Auspeitschungen, sondern freie Liebe im Reich der Venus. Es wird uns klar: Dieser Tannhäuser wird ein anderer sein. Natürlich ist er genau betrachtet gar nicht so weit weg vom Original, aber doch ist einiges verändert. Da die Zeit, die Epochen eh keine große Rolle in dieser Oper spielen, ist die gesamte Verschiebung des Geschehens in die Jahre zwischen 1937 und 1961 und danach zunächst ungewöhnlich, aber gerade die Auflösung des klassischen Rahmens und Einführung einer modernen Szenerie machen Wagner lebendiger. Es mag Konservative schocken, ihre Ideale zum Einstürzen bringen, aber hier erlebt Tannhäuser Ungeheures nicht im (Eisenacher) Venusberg, sondern in Kalifornien, das von jeher voller (sexueller) Freiheit, Begehren, Unkonventionalität, Drogen und Rauscherleben war. Das freie Gendern und Ausleben aller Wünsche ist dort kaum ein Problem, obwohl die Vereinigten Staaten eine beachtliche Prüderie entwickelt haben parallel zur völligen Entfesselung.

Durch multimediale Einblendungen verstehen wir, dass wir mit der Zeitmaschine einen gewaltigen Sprung getan haben. Die Geschichte der romantischen Figur des Heinrich von Ofterdingen in den Medien der Regie macht klar, dieser von Ofterdingen (Marco Jentsch, Tenor) ist ein akademischer Journalist und Autor. Trotz seiner Erfolge kehrt er den deutschen Landen 1937 den Rücken, er floh vor den Nazis in die USA. Warum sonst? Vor sich selbst? Die Geschichte nähert sich unserer Zeit an, obwohl auch mittelalterliche Sänger/Autoren deutscher Nation, antike Gottheiten und christliche Heilige im Personal enthalten sind. 

Marco Jentzsch (Tannhäuser) und
Dshamilja Kaiser (Venus)
Bildnachweis: Barbara Aumüller

Heinrich, unser Protagonist, wird von der Göttin Venus (Dshamilja Kaiser, Mezzosopran) verzaubert, berauscht (auch von Drogen), als er in seinem Hotelzimmer sitzt, schreibt, aber nicht mehr vom Fleck kommt. Er verwirft alle Ansätze. Stillstand! Er ist blockiert, hat eine Schreibkrise, trinkt Whiskey, hat Visionen und überaus positive Heimsuchungen. Venus ist eine teils Außerirdische, andererseits üppige Irdische. Es spielen sich verrückte Visionen mit Figuren aus Tausenden von Jahren ab, vom Gehörnten als Ziegenbock, bis zu antiken raufenden Satyren, Bacchus, Ganymed und christlicher Tradition, der heilige Sebastian, als ein Sinnbild und Omen für die kommenden Leiden des jungen Heinrich v. O.

v.l.n.r. Henri Klein (Ein junger Student) und
Marco Jentzsch (Tannhäuser) sowie
Dshamilja Kaiser (Venus)
Bildnachweis: Barbara Aumüller

Zwei verschiedene Welten öffnen sich, die die aufkeimende Verwirklichung der in 
jedem Menschen angelegten Bisexualität befördern. Es ist auch ein deutliches Aufgreifen der latenten Wagnerschen Homoerotik. Die Inszenierung macht es deutlich. Heinrich kann sich, befreit von aller moralischen Last, frei austoben. Ein junger Mann hat es ihm besonders angetan, er verliebt sich in ihn. 
Im Spiel mit dem jungen Geliebten tauchen Brüste aus dem Hemd Heinrichs auf, der sich gerade in einer weiblichen Rolle verliert. Aber trotz aller Freuden kommt die Wende. Heinrich entdeckt zwar unterdrückte Welten seiner Psyche,  fürchtet sich aber auch vor diesen Meilenschritten im unbekannten Land. Er flieht Venus und den schwulen Freund. Mitten in dieser freizügigen Modernität verblüffend, überraschend, fast unpassend der Originaltext: „Mein Heil ruht in Maria!“. Die Moral zwingt ihn sich abzuwenden von diesem allzu freien Spiel der Sinne.

Es folgt ein riesiger Sprung in die gegenteilige Welt - aus der Freiheit zurück ins Fromme, Konservative. 1956 der Pulitzerpreis, 1961 taucht Heinrich wieder in der Öffentlichkeit auf und kehrt in seinen Beruf als Professor zurück

Marco Jentzsch (Tannhäuser)
und Ensemble
Bildnachweis: Barbara Aumüller
. Die reine Elisabeth vor Augen hält er das Leben an ihrer Seite für standesgemäßer. Krasser kann der Gegensatz zwischen sexueller Entfesselung und religiös konservativer Welt der Eitelkeiten nicht sein. Aber Maria wird aus diesem Leben entfernt, die Statue der Heiligen verpackt und davongetragen. Dieses Heil ist nicht mehr da! Elisabeth (Christina Nilsson, Sopran) ist entzückt über die Wiederkehr, die Perspektive einer großen Liebe vor Augen.

Die Dichtkunst der Sänger und ihre Ideale passen jedoch nicht mehr in Heinrichs Denken ... Beim Wettstreit der Sänger/Schriftsteller polarisieren sich Konservativismus, dessen hehre Ideale der Vergangenheit und das moderne Streben nach einer anderen Sicht der Dinge. All das, was die Schriftsteller als ihre persönliche höchste Form der Liebe preisen, Vaterland, Heimat, Natur, reine Ideale der Schönheit, beinhalten nicht die wahre Erfahrung des körperlichen Genusses, der vollständiger Ekstase, enormen Höhepunkte, die für Heinrich jeden im Innersten am meisten erfüllen. Er lehnt ihre Ansätze ab, es kommt zu Aufruhr, Empörung, die ehrenwerten Dichter schlagen von Ofterdingen zusammen, das gesamte Auditorium wirklich entzückt von den alten Idealen mit "Heil!"-Rufen, dann empört über die Denkweise von Heinrich. Statt Bücherverbrennung kommt ein Bücherzerreißen. Heinrich flüchtet aus dem Desaster mit der Ankündigung seines Bußganges nach Rom. Der Papst soll ihm die Absolution erteilen. Das rettet ihm das Leben. 

Die Absolution findet wieder im Hotelzimmer statt, Heinrich kehrt ins Schriftstellerdasein mit Drogen und schwulem Freund zurück, was einem Suizid gleichkommt. Die Liebe zu Elisabeth kann nicht mehr körperlich stattfinden, sie verlagert sich auf die geistige Ebene. Elisabeth schreibt seine unvollendeten Werke fort, was wahrscheinlich so kontrastiv wie die Oper und ihr Geschehen wirken würde. 

Wilds Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Thomas Guggeis hat einen neuen Standard in der Opernaufführung gesetzt. Die Frankfurter Oper bereitet sich auf große Darbietungen mit noch mehr gestalterischer Fantasie durch Regie, Choreographie (Louisa Talbot), Bühnenbild (Herbert Barz-Murauer), Kostüme (Raphaela Rose), Licht (Jan Hartmann) und Effekte vor. Die fortschrittliche multimediale Bühnen- und Effekttechnik wird nicht in jedem Stück auftauchen, aber bedeutende Schlüsselwerke der Operngeschichte haben alle Chancen auf "Umgestaltung". Die Darbietungen werden fesselnder, lebendiger, greifbarer und einmalig in der Präsentation! Regisseur Matthew Wild möchte unkonventionelle Bühnenbilder und den kreativen Einsatz von Requisiten verwirklichen, um die Opern lebendiger, spannender und herausfordernder für das Publikum zu machen.

Auch die musikalischen Aspekte der modernen „Tannhäuser“-Inszenierung an der Oper Frankfurt spiegeln eine Mischung aus Tradition und Innovation wider, wobei zeitgenössische musikalische Arrangements und Interpretationen das Erlebnis des Publikums bereichern. Bislang kaum erfahrene musikalische Elemente und Stile werden den klassischen Opern zu einem neuen Leben verhelfen.