Die Zeit
Manchmal sehe ich Menschen nach Jahrzehnten und nichts, aber auch nichts deutet darauf hin, dass eine „Zeit“ zwischen uns lag.
Manchmal besuche ich Orte, die ich Jahrzehnte nicht sah und ich spüre keine Zeit in mir.
Ich frage mich, ob es die „Zeit“ überhaupt
gibt. Menschen versuchen seit Jahrtausenden, die Zeit festzuhalten, sie
zu katalogisieren. Künstlich festzulegen, wann ein Jahr beginnt und
wann es aufhört.
Und wir machen diesen Quatsch alle mit.
Warum? Weil wir in einer Kunstgesellschaft leben, die für alles ein
Konstrukt erfindet. So ist auch die Zeit ein willentliches menschliches
Konstrukt. Ich wage mittlerweile zu bezweifeln, dass es sie wirklich
gibt.
Wir werden auf die Welt geboren, wachsen
heran, durchlaufen verschiedene Institutionen und denken uns, es sei „an
der Zeit“, einen Beruf auszuüben, sind dafür aber möglicherweise noch
viel zu kindlich, um zu wissen, WAS genau wir denn machen sollen.
Alles packen wir Menschen in einen
zeitlichen Rahmen, um uns die Welt, das Leben zu erleichtern. Wir
schaffen kleine Kästchen für uns und da wird das alles hineingepackt:
die Zeit, das Alter, die Heirat, die Fortpflanzung, der Tod.
Aber wir sehen auch immer wieder, dass
genau der Tod sich an keine Zeiten hält. Er kommt, wann er will, zu wem
auch immer er will.
Auch die Einsamkeit hält sich an keine
Zeiten – baue ein Haus mit Deiner Liebsten, bekomme Kinder mit ihr und
dann verschwindest Du mit Deiner Sekretärin in der Mittagspause im Wald
und treibst es mit ihr auf dem Rücksitz und fängst an sie wirklich zu
lieben. Haus, Frau und Kind werden Dir egal – die Zeit fragt nicht
danach, wen Du wann liebst.
Die Zeit fragt nicht, wann Du Hunger oder
Durst hast – manchmal liegst Du Tage in den Bäumen und magst weder
sprechen noch sterben. Dann bist Du zeitlos.
Kennen die Tiere eine Zeit? Nein! Sie
haben ihre biologische Uhr, die sie wachwerden lässt und die sie in den
Schlaf schickt – ohne Tagesschau.
Kennen die Banken, die Hedgefonds eine
Zeit? Nein! Sie machen zu Zeiten, wo wir überhaupt nicht damit
rechnen, die Welt kaputt! Der Ölpreis, kennt der eine Zeit? Eine
Winterzeit, wo wir angewiesen sind auf den Stoff? Nein – gnadenlos
liegt er jetzt bei 95 Euro pro 100 Liter. Hat sich innerhalb 10 Jahren
zeitlos verdoppelt.
Aber dennoch arbeiten sie mit der Zeit,
die Politiker, die Ölmagnaten und die Banken. Wenn bis zu einem
bestimmten Termin bestimmte Leute auf ihr Gehalt verzichten, dann, ja
dann gibt es wieder mal eine kleine Zulage für die stets hungrigen
zeitlosen Banken.
Sie arbeiten alle mit der Zeit: die
Schönheitschirurgen, die die Alterslefzen abschneiden, die Politiker,
die, die Milliarden ausschütten an das Bankenpack, die Kriegstreiber,
die nicht aufhören mit ihrem ständigen Bombardement. Alles nur eine
Frage der Zeit, bis auch die letzten sogenannten unliebsamen Diktatoren
vom Stuhl gewischt sind. Zu welchem Zweck, frage ich mich? Was kommt
denn danach? Ja, die Zeit wird es richten, bis irgendwann in jeder
Stadt der Welt Mac Donalds innerhalb kürzester Zeit Dir den Hunger
stillt.
Ich behaupte, es gibt sie nicht, die Zeit.
Es gibt Erlebtes, es gibt die Geschichte der Menschheit – aber es läuft
alles auf irgendeine Art und Weise parallel.
Der Vollmond, die Sterne und die Sonne –
sie sind zeitlos und unschuldig. Die Natur hat ihre sich stets
wechselnden Momente der Erneuerung, des Sterbens und des
Wiederauferstehens.
Gott oder das „höchste Wesen“ sind
ebenfalls zeitlos. Das macht doch irgendwie Mut – oder? Ich möchte mich
von der Zeit verabschieden, ja – aber nicht von meiner Uhr. Sie ist nur
ein kleines Signal, mich zu einer bestimmten Zeit einzustellen. Aber
Zeit? Das hat nichts mit der Uhr zu tun – weil ich denke: Es gibt sie
nicht.
(c) Karin Michaeli, Düsseldorf