Jesus Pastor, David Leonidas Thiel, Marc Borras, Marco Blázquez, Verónica Segovia Torres, Guillaume Hulot | Foto: Denislav Kanev |
Diese Woche, am 24. und 26.06.2014, zeigt das Staatstheater Mainz zum letzten Mal unter der Leitung von Pascal Touzeau Produktionen der Tänzer, die die Seiten wechseln bzw. in einer Doppelrolle ihre eigenen Produktionen tanzen und zeigen.
Besucht habe ich die gestrige Dienstagabend-Vorstellung, die einen ordentlich beschenkte mit sieben Produktionen, die ganz unterschiedliche Wirkungen hinterlassen. Fast immer tänzerisch sehr anspruchsvoll wurden Befindlichkeiten, Zustände, Emotionen und Wirkungen thematisiert und in Bewegung umgesetzt. Sollte man die Kunst benoten wollen, würde ich ein "sehr wertvoll" an Marco Blázquez und SOUNEN, Guillaume Hulot und TUNING ANOTHER BEING, Marc Borras und INERTIA sowie an Jesus Pastor und seinen BOLERO vergeben. Anlass dazu wären die Komplexität der Handlung, die Choreografie, Musikauswahl und Kostüme/Bühnenbild/Licht. Die anderen drei Stücke FATALITY, MICROVOLUTION, NEMOW haben schon auch ein "wertvoll" verdient, sind aber für mich ein bisschen schwächer ...
In SOUNEN beginnt das Geschehen zur insistierenden, sich steígernden und elektronisch-metallischen Musik mit markanten Kurzschlusssounds von Richard Chartier mit dem Solotanz von Keiko Okawa, die wie ein Bogen gespannt sein kann. Überraschend gesellt sich eine zweite Person dazu, erst eine Frau (Mariya Bushujeva), dann ein Mann. Zwischen Keiko und dem Mann (Lewis Seiwwright) entwickelt sich ein Hin und Her zwischen zwei überdimensionalen Baumsträuchern, an denen Papiervögel oder dgl. wachsen. Sie pflückt sie und lässt sie fallen, er erledigt die Arbeit für sie und trägt die papiernen Gewächse in den anderen Strauch. Ob das nun die Gestaltwerdung ihres Wunsches darstellt ist schwer zu sagen, jedenfalls gewinnt sie einen Freund, bleibt aber zögerlich.
TUNING ANOTHER BEING ist ein ästhetischer tänzerischer Männerdialog zu Christian Grifas Titel "Accordature". Zur seriell anmutenden Pianomusik, die mal hohl seriell, mal in Tonwellen verläuft, versuchen die beiden Tänzer als Töne sich gegenseitig zu stimmen oder als Menschen ihren gemeinsamen Lebensweg auch emotional anzupassen. Die Suche nach Perfektion und Neugier nach Unbekanntem treiben Sie an. Markanter Farbpunkt die orangefarbenen Socken von Christian Bauch. Archaischer Ausdruck bei Marc Borras.
INERTIA von Marc Borras präsentiert Physik, Emotionen und ihre Beziehung zueinander bei Steve Reich-Musik: "Electric Counterpoint", 1. Satz. Hölzerne Würfel werden auf der Kante wie ein Kreisel gedreht oder durch die Gegend geschoben, oft mit immenser Anstrengung. Mariya Bushujeva und Zachary Chant drücken Aktion, Reaktion und Gravitation aus, gehen im fortlaufenden Geschehen zu einem feinen Pas de deux nach Antonio Vivaldis " Eja Mater" aus "Stabat Mater" über. Die Frau scheint eine Sekunde Siegerin in der Bewegung und Stärke zu sein, steht auf dem Rücken des Mannes und - fällt! Mit ihr Hunderte von Pingpongbälle wie ein Tränenwasserfall von der Decke.
In BOLERO von Jesus Pastor dann ein Lust- und Freudenfest unter der Leuchtreklame WILD THIE(L?)/THING (?) - eine Hommage an die Sinnlichkeit der Musik. Zu den Klängen von Maurice Ravels "Bolero", den Pastor liebt, verehrt, der ihm Glück, Genuss und Rausch darstellt, war nun alles möglich. Ein Aufgebot aus der (schwulen) Hardcoreszene mit BDSM-Neigung. Schergen, Schauspieler und Tänzer aus dem kaiserlich-römischen Lustkeller des Nero und Caligula, als schwuler Obermeister und Dominus Christian Bauch im Schurz. Dazu drei Musen, die untereinander sich vergnügen als auch kreative Begleitung der Knechte sein können.
In der "wertvoll"-Gruppe wie gesagt FATALITY von Verónica Segovia Torres, das sehr deutlich und realistisch auf Alltagsszenen eingeht. Der scheiternde Kampf um Arbeit einer mittlerweilen suizidären 28-Jährigen, der Umgang eines 35-jährigen Pflegers, der seinen Job wechseln möchte, mit einer kranken lebensunwilligen 65-Jährigen, ein 40-jähriger Manager, der vom Stress-Schlag betroffen umfällt, ein russisches Paar über 30, deren Beziehung von Gewalt und Anspannung geprägt ist. Thematisiert wurden die Folgen und Auswirkungen von Misshandlungen auf Menschen. In einem Video zum Abschluss das Leidzufügen, Demoralisierung, Wundenhaben, Blutfließen ... zu Musik von Arvo Pärt "Fratres".
In MICROVOLUTION von David Leonidas Thiel eine Blitzevolution vom Affen zum Zylinderträger um 1900, Baseballjacken-Rowdy der 50er zum Cyber-Robotdance. War hier eine exakte Bewegungsfolge der beiden Tänzer hintereinander zu krassem Licht und Cyberkostümeffekten deutlich, fehlte zu Beginn im Solotanz etwas Synchronizität zur Musik von Mr. Bill "Balance".
NEMOW von Guillaume Hulot hatte die Farben des alten Ägypten im Visier, die dann auf der Rückwand der Bühne am Ende zu sehen waren, sonst in den Kleiderfarben und Beleuchtungen. Das zarte Spiel der Tänzerinnen erschien mir nicht so kraftvoll und mit weiten und majestätischen Bewegungen ausgestattet wie viele andere Tanzszenen an diesem Abend. Auch Farben, das Rot der Pharaonentöchter oder was auch immer es bedeuten sollte, weiß, grün, wurden mir von der Bedeutung her nicht klar. Wenn die Zuschauer die Bedeutungen nicht kennen, können sie auch kaum den Sinn der Tanzsprache verstehen. Schön waren die Tänze trotzdem, auch die vielen gebauten Positionen und Bilder zu den Farben.