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Donnerstag, 21. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (9) - Verbrecherisches Glück (1) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Verbrecherisches Glück (1)
Wahre Geschichten kann nur der Teufel erzählen!

Im vergangenen Jahr an einem Herbstmorgen schlenderte ich mit dem Doktor Torty, einem meiner ältesten Bekannten, durch den Zoologischen Garten. Er war in meiner Kindheit Arzt in V*** gewesen und hatte seinen angenehmen Beruf an die dreißig Jahre ausgeübt. Und als er seine »Veteranen« – wie er sie nannte – nach und nach allesamt in das Jenseits befördert hatte, nahm er keine neuen Patienten mehr an. Er war ergraut und liebte die Freiheit über alles, wie ein Gaul, der immer am Zügel gegangen ist und sich schließlich einmal davon losmacht. So war er nach Paris gekommen und hatte sich dicht beim Zoologischen Garten, wenn ich nicht irre, in der Cuvierstraße, niedergelassen. Er übte seine Kunst nur noch zu seinem Vergnügen aus. Dies war groß, denn er war Arzt mit Leib und Seele, hervorragend in seinem Fach, zudem ein feiner Beobachter, und das nicht bloß in physiologischen und pathologischen Fällen.

Sind Sie ihm nicht zuweilen begegnet? Er war eine kühne Kraftnatur und griff niemanden mit Glacéhandschuhen an, aus dem sehr einfachen Grund, weil man besonders als Arzt die Dinge beim rechten Namen nennen muß. Er gefiel mir außerordentlich, und wohl gerade wegen der Seiten, die den anderen am wenigsten behagten. Es stand in der Tat so, daß die Leute, solange sie gesund waren, diesen derben Sonderling von Arzt nicht ausstehen konnten. Wurden sie aber krank, so hatten sie höllische Hochachtung vor ihm, ungefähr wie die Wilden vor dem Schießgewehr des Robinson, aus Angst vor dem Tod. Man wußte ganz genau: nur er konnte helfen. Ohne diese bedeutsame Erkenntnis hätte Torty nie und nimmer seine zwanzigtausend Franken Zinsen im Jahr, denn in jenem altmodischen Frömmlernest hätte man ihm einfach den Stuhl vor die Tür gesetzt, wenn man ihn nicht eben gebraucht hätte. Darüber war er sich völlig klar. Es hatte ihn nie berührt. Er spottete sogar darüber. »Sie mußten sich wohl oder übel«, pflegte er zu sagen, »für mich oder die letzte Ölung entscheiden. Und bei aller Frömmigkeit zogen sie mich doch schließlich den heiligen Sakramenten vor.« Das ist übrigens ein Beispiel, wie wenig sich der Doktor ein Blatt vor den Mund nahm. Sein Witz verstieg sich zuweilen ins Lästerliche. Wissenschaftlich war er ein treuer Anhänger von Cabanis, und wie sein alter Freund Chaussier gehörte er zu jener Klasse von Heilkünstlern, die als pure Materialisten verschrien sind. Dazu war er ein Zyniker, dem nichts heilig war, und der mit einer Herzogin genauso natürlich und gemütlich plauderte wie mit dem geringsten Marktweib. Hier eine kleine Probe von Tortys Art. In einer glänzenden Abendgesellschaft meinte er einmal, nachdem er die Prunktafel mit ihren hundertundzwanzig Gästen mit seinem Herrscherblick überschaut hatte: »Die leben alle von meiner Gnade!« Es fehlte dem Doktor an jedwedem Respekt. Das gab er selber zu, indem er sagte: »Wo der Respekt bei andern Leuten im Schädel sitzt, da ist bei mir ein Loch!« Er war alt, über die Siebzig, stark und vierschrötig. Unter der hellbraunen Perücke mit dem glänzenden kurzgeschorenen Haar blitzten aus seinem Spöttergesicht ein Paar durchdringende gläserlose Augen. Er kleidete sich zumeist grau oder braun. Dadurch ähnelte er weder in der Haltung noch im Wesen den geschniegelten Pariser Ärzten in ihren schwarzen Röcken und weißen Binden. Er war aus anderem Holz. Mit seinen hirschledernen Handschuhen und den doppelsohligen Stiefeln, in denen er wuchtigen Schritts einherging, hatte er etwas von einem alten Ritter. Der war er auch. In den dreißig Jahren seiner Landpraxis hatte er manche Stunde im Sattel verbracht. Kein Weg war ihm zu schlecht gewesen. Das verriet sich noch immer in der Art, wie er seinen mächtigen Oberkörper aufreckte, der unerschütterlich auf den Schenkeln saß und sich auf kräftigen Beinen wiegte, die kein Zipperlein kannten. Er war wie der alte Lederstrumpf, Coopers Held in den Wäldern Amerikas, ein Naturmensch, unberührt von den Vorschriften der Herkömmlichkeit. Als unerbittlicher Beobachter war er schlecht und recht zum Menschenfeind geworden. Das war Schicksalstücke. Indes hatte er auf seinen langen Ritten durch Schmutz und Schlamm genug Muße gefunden, erhaben über den Dreck des Lebens zu werden. Er ereiferte sich über kein Laster. Er verachtete die menschliche Natur ganz einfach ebenso gleichmütig, wie er seinen Tabak schnupfte. Ja, beides tat er mit dem nämlichen Behagen.
Das war der Doktor Torty, mit dem ich durch den Zoologischen Garten bummelte.
Es war ein Herbsttag, so hell und klar, daß selbst den Schwalben die Reiselust verging. Die Notre-Dame verkündete den Mittag, und die ernsten Glockentöne zitterten in lichten Schwingungen den grünen brückenreichen Strom entlang über unsere Häupter hinweg. Das schon braune Laub hatte den bläulichen Hauch veratmet, in den der leichte Morgennebel es getaucht. Die gütige Oktobersonne wärmte uns beiden angenehm den Rücken, während wir vor dem Käfig der berühmten schwarzen Pantherin verweilten, die im Jahre darauf an der Lungenschwindsucht gestorben ist wie ein junges Mädchen. Um uns herum stand das Publikum, wie man es gewöhnlich in einem Zoologischen Garten findet, Leute aus dem Volk, Soldaten und Kindermädchen, die sich mit Vorliebe vor den Käfigen herumtreiben und sich daran ergötzen, den trägen, hinter ihren Eisengittern blinzelnden Tieren Nuß- und Kastanienschalen vorzuwerfen. Die Pantherin, vor der wir bei unserem Gang gelandet, stammte von der Insel Java, also dem Erdenwinkel, wo die Natur am kraftvollsten ist. Java gleicht selber einem mächtigen Raubtier, das der Mensch nicht zu zähmen vermag, das ihn aber immer wieder an sich lockt trotz aller Gefahren, die sein grausigüppiger Boden birgt. Auf Java sind die Blumen in den Farben glühender, im Duft berauschender denn irgendwo sonst auf Erden, die Früchte aromareicher, die Tiere schöner und stärker. Aber von dieser Lebensfülle hat nur die rechte Vorstellung, wer den tödlichen Dunst dieses traumschönen Landes mit der eigenen Lunge eingeatmet hat. Die Pantherin war eine prächtige Vertreterin der Schrecknisse Javas. Nachlässig auf ihre feingeformten Tatzen hingestreckt, lag sie da, mit erhobenem Kopf und smaragdgrünen unbewegten Augen. Nicht ein helles Fleckchen hob sich an ihrem schwarzsamtnen Fell ab. Es war so dunkel und dicht, daß sich darin nicht einmal die darüber hingleitenden Sonnenlichter fingen, sondern dies stumpfe Schwarz trank das Licht wie ein Schwamm das Wasser. Das war geschmeidige Schönheit, volle Kraft, noch im Ruhen furchtbar, erhabene Überlegenheit, ein Gipfel der Schöpfung. Wandte man seinen Blick von diesem Tier auf die armselige gaffende Menschheit davor, so war's wahrlich nicht der Mensch, der den Sieg davontrug. Die Bestie war es. Eine demütigende Erkenntnis!
Ich gestand dem Doktor gerade leise meine Beobachtung, als auf einmal zwei Menschen den Schwarm der Leute vor dem Käfig durchschritten und sich dicht vor die Pantherin stellten.
»Gewiß«, erwiderte mir Torty. »Aber sehen Sie jetzt einmal hin. Das Gleichgewicht zwischen den beiden Gattungen ist wiederhergestellt!«
Ein Herr und eine Dame. Beide hochgewachsen und, wie ich auf den ersten Blick erkannte, aus der ersten Pariser Gesellschaft. Beide nicht mehr jung, gleichwohl beide erlesen schön. Er mochte siebenundvierzig, sie etwa vierzig sein. Beide hatten also die »Linie« überschritten – wie die Seeleute sagen, wenn sie über den Äquator fahren –, jene Linie, die verhängnisvoller ist als der Gleicher der Erde und die man auf dem Meere des Lebens nur einmal überschreitet und nie wieder. Um derlei hatten sich die beiden sichtlich keine Sorge gemacht. Auf ihrer Stirn brütete kein bißchen Trübsal. Auch nirgends sonst. Der schlanke Mann sah in seinem sorgfältig zugeknöpften schwarzen Gehrock aus wie ein vornehmer Offizier, wie ein Patrizier aus einem Gemälde Tizians. Er hatte frauenhafte hochmütige Züge. Sein Schnurrbart war an den Spitzen ergraut. Das Haar trug er ganz kurzgeschoren. Seine Ähnlichkeit mit einem Kavalier vom Hofe Heinrichs des Dritten erhöhten zwei tiefblaue Saphire, die er als Ohrschmuck trug. Bis auf diese kleine Lächerlichkeit – wie die Welt sagen würde –, die nur ein Zeichen war, daß ihr Träger die Mode des Tages und die öffentliche Meinung geringschätzte, war er völlig Dandy, wie Stendhal ihn auffaßt, also einfach und unauffällig. Und doch fiel er auf, allein durch seine Vornehmheit. Und meine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte er auch auf sich gezogen, wenn ihm zur Seite nicht die Dame gestanden hätte, die noch bemerkenswerter war als ihr Begleiter und mich viel stärker und ganz fesselte. Sie war beinahe so lang wie er und ebenfalls völlig in Schwarz gekleidet. Unwillkürlich fiel mir die große schwarze Isis im Ägyptischen Museum im Louvre ein, angesichts ihrer Üppigkeit, ihrer Kraft und ihres geheimnisvollen Stolzes. Seltsam! Bei diesem schönen Paar hatte sie die Muskeln und er die Nerven. Ich sah sie zunächst nur im Profil. Und das gilt ja als der Probierstein der Schönheit. Es kam mir vor, als hätte ich nie zuvor einen reineren und edleren Schnitt gesehen. Ihre Augen vermochte ich nicht zu beurteilen, da sie auf die Pantherin gerichtet waren. Ihr Blick wirkte hypnotisch auf das Tier und war ihm unangenehm. Je länger die Frau es anblickte, desto schläfriger wurde es. Wie eine Katze im blendenden Sonnenlicht blinzelte die Bestie, ohne den Kopf auch nur leise zu bewegen, ein paar Mal mit den Augen, als vermöchte sie dem Blick der Frau nicht mehr standzuhalten, und ließ schließlich die Lider über ihre beiden grünen Augensterne niederfallen. Sie verschanzte sich.
»Aha! Panther gegen Panther!« raunte mir der Doktor zu. »Aber die Seide ist stärker als der Samt.«
Die Frau trug ein schimmerndes Seidenkleid. Der Doktor hatte recht! Die schwarze geschmeidige königlich schöne Fremde teilte alle diese Eigenschaften mit der Pantherin. Nur sprach aus ihr etwas noch viel Verführerischeres. Wie eine Menschenpantherin stand sie vor der Tierpantherin, ihr überlegen. Diese Überlegenheit hatte das Raubtier sichtlich verspürt, als es die Augen schloß. Aber die Frau begnügte sich nicht mit ihrem Sieg, wenn man es so nennen darf. Frauen sind nicht so edelmütig. Sie wollte, daß ihre Nebenbuhlerin sehen sollte, wer sie demütigte. Sie knöpfte den langen violetten Handschuh auf, der ihren herrlichen Unterarm umschloß, streifte ihn ab, und wagehalsig versetzte sie damit zwischen zwei Gitterstäben hindurch dem Tier einen Schlag über den Rachen. Die Pantherin machte nur eine einzige rasche Bewegung. Ihre Zähne blitzten auf. Ein Schrei! Jedermann glaubte, die verwegene Hand sei verloren. Das mißhandelte Tier hatte nur den Handschuh gepackt und verschlungen. Es lauerte mit weitaufgerissenen Augen und zitternden Nasenflügeln. »Törin!« sagte der Herr und erfaßte das Handgelenk, das dem gräßlichen Biß entronnen war. Sie wissen, in welchem Ton man zuweilen »Törin!« sagt. So sagte er es. Und dann küßte er die Hand zärtlich.
Da er nach uns zu stand und sie ihm bei seiner Huldigung zusah, so machte sie eine dreiviertel Wendung. Jetzt sah ich ihre Augen, diese Augen, die wilde Tiere bändigten und die im Augenblick durch einen Mann gebannt wurden: zwei große schwarze Diamanten, die allen Stolz der Welt ausstrahlten und die doch nur Liebe und Anbetung verkündeten, indem sie auf ihm ruhten. Sie waren wie ein Märchen, diese Augen. Der Herr behielt den Arm, der der Wut des Tieres entgangen war. Innig drückte er ihn an sein Herz und führte die Dame in die Hauptallee, gleichgültig gegen das Gemurmel und die Ausrufe der Zuschauer, deren Aufregung über den Vorfall sich nicht legen wollte. Die beiden gingen dicht an uns vorüber, hatten aber nur Teilnahme füreinander. Als ob sie die Erde unter ihren Füßen nicht bemerkten, so schritten sie dahin, wie höhere Wesen, gleichsam in einer Wolke, wie die Götter Homers.
Dergleichen sieht man selten in Paris. Darum schauten wir dem seltsamen Paar nach. Ein herrliches Bild, wie die beiden ineinander versunkenen Gestalten im Sonnenlicht dahinwandelten. Am Eingangstor harrte ihrer ihr rappenbespannter Wagen.
»Weltvergessende Menschen!« sagte ich zu Torty.
»Du lieber Gott«, erwiderte er mir mit seiner scharfen Stimme. »Die Welt ist den beiden gleichgültig. Sie hören und sehen nichts, nicht einmal ihren alten Hausarzt. Toll!«
»Hausarzt! Das sind Sie? Dann müssen Sie mir schleunigst sagen, wer die beiden sind.«
Torty antwortete indes nicht sofort. Der Schlaumeier wartete eine Weile, um dann mit um so mehr Wirkung zu sagen:
»Philemon und Baucis!«
»Unsinn! Ein bißchen zu vornehm und zu wenig antik, dieser Philemon und diese Baucis! Nein, Doktor, sagen Sie doch, wer sind die beiden?«
»Haben Sie nie in Ihrer Gesellschaft, in der ich nicht verkehre, vom Grafen und der Gräfin von Savigny gehört, als dem Muster fabelhafter ehelicher Treue?«
»Niemals! Von ehelicher Treue spricht man unter meinen Bekannten nicht viel.«
»Freilich«, meinte Torty, mehr als Antwort auf seine Gedanken, denn auf meine Wißbegier. »In Ihrer Welt, die auch die der beiden ist, schweigt man so mancherlei tot. Die beiden gehören in die Gesellschaft, und sie gehören auch nicht hin. Sie verleben beinahe das ganze Jahr in ihrem alten Schloß Savigny. Dereinst lief ein Gerücht über sie um, und seitdem ist der Name Savigny im Faubourg Saint-Germain vergessen.«
»Ein Gerücht? Welcher Art? Doktor, Sie müssen mir erzählen!«
»Was das Gerede anbelangt«, sagte Torty und nahm nachdenklich eine Prise. »Dieses Gerede hat man schließlich in das Reich der Fabel verwiesen. Es ist längst Gras darüber gewachsen. Und was die Liebesheirat betrifft, so wird, vermute ich, man den jungen Damen in V*** nicht allzuviel davon erzählen, obgleich solch Glück den hochehrsamen Müttern in der Provinz der Traum aller Träume für ihre Töchter ist.«
»Nannten Sie das Paar nicht Philemon und Baucis?«
»Ganz recht! Aber vielleicht nennen wir diese Baucis doch besser Lady Macbeth!« Dabei fuhr er sich mit dem gekrümmten Zeigefinger über seine Habichtsnase.
Nochmals bat ich so einschmeichelnd, wie ich es nur konnte: »Doktor, nun erzählen Sie mir aber endlich die Geschichte!«
»Der Arzt ist auch der Beichtvater der Neuzeit«, begann Torty feierlich. »Er ist an die Stelle des Priesters getreten. Und so muß er die Geheimnisse seiner Beichtkinder wahren wie ein Priester.« Dabei sah er mich verschmitzt an, denn er kannte meine Vorliebe für den Katholizismus, dessen Feind er war. Er lachte. Er hielt mich für überwunden. »Na, ich will es also wahren wie – ein Priester! Kommen Sie!« Wir gingen ein Stück die große Allee hin. Nachdem wir uns dort auf eine Bank mit grüner Lehne gesetzt hatten, begann Torty: »Ich muß weit zurückgreifen. Es war in den ersten Jahren nach der Restauration des Königtums. Da kam ein Garderegiment durch V***, das aus irgendeinem militärischen Grund zwei Tage in der Stadt verblieb. Die Offiziere hatten den Einfall, der Stadt zu Ehren ein Fechterfest zu veranstalten. Die Stadt war dieser Ehre würdig. ›Königstreuer als der König‹, hieß es damals von ihr. Unter ihren fünf- bis sechstausend Einwohnern wimmelte es von Adligen. Ein paar Dutzend junger Leute aus den ersten Familien dienten in der Garde. Man kannte die einquartierten Offiziere allesamt. Und noch etwas anderes hatte das kriegerische Fest angeregt. Das war der alte Ruf der Stadt, die ehedem La bretteuse (die Raufboldin) benamst war und auf diesen Namen auch zurzeit noch einen gewissen Anspruch hatte. Wohl hatte der Umsturz von 1789 den Adel seines Rechts beraubt, den Degen zu tragen. In V*** bewies man, daß man ihn sehr gut zu führen verstand, wenn man ihn auch nicht tragen durfte. Das Fechterfest fiel glänzend aus. Die guten Klingen der ganzen Gegend scharten sich. Dazu eine Menge Liebhaber, insbesondere das jüngere Geschlecht, das diese schwierige Kunst nicht so pflegte, wie man es ehedem getan. Die jungen Leute begeisterten sich derartig für die Waffe, die ihren Vätern so viel Ruhm eingetragen hatte, daß es dem alten Fechtmeister des Regiments, der die drei- bis vierfache Dienstzeit hinter sich hatte und mit Schrammen bedeckt war, in den Sinn kam, in V*** eine Fechtschule aufzutun. Das dünkte ihn eine gute Zuflucht auf seine alten Tage zu sein. Er meldete seinen Plan dem Obersten. Der war damit einverstanden und verschaffte ihm den Abschied. Der Gedanke des Fechtmeisters – er hieß Stassin und mit dem Spitznahmen ›Der Aufspießer‹ – erwies sich als einfach großartig. Es gab seit langem in V*** keinen rechten Paukboden mehr, zum Leidwesen des Adels. Entweder mußten die alten Herren ihren Söhnen selber das Fechten beibringen oder sie durch irgendwelchen fahrenden Gesellen unterrichten lassen, der meist sein Handwerk schlecht oder gar nicht verstand.
Sie wollten keine Stümpfer sein, die guten Leute von V***. Sie hegten das Heilige Feuer. Es genügte ihnen durchaus nicht, einen Gegner einfach ins Jenseits zu befördern. Dies mußte auch nach wissenschaftlichen, kunstgerechten Regeln geschehen. Es kam ihnen vor allem darauf an, daß man ein eleganter Fechter war. Grobe Draufgänger, so gefährlich sie einem als Gegner sein können, standen bei ihnen in tiefster Verachtung. Stassin führte eine feine Klinge. Dazu gehört nicht bloß Schule, sondern Anlage. Stassin war in seiner Jugend ein schöner Mann gewesen und war es noch. Er hatte alle Fechtmeister seiner Zeit geschlagen und manchen Preis davongetragen. Begreiflicherweise war ganz V*** voller Bewunderung für ihn. Mehr noch. Nichts gleicht Standesunterschiede mehr aus als der Degen. Ehedem adelte der König den Mann, der ihn gelehrt hatte, ihn zu führen. War es nicht Ludwig der Fünfzehnte, der seinem Fechtmeister Danet – er hat uns ein Buch über die Fechtkunst hinterlassen – ein Wappen mit vier Lilien zwischen zwei gekreuzten Degen verliehen hat? Angesichts eines so königlichen Beispieles ließen die braven Provinzedelleute von V*** sich nicht lumpen. Es dauerte nicht lange, so behandelten sie den alten Fechtmeister ganz als ihresgleichen.
So weit ging alles vorzüglich. Stassin war wirklich ein Glückspilz. Aber das Unglück kam nachgehinkt. Es zeigte sich, daß unter dem rotledernen Brustpanzer, den der alte Meister in den Fechtstunden trug, noch ein sehr junges Herz schlug. Und dieses Herz spielte ihm einen Streich, ausgerechnet in V***, wohin er sich wie in einen Hafen zurückgezogen hatte.
Als napoleonischer Soldat war er in aller Herren Ländern herumgekommen. Überall hatte er die hübschen Mädels, die ihm der Teufel über den Weg geführt, ohne Ausnahme abgeküßt, in die Arme genommen und wieder laufen lassen. Und das Ende vom Liede war, daß er, über die Fünfzig hinaus, in aller Form, standesamtlich und mit dem Segen der Kirche, eine der Jungfrauen der guten Stadt V*** ehelichte. Neun Monate später – alles richtig auf Tag und Stunde – schenkte sie ihm ein Kind, ein Mädchen. Das ist das Götterweib geworden, das uns vorhin beim Vorübergehen so großartig übersehen hat. Das war die Tochter des alten Fechtmeisters.«
»Die Gräfin von Savigny!« rief ich erstaunt.
»Jawohl, die Gräfin von Savigny höchstselbst! Wer wird nach dem ›Woher?‹ fragen! Das darf man weder bei Frauen noch bei Völkern. Niemals nach der Wiege forschen! In Stockholm habe ich mir die von Karl dem Zwölften einmal angesehen. Sie sieht aus wie eine rot angestrichene Pferdekrippe und wackelte auf allen vier Beinen. Und was für ein Haudegen ist da herausgekrochen! Ich meine, alle Wiegen sind kleine Ställe, die gar nichts Romantisches an sich haben, wenigstens nicht, solange das Kind noch drinnen liegt.«
Der Doktor bekräftigte seine kernige Rede, indem er sich mit seinem Lederhandschuh auf seinen festen Schenkel schlug. Dann machte er eine Pause. Da ich seiner Weltanschauung nichts entgegenzusetzen hatte, fuhr er nach einer kleinen Weile fort:
»Alte Soldaten sind immer in Kinder vernarrt, und wenn es fremde sind. Stassin war es in das seine. Das ist nichts Verwunderliches.
Stassins erste Sorge war, seinem Kinde einen Paten unter den Adligen auszusuchen, die bei ihm aus- und eingingen. Er wählte den Grafen von Avice, den ältesten aller der vornehmen Kenner der Waffen und der Welt, der während der Emigration in London selber Fechtunterricht erteilt hatte, die Stunde zu ein paar Talern: Dieser Graf von Avice, Ritter des Ludwigsordens und Rittmeister a. D., war jetzt mindestens ein Siebziger. Gleichwohl übertrumpfte er noch immer alle jungen Fechter. Er schätzte Stassin ungemein und duzte sich sogar mit ihm. ›Die Tochter eines Mannes wie du‹, sagt er, ›muß unbedingt den Namen eines Heldenschwertes tragen. Wir werden sie Haute-Claire (Alte- Klare) taufen lassen.‹ Und so geschah es auch, trotz der Widerrede des Pfarrers, der einen so ungewöhnlichen Namen noch nie an seinem Taufbecken ausgesprochen hatte. Da aber der Graf von Avice Taufpate war und trotz aller Stänkereien der Liberalen unzerstörbare Bande zwischen dem Adel und der Geistlichkeit ewiglich bestehen, und da überdies im katholischen Kalender eine heilige Claire verzeichnet ist, so ging der Name von Oliviers berühmtem Schwert auf das Kind über, ohne daß sich die Stadt darob besonders aufregte.
Ein solcher Name birgt in sich ein besonderes Schicksal. Der Fechtmeister, der seine Kunst beinahe ebenso lieb hatte wie seine Tochter, beschloß, sie im Fechten zu unterweisen und ihr seine Künste als Mitgift zu hinterlassen. Eine magere Mitgift in unserer anspruchsvollen Zeit! Sobald die Kleine stehen konnte, fing er die Übungen mit ihr an. Und da sie Gliedmaßen wie aus Stahl hatte, entwickelte sich ihr Körper so rasch und so wundervoll, daß sie mit zehn Jahren für fünfzehn gehalten wurde. Bald nahm sie es im Fechten mit ihrem Vater und mit den besten Fechtern von V*** auf. Überall redete man von der kleinen Haute-Claire Stassin und später von dem Fräulein Haute-Claire Stassin. Am neugierigsten waren natürlich die jungen Damen der Stadt, die selbstverständlich mit der Tochter eines Fechtmeisters nicht verkehrten, wenn er auch noch so nett von ihren Vätern behandelt wurde. In ihre Neugier mischte sich ein gut Teil Neid und Gehässigkeit, denn ihre Väter und Brüder redeten voller Bewunderung und Entzücken von diesem heiligen Georg in Weibesgestalt als dem Inbegriff von Schönheit und Fechterkunst zugleich. Diese Neugierigen hätten sich Haute- Claire gern einmal recht in der Nähe angesehen, aber sie bekamen sie nur aus der Ferne zu Gesicht.
Ich kam damals gerade nach V*** und war nicht selten Zeuge dieser Neugier. Stassin verdiente mit seiner Fechtschule ein Heidengeld. Jetzt leistete er sich ein Reitpferd und gab seiner Tochter Reitstunden. Übrigens ritt er auch für seine adeligen Schüler junge Pferde zu. So begegnete man ihm in der Umgegend der Stadt oft, hoch zu Roß, seine Tochter an der Seite. Ich bin den beiden oft in den Weg gekommen, wenn ich von meinen Krankenbesuchen heimkehrte.
Haute-Claire war für das Reitkostüm wie geschaffen. Dabei bekam man ihren Wuchs zu sehen, niemals aber ihr Gesicht, das immer ein dichter dunkelblauer Schleier verbarg. Tatsächlich kannten kaum die Männer der Stadt das junge Mädchen von Angesicht. Den ganzen Tag über hatte sie im Fechtsaal zu tun, das Florett in der Hand und die Fechtmaske vor dem Gesicht, die sie selten abnahm. Ihr Vater war mit der Zeit ein wenig steif geworden, und so vertrat sie ihn oft in den Stunden! Zum Ausgehen hatte sie selten Zeit. Aber wenn sie auf die Straße ging oder auch sonntags in die Messe, trug sie einen undurchdringlichen Schleier, einen aus schwarzer Spitze, der ihr Antlitz vollständig verhüllte. War dies ein selbstgefälliges Versteckspiel, um neugierige Seelen zu ärgern? Möglicherweise. Wer konnte das sagen? Schließlich war ihr Wesen – wie Sie noch sehen werden – bei weitem unergründlicher als ihr Gesicht hinter der Maske.
Ich überspringe tausend Einzelheiten, um zu der Zeit zu gelangen, wo meine eigentliche Geschichte beginnt.
Haute-Claire war ungefähr siebzehn Jahre. Der ehedem so unverwüstliche Fechtmeister war stark gealtert, seine Frau gestorben. Die Julirevolution hatte sein Geschäft schwer geschädigt. Sein Fechtsaal war vereinsamt, denn der Adel hatte sich trauernd auf seine Schlösser zurückgezogen. Den Alten plagte die Gicht, wenn er es sich auch nicht anmerken lassen wollte. Für mich, den Arzt, war es klar, daß Stassins Tage gezählt waren. Da führten ihm eines Tages zwei seiner Schüler einen jungen Standesgenossen zu, der im Ausland erzogen und erst neuerdings heimgekehrt war, um nach dem Ableben seines Vaters den väterlichen Besitz zu verwalten. Es war der Graf Serlon von Savigny, der ›Zukünftige‹ – wie man in V*** sagt – einer jungen Dame der Gegend, der Delphine von Cantor. Der Graf gehörte unbedingt zu den glänzendsten und schneidigsten jungen Männern von damals, die allesamt Mumm in den Knochen hatten. Ja damals, da gab es noch eine wirkliche Jugend, damals in der guten alten Zeit.
Man hatte dem Grafen viel von der berühmten Haute-Claire Stassin vorgeschwatzt. Sie sei das Wunder eines jungen Mädchens, rassig, verwegen und verteufelt verlockend in ihrem Seidentrikot und ihrem engen schwarzen Ledermieder, eine Gestalt wie die Pallas von Velletri, nur sehr ernst. Savigny sah ihr zu, wie sie ihre Stunde gab. Dann bat er sie, die Klinge mit ihm zu kreuzen. Das Waffenglück lächelte ihm nicht. Haute-Claire bog ihre Waffe ein paarmal auf der Brust des schönen Serlon, während kein einziger Stoß sie berührte.
›Sie sind unnahbar!‹ meinte er galant. War das doppelsinnig? War die Sinnlichkeit stärker in ihm als seine Eigenliebe? Tatsache aber war es, daß Savigny fortan Tag um Tag eine Fechtstunde auf Stassins Paukboden nahm. Kein Mensch fand das auffällig. Er kam regelmäßig von seinem nur ein paar Wegestunden entfernten Schloß, zu Pferd oder im leichten Wagen, ohne daß sich in dem alten Klatschnest auch nur eine Zunge gerührt hätte. Die Liebhaberei für die Fechtkunst erklärte alles. Savigny war verschlossen. Übrigens wußte er es so einzurichten, daß er stets allein Unterricht hatte. Er war ein gerissener Junge. Was zwischen ihm und Haute-Claire vorging, wenn überhaupt etwas vorging, das wußte oder ahnte keiner. Seine Heirat mit Delphine von Cantor war seit Jahren eine abgemachte Sache zwischen den beiden Familien. Sie sollte in einem Vierteljahr stattfinden. Die letzten vier Wochen verbrachte Savigny gänzlich in V***. Er widmete sich tagsüber seiner Braut; abends ging er regelmäßig in seine Fechtstunde. Das Brautpaar ward in der Kirche aufgeboten. Haute-Claire hörte, wie die Namen verlesen wurden, aber weder Gesicht noch Haltung von ihr verrieten irgendwelche Teilnahme an diesem Aufgebot. Allerdings dachte keiner daran, sie zu beobachten. Noch fiel es niemandem im Traum ein, eine Liebschaft zwischen Savigny und der schönen Haute- Claire zu wittern. Nach der Trauung zog sich das gräfliche Paar nach Schloß Savigny zurück. Die Gräfin richtete sich in aller Ruhe ein, und Savigny erschien nach wie vor in der Stadt und auf dem Fechtboden. Übrigens machten es seine Standesgenossen im Umkreis alle so.
Die Zeit floß dahin. Stassin starb. Die Fechtschule war eine Zeitlang geschlossen. Dann öffnete sich ihre Pforte wieder. Fräulein Haute- Claire Stassin machte bekannt, daß sie die Schule ihres Vaters weiterführte. Bald hatte sie mehr Schüler denn je. Die Männer sind immer und überall die gleichen. Am eigenen Geschlecht mißfällt ihnen das Außergewöhnliche; das verletzt sie. Steckt es indes in einem Weiberrock, so sind sie toll dahinterher. In Frankreich besonders. Wenn dort eine Frau einen männlichen Beruf ausübt, und wäre er noch so elendlich, so wird sie ohne weiteres dem Mann vorgezogen. Bei Haute-Claire kam dazu, daß sie ihre Sache zehnmal besser verstand als ein Mann. Sie war eine unvergleichliche Lehrmeisterin. In ihrer Kunst war ihr nicht beizukommen. Aber auch ohne ihre besonders an einer Frau wunderbare Befähigung, die ihr ein vornehmes Leben ermöglichte, war sie ein fesselndes Geschöpf. Ihr Beruf erheischte es, daß sie täglich mit den reichsten jungen Leuten verkehrte, unter denen sich mancher Schwerenöter und Tunichtgut befand. Trotzdem blieb ihr Ruf ohne Tadel. Man konnte ihr nichts nachsagen. ›Sie ist eine anständige Person‹, sagten die Damen von ihr. Auch ich war in der Hinsicht auf Haute-Claires Tugend derselben Meinung wie die ganze Stadt. Und ich bilde mir doch etwas auf meine Beobachtungsgabe ein. Ich kam hin und wieder in ihren Fechtsaal, und immer fand ich da ein junges Mädchen, das in ernster und natürlicher Art seine Stunden gab. Sie verstand aufzutreten. Jedermann hatte Respekt vor ihr. Sie war zu keinem vertraulich oder nachlässig. Ihr Gesichtsausdruck war sehr stolz, aber noch ohne jene Glückseligkeit, die Sie vorhin so ergriffen hat. In ihren Zügen lag nichts von Kummer oder Zerstreutheit oder sonstwas, woraus man auch nur im geringsten auf das unerwartete Ereignis hätte schließen können, das wie ein Blitzstrahl die kleine Stadt in Brand setzte. Eines Tages war Fräulein Haute-Claire Stassin spurlos verschwunden.
Wohin war sie? Warum war sie weg? Keiner wußte es. Fort war sie. Das war sicher. Erst ein Schrei des Entsetzens. Dann ein Stillschweigen. Und dann brach es los. Die Zungen, die lange zurückgehaltenen, kamen nicht wieder zur Ruhe, wie das Wasser, das wütend über ein Mühlrad schäumt, sobald die Schützen geöffnet sind. War das ein Tuscheln und Schwatzen! Denn Haute-Claire war verschwunden, ohne ein Wort der Andeutung vorher oder der Erklärung hinterher. Spurlos. Wie man sich eben entfernt, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes verschwinden will. Wer etwas, und sei es das geringfügigste Nichts, hinterläßt, woran die lieben Nächsten sich Aufschluß suchend klammern können, der verschwindet nicht richtig. Haute-Claire aber war es völlig. Sie hatte sich nicht etwa sozusagen heimlich aus dem Staube gemacht; denn sie hinterließ ebensowenig Schulden wie sonstwas. Aber sie wirbelte Staub auf mit ihrer unfaßlichen, ungeahnten Tat. Die Zungen rasteten nicht. Man hatte keinen Anhalt. Man suchte und ward immer gehässiger. Haute-Claires Ruf ward arg zerzaust. Sie, die Unnahbare und Tadellose, mit wem war sie durchgegangen? Wer hatte sie entführt? Denn das war klar, daß sie jemandem zuliebe auf- und davongegangen war. Niemand gab Antwort. Die Kleinstädter verloren vor Wut den Verstand, und gründlich. Die guten Leute hatten auch allen Grund, aufgebracht zu sein. Man hatte geglaubt, Haute- Claire zu kennen. Nun stellte es sich heraus, daß man keine Ahnung von ihr gehabt hatte; denn das hatte ihr doch niemand zugetraut, so zu verschwinden. Man hatte gemeint, sie werde eines Tages heiraten oder eine alte Jungfer werden, wie andere auch. Und schließlich verlor man mit ›dieser Stassin‹, wie man sich nur noch ausdrückte, einen weit und breit berühmten Fechtsaal, eine Zierde und Ehre der Stadt. Solch ein Verlust war schwer zu verschmerzen. Man hatte somit genug Grund, das Andenken dieser untadeligen Haute-Claire mit den gemeinsten Verdächtigungen zu besudeln. Man tat sich dabei keinerlei Zwang an. Außer ein paar alten hochvornehmen Herren, darunter ihr gräflicher Pate, die Haute-Claire hatten heranwachsen sehen und die sich grundsätzlich nicht aufregten, verteidigte niemand die Entschwundene, fand es niemand ganz natürlich, daß sie gewiß eine bessere Versorgung vorgezogen hatte. Mit ihrem Streich hatte sie die ganze Stadt in ihrer Eitelkeit gekränkt. Am meisten grollten ihr die jungen Leute. Sie erbosten sich vor allem gegen sie, sintemal sie mit keinem von ihnen durchgegangen war. Lange war dies ihr größtes Leid, ihr größter Kummer. Wer war der Glückliche, dem sie gefolgt war? Viele verbrachten regelmäßig den Winter in Paris. Der und jener wollte sie dort gesehen haben, im Theater, in den Champs-Elysees, zu Pferde, in Gesellschaft oder allein. Sie waren indes ihrer Sache nicht ganz sicher; beschwören konnte es keiner. Vielleicht war sie es gewesen, vielleicht aber auch nicht. Man beschäftigte sich unausgesetzt mit ihr. Sie war unvergeßlich.Wie hatte man sie einst bewundert! Wer das Florett liebte, der trauerte. Die große Meisterin, die Sonne, war entschwunden. Nach ihrem Verlöschen versank V*** in den Stumpfsinn und die Eintönigkeit aller Kleinstädte, die keinen lebendigen Mittelpunkt haben, wo Liebhabereien und Neigungen zusammenlaufen.
Die Waffenliebe schlief ein. Die bisher durch ihre kriegerische Jugend so lebhafte Stadt wurde öde. Die jungen Leute griffen zum Gewehr. Sie wurden Jäger und blieben auf ihrem Grund und Boden. Savigny genauso wie die anderen. Er kam immer seltener in die Stadt, höchstens in die Familie seiner Frau, deren Arzt ich war. Ich argwöhnte damals nicht im geringsten, daß irgendein Zusammenhang zwischen ihm und Haute-Claires plötzlichem Verschwinden bestehen könnte. Allmählich schwieg man über den Fall. Ich hatte also keine Veranlassung, die Sache vor Savigny zu erwähnen. Er sagte auch nie ein Wort, weder über Haute-Claire noch über jene Zeit, wo wir einander im Fechtsaal begegnet waren.«
»Aha!« unterbrach ich den Doktor. »Da liegt der Hase im Pfeffer! Savigny hatte sie entführt!«
»Bewahre! So einfach war die Sache denn doch nicht! Aber Sie können nicht darauf kommen. Erstens ist in der Provinz eine geheime Entführung äußerst schwierig. Und dann war der Graf seit einer Verheiratung aus seinem Bau gar nicht herausgekommen.
Alle Welt wußte, daß das gräfliche Paar in vertrautem Beieinander in endlosen Flitterwochen lebte. In einer kleinen Stadt weiß und kennt man bekanntlich alles. Savigny galt als das Muster eines Ehemannes. Ich hätte die fromme Sage vielleicht selber bis an mein Lebensende geglaubt, wenn ich nicht – es war ungefähr ein Jahr nach Haute-Claires Verschwinden – dringlichst nach dem Schloß gerufen worden wäre, weil die Gräfin krank sei. Ich ritt spornstreichs hin und ward sofort zu ihr geführt. Ich fand sie tatsächlich sehr leidend, in einem schwer bestimmbaren, vieldeutigen Zustand, der tausendmal schlimmer ist als eine ausgesprochene Krankheit. Sie gehörte zu jenen kraftlosen, eleganten, vornehmen, hochmütigen Frauen aus altem Geschlecht, die in ihrer Blässe und Magerkeit einem gleichsam sagen: ›Die Zeit hat mich überwunden wie alle meinesgleichen. Ich sterbe, aber ich verachte euch alle miteinander!‹
Ich bin gewiß bis in die Knochen ein Kind des Volkes, und es widersprach meiner Weltanschauung, aber der Teufel soll mich holen, ich fand das erhaben! Die Gräfin lag auf einem Ruhebett. Es stand in einem Empfangszimmer mit schwarzem Balkenwerk und weißen Wänden. Der Raum war weit und hoch, und man blickte auf allerhand Antiken, die dem Kunstsinn derer von Savigny zu hoher Ehre gereichen. Eine einzige Lampe erleuchtete das große Gemach. Ein grüner Schirm machte ihren Schein doppelt geheimnisvoll. Er fiel in das Gesicht der Gräfin und auf dessen fieberrote Flecken. Ihr war bereits seit einigen Tagen nicht wohl; und Savigny hatte neben dem Lager seiner geliebten Gattin ein Bett für sich aufschlagen lassen. Als indes das Fieber aller Sorgfalt zum Trotz beharrlich stieg, da hatte er schließlich nach mir geschickt. Er stand da, mit dem Rücken an den Kamin gelehnt, bekümmert und unruhig, so daß ich annehmen mußte, er liebe seine Frau zärtlich und glaube sie in Gefahr. Indes galt die Besorgnis, die seine Stirn umdüsterte, nicht seiner Frau, sondern einer, die ich unmöglich im Schloß Savigny vermutete, deren Anblick mich deshalb beinahe zur Bildsäule erstarren ließ, der Haute-Claire Stassin.«
»Donnerwetter, das ist toll!«
»So toll, daß ich glaubte, ich sei im Traum. Die Gräfin hatte vor meiner Ankunft ihre Kammerfrau beordert, ihr eine Arznei zu bringen. Jetzt bat sie ihren Mann, der Dienerin zu klingeln. Die Tür ging auf.
›Eulalia, meine Arznei?‹ fragte die Gräfin kurz und ungeduldig.
›Hier, Frau Gräfin‹, sagte eine mir bekannte Stimme. Und im nämlichen Augenblick trat aus dem Dunkel des Gemaches in den Lichtkreis der Lampe Haute-Claire Stassin, wirklich und leibhaftig. Sie hielt in ihren schönen Händen ein silbernes Brettchen mit einer Schale voll dampfender Arznei. Der Anblick benahm mir beinahe den Atem. Eulalia! Zum Glück sagte mir dieser gelassen ausgesprochene Name alles. Ich hatte sofort meine Kaltblütigkeit wieder und meine Zurückhaltung als Arzt und Beobachter. Aus Haute-Claire war also Eulalia geworden, die Zofe der Gräfin von Savigny! Ihre Verkleidung, soweit ein solches Wesen sich verkleiden kann, war tadellos. Sie ging in der Tracht, wie sie die Hausmädchen in V*** tragen; sie trug eine turbanartige Haube und an den Wangen herunterhängende Korkzieherlocken. Die Pfaffen von dazumal nannten diese Art Locken ›Schlangen‹, um dem jungen Volk Abscheu davor einzuflößen, was ihnen indes durchaus mißlang. Haute- Claires Schönheit war hinter so viel Demut gebannt, und ihre Überlegenheit verbarg sich derart in ihrem niedergeschlagenen Blick, daß ich mir sagte: Was bringen die Weiber mit ihren Schlangenleibern nicht alles fertig, wenn sie der Teufel dazu treibt! Im übrigen war ich sofort wieder Herr meiner selbst. Nur wollte ich dem kühnen Geschöpf zu verstehen geben, daß ich sie erkannt hatte. Während die Kranke langsam ihre Arznei aus der Schale schlürfte, richtete ich meine Augen fest auf Haute-Claire, als wollte ich die ihren durchbohren, die an diesem Abend sanft wie Rehaugen blickten. Sie hielt besser stand als vorhin die Pantherin. Sie zuckten nicht. Nur an ihren Händen bemerkte ich ein kaum merkliches Beben.



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