Der freie Fall
Karl hatte auf Verdacht
zwei Theaterkarten für das Schauspiel 'Die Leiden des jungen
Werther' besorgt, für sich und seine um ein Jahr jüngere, besonders
attraktive Cousine Betty. Diese war kurz zu Besuch aus dem hohen
Norden. Gerade saßen sie am Abendtisch. Sein Vater spürte
instinktiv die wachsende Intimität zwischen den beiden und moserte
herum, es gäbe sehr wohl Grenzen. Betty wurde knallrot im Gesicht
und zog sich reflexartig aus Scham den Pulli hoch über das Gesicht.
Karl starrte sie überrascht an, diese hatte nur ein dünnes Hemdchen
drunter.
Der Vater, eigentlich
ein durchschnittlicher Kleinbürger mit Hang zur Gemütlichkeit, war
auch in anderer Hinsicht streng und intolerant. Karls Schwester hatte
schon als 17jährige nach einer Beziehung zu einem französischen
Soldaten eine weitere mit einem Ami angefangen, ebenfalls Militär.
Das wurde den Eltern gegenüber unter großer Angst verheimlicht.
Vater polemisierte, erzählte hin und wieder Geschichten über
sitzengelassene Pfälzer Mädchen, natürlich schwanger, aber auch
sehr ernsthaft von Vergewaltigungen im Krieg. Karls bester Freund
Andy war schwarzhäutig und ebenso schicksalsbehaftet. Die Geschichte
dahinter war ihm bekannt, dessen Vater starb im Vietnamkrieg, wurde
aber unter ihnen nie thematisiert. Andy und Karl strebten nach
Abschluß ihrer Lehre über den 2. Bildungsweg ein Studium an.
Betty willigte später
am Abend bzgl. des Theaters ein. Mit einem schönen Lächeln. Sie
würde gern mal gemeinsam mit Karl dichten, stellte sie zudem fest.
Betty wußte aufgrund ihres relativ intensiven Briefverkehrs um seine
literarische Neigung, das war selbst zu Anfang der 80er Jahre
ungewöhnlich.
Am
folgenden Abend sah sie im schwarz-glitzernden, kurzen Kleid
phantastisch aus, ihre langen hellblonden Haare kontrastierten um die
Wette. Sie war sich ihrer Wirkung auf die Männer rundum bewußt,
witzelte, sie wäre auch gern mit Kimono gekommen. Betty ging auf ein
anspruchsvolles Gymnasium und sagte so Dinge wie, dass sie monokulare
Tiefenkriterien am Bühnenbild wahrnehme und außerdem beim
Kopfschuss den expressiven Ketchup an der weiß gekalkten Wand
vermisse. Nach Ende der Vorstellung zitierte sie launig Dostojewskij:
'Ohne Gott ist alles erlaubt'. Wie herum dachte sie das, fragte sich
Karl.
Sie gingen hinaus und
Betty kam repetitiv mit ihrem Hauptgedanken, sie wolle nur noch weg
aus dieser dunklen, verblendeten Tiefebene, sie wolle das gänzlich
Neuartige erleben, auch mal in der Disco eine Nacht durchtoben. Ein
Freund aus der lokalen Clique, den sie deswegen angerufen hatte, der
etwas zu klein geratene, aber muskulöse Harry, nahm sie beide
verbotenerweise trotz der kurzen Distanz auf einem größeren Mokick
mit zu einer beliebten Szenedisco namens Inn. Für den völlig
unromantischen Harry war es undenkbar, einen Spaziergang zu machen.
Betty umklammerte Karl fest von hinten, er spürte ihre Brüste, roch
ihr Parfum.
Sie setzten sich zu
dritt etwas abseits an einen Tisch in eine Nische. Momentan wurden
ruhige Lovesongs gespielt. Karl legte behutsam seine '100 Jahre
Einsamkeit' auf den Tisch. Betty und Karl schrieben wechselnd wie im
Spiel auf kleinen Zetteln.
Karl begann: Und die Jugend sucht
Zuflucht vor der Realität in höhlenartigen geschlossenen Räumen,
wie ein Embryo im Mutterleib.
Und sie stehen, sitzen
da und geben vor etwas Besonderes zu sein und sind doch einsam.
Wo ist die Liebe?
In Ekstase sich
windend, den Gott Rhythmus anbetend, mit verblendeter Eitelkeit,
eingehend in das Reich der illusionären Zurschaustellung seines
Ichs.
Kontakt suchend findet
man ihn, ist das Erlebnis ein kurzer Rausch.
Jugend, was suchst Du?
Leben oder erleben?
Rausch oder Selbstzerstörung? Mündet das alles nicht in einen Akt
des absoluten Treibenlassens im Strom?
Die Musik begann wieder
zu hämmern. Betty lachte schrill. Karl fühlte sich zunehmend
unwohl.
Harry brachte nach
einer kleinen Ewigkeit die Getränke vom Tresen, sie nippte
vorsichtig am Cuba Libre und ging tanzen, ließ den unwilligen Karl
allein mit den Zetteln und seiner lateinamerikanischen Literatur, und
kam auch nach einer halben Stunde nicht wieder. Karl fand sie und
Harry nicht mehr im Inn, versuchte seine negativen Emotionen in ein
silberumrahmtes Portrait eines jungen Schauspielers an der Wand
hineinzudrängen, abzulegen, bezahlte die durchaus heftige
Gesamtrechnung und ging die gut 5 km bei Nieselregen zu Fuß nach
Hause.
200 Meter vor dem
Elternhaus stand Betty pudelnaß mit heftig blutender Nase und schien
auf ihn zu warten. Sie schimpfte: „Harry hat es bei mir verschissen
bis zur nächsten Eiszeit, verdammt, so ein Arsch!“
„Was ist denn
passiert?“
Betty stammelte, „Ja
Gott, gibt es ihn überhaupt? Zwischen mir und Harry entwickelte es
sich rasend schnell, Gefühle, Power-Farben, Drive. Ich verließ mit
ihm die Disco und wir gingen rüber zur Tankstelle, um noch Bier zu
besorgen, aber schon vorher im Dickicht zwischen den Bäumen wollte
er schnellen Sex, und ich wollte den Kick, den freien Fall. Dann
wurde mir plötzlich schlecht, dachte an unaufgeklärte Femizide,
wehrte mich heftig. Da schrie er mich an: 'Bist Du schizo?', schlug
auf meine Nase und haute ab.
Karl erschrocken: „Und
jetzt? Was ist mit der Polizei?“
"Ach was...", sie
wirkte nun stark durcheinander, zog angestrengt die Stirn in Falten,
"...ich hab irgendwie meinen Slip verloren. Kann ich zu Dir? In
Dein Zimmer?"
Karl presste es
unheilig den Magen zusammen. Er gab ihr konsterniert seine
Tempopackung, ihre Blutung ließ schnell nach. Karl schaute auf seine
Uhr und dachte, gleich hab ich Geburtstag.