Der Eiffelturm
Einmal,
am Abend, stand der König am Fenster und schaute über seine Länder.
Ein Vogel kam, setzte sich neben ihn auf das steinerne Fensterbrett.
Der Vogel schüttelte die Federn.
„König,
was schaust du?“
„Nun,
ich gucke aufs Land, wie du siehst, schau mir die Felder an, die Wege
usw.“
Der
König stand da und schaute.
„Ja,
König, ein schönes Land hast du. Auch mir gefällt es. Aber hast du
schon mal was selbst gemacht? Ich meine, das Land, das hast du doch
nur geerbt.“
Der
König stutzte. Was soll das? Was meint der Vogel? Der König wollte
sprechen, er fand jedoch keine Worte, denn ihm war nicht klar, worauf
der kleine Vogel da hinaus wollte.
Der
kleine Vogel fuhr dann selbst fort: „König, ich meine, die Felder,
die Wege usw., das hast du doch alles nur geerbt.“
Der
Vogel machte eine kleine Pause. Noch immer war nichts klar, und der
König lehnte einen Arm auf das Fensterbrett, sah den Vogel fragend,
aber auch stirnrunzelnd an.
"König",
sprach der, "ich meine, du verwaltest das Ganze, das alles, doch nur."
Wieder
eine Pause. Jetzt öffnete der König den Mund. Aber bevor er
sprechen konnte, sagte der Vogel: "Hast du jemals etwas selbst
gemacht, ich meine, klar, du verwaltest das Reich, das ist auch
Arbeit, ich erkenne das an, sogar verwaltest du mit einem gewissen
Erfolg, klar, ich will nicht ungerecht sein, ich erkenne das sogar
mit einem - warum nicht? - mit einem dicken Bravo an (der König nickte
zustimmend, erleichtert und entspannt), die Frucht deiner Felder
gedeiht gut, deine Wege werden, weil sie ohne Löcher sind, gern
befahren (der König nickte wieder, entspannt), das Holz deiner
Wälder verkaufst du mit Gewinn usw. usw. Aber, mein Lieber, mein
König, was Großes, was Eigenes, ein eigenes Königreich, meine ich,
ein eigenes Imperium, ich meine nicht geerbt, sondern selbst
erarbeitet, allein, von Anfang an, also, ich meine... Was wäre, wenn
du noch mal von ganz von vorne anfangen müsstest, so ohne was, ein
eigenes Imperium? Ich meine selbst gemacht, von Anfang an, alles,
also, so mein ich das.“
Nun
wandte sich der König ab. Und lachte in den Himmel.
„Aber,
ach“, rief er, „das gibt’s doch heute gar nicht mehr. Die Erde,
das Land, das ist doch alles längst verteilt. Wie sollte man da ein
neues Reich schaffen?“ Paff! Er schüttelte die Locken und zündete
sich eine Zigarette an. Er blies den Qualm in die Luft und schüttelte
den Kopf. So stand er und schaute dabei noch immer in den Himmel. Der
Vogel, ein kleiner grauer, rückte näher heran, zischte nun mit
einer fast schon unsympathischen heißeren Stimme:
„Papperlapapp!
Von wegen Paff-Paff! Nichts Paff-Paff! Höre, König, höre! In
Südamerika, in einem wilden Land, da gibt es einen Berg, himmelhoch,
der ist innen mit Gold und Diamanten gefüllt. Fahre hin, miete dir
ein paar Nigger und buddel das Zeug raus. Das wird alles nicht
einfach sein, denn die Landschaft ist voller Ameisen, die Frauen
höhnisch und die Eisenbahn unpünktlich.“ Der Tabak in der
Zigarette des Königs knisterte. Der Vogel setzte nach: „Hier eine
Karte, ich hab dir alles angekreuzt.“ Ohne dass der König etwas
dagegen tun konnte, er konnte nichts dagegen tun, streckte er die
Hand aus, und nahm aus der Hand des Vogels die Karte. Heftig kam der
Rauch aus der Zigarette, trieb ihm Tränen in die Augen. Der kleine
mausgraue Vogel zischte weiter: „Eins ist klar, König, unweit des
Berges strömt der Fluss Urubamba, kurz hinterm siebten Wasserfall,
von Norden aus gesehen, liegt eine winzige Insel mit einem Baum
drauf. Die Insel ist steinig und der Baum unfruchtbar. Für deine
Zwecke also vollkommen uninteressant. Als Lohn und Dank für diesen
Tipp, gehört die Insel mir, hörst du, die Insel gehört mir, wenn
du da unten dein Imperium baust, dein Reich, dein eigenes, alles
kannst du haben, nur die Insel mit dem Baum ... Finger weg, klar?“
– „Klar“, sagte der König, er hustete, er hatte Mund und Nase
voll Rauch.
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Collage von Walter Brusius |
Der
König fuhr hin. Er sprach die Landessprache nicht, aber er wurstelte
sich durch. Die Frauen, die Ameisen, die Schwarzen und die
Eisenbahnen waren eine Qual. Aber der Berg war rasch gefunden und
eigenhändig trieb er den ersten Stollen hinein. Auch fuhr er die
erste Ladung Schätze selbst mit dem Kanu nach der Hauptstadt Quito.
Dann ging alles Schlag auf Schlag, bald baute er seine eigene
Eisenbahn, legte überall Gärten an, für die Bergarbeiter am
Stollen baute er Schießbuden, Reithallen und eine Oper. Er wurde
reicher und reicher, die Schätze des Berges schienen unerschöpflich.
Aber
der Vogel. Wo blieb der Vogel, warum kam der Vogel nicht und forderte
seinen Teil? Dem König fiel die Insel ein. Als er sie sah, ein
Haufen Steine mit Schlamm und Geröll, ein insektenzerfressener Baum,
schief, mit dürren Ästen, schien sie ihm schön, wunderbar, als der
schönste Teil seines neuen eignen Reichs und Imperiums. Gewiss sie
war nicht groß, eher winzig. Ein Schloss hätte da keinen Platz.
Selbst wenn er den alten wurmstichigen windschiefen Baum gefällt
hätte. Was überhaupt sollte man da bauen. Einen Turm? Eine
Jagdhütte? Einen Springbrunnen? Egal. Er wollte sie haben. Sie war
schon sein. Mit dem Helikopter ließ er sich rüber fliegen und
hängte erst mal eine Hängematte in den Baum. Doch kaum hatte er die
erste Schlaufe des Netze gebunden, im alten Geäst verhakt, da tat es
einen Paff, es zischte und bruzzelte, und aus einer Rauchschwade trat
der kleine Vogel. Er reckte den Hals und mit einer solch lauten und
grässlichen Stimme, dass es durch das ganze Tal donnerte, schrie er:
„Da, da, hab ich's mir doch gedacht, und da, du Arsch, da hast du
schon die Strafe!“
Peng!
Und da hatte der König seine Strafe, es war so schnell gegangen, von
einer Sekunde auf die andere, ach, was sage ich, so schnell, noch
viel schneller, dass der König gar nicht wusste, wie und was ihm
geschah. Er fühlte und sah, er steckte da irgendwie als Eisen, als
ein Bolzen in einem Gerüst. Ja, er war ein Eisen, in einem
Stahlgerüst und auf ihm lastete ein ungeheurer Druck, er stand unter
einer entsetzlichen Spannung. Jetzt fühlte er es ganz deutlich, er
war eingeklemmt zwischen zwei Eisenträgern, er steckte in diesem
Eisen, in dem Stahl, unbeweglich als handlanger Bolzen. Da wurde ihm
ganz anders zumute. Es wurde ihm mit Grausen wahr, er steckte in
einem Eisengerüst, oben in einem Turm, es war der Eiffelturm. Paris.
Verdammt, jetzt sah er es. Er steckte oben, ziemlich oben, oberes
Drittel. Der Vogel hatte ihn in einen lächerlichen Eisenbolzen
verwandelt, eine Niete, eine Eisenniete, 30 cm lang, 5 dick. Zusammen
mit Tausenden von anderen Bolzen, steckte er hier im Eisengerüst,
alles Nieten. Der König schüttelte sich, aber er saß fest. Er sah
es, auch die andern Bolzen waren alles Könige, Bankdirektoren etc.
gewesen, der ganze Eiffelturm wurde von gefangenen, zu Eisen und
Stahl verwandelten Königen zusammengehalten. Verdammt, Graus, der
ganze Eiffelturm war eine riesige Strafkolonie, überall steckten sie
in den Trägern, trugen, hielten, gefangen, reingehämmert, mit Lack
und Mennige drüber, wetterfest, trugen die ungeheure, über 200
Meter hohe Last, unbeweglich, hielten das riesige Ding zusammen,
Tausende von Tonnen, Stahl, Eisen, in schwindliger Höhe. Tag und
Nacht. Nie Feierabend. Immer nur halten. Tag und Nacht. Ewig. In
Paris. Und da kamen sie schon. Das war die Strafe: Unser König war
gleich neben der Treppe eingenietet. In einer Kurve. Auf der
Touristentreppe.
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Collage von Walter Brusius
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Da kamen die Frauen nach oben. Aus allen Herren
Ländern, schöne, exotische, braune, gelbe, rote, schwarze. Sie
schnauften und stöhnten, sie hatten von Anstrengung und Glück
gerötete Wangen, Gesichter, ihr Haar hatte sich im Wind gelöst, sie
lachten glücklich, denn sie waren in Paris, da waren die Tauben und
der Wind, von oben sah der König den Aufsteigenden in geöffnete
Mäntel und Blusen, gingen sie an ihm vorbei, roch er Parfüm und
Schweiß, Wolken, stiegen sie an ihm vorbei weiter nach oben, sah er
Hüften, Röcke, Strümpfe, Fersen, Stöckel, gingen sie noch weiter
nach oben, sah er ihnen nach, und er schaute in die Dunkelheit, die
Schenkel, er schaute in die dunkle, dunkle Tiefe unter den Röcken.
Sie gingen an ihm vorbei. Er sah sie, er roch sie. Aber er war
eingenietet in den Eisenbalken. Er kam nicht raus. Er konnte sie
nicht anfassen. Er kam nicht an sie ran. Er konnte sich nicht auf sie
stürzen. Er konnte sie nicht in eine Hängematte zerren. Aber er
hätte es gern. Und es brach ihm das Herz. Aber nur mental natürlich.
Denn sein Herz, sein wirkliches Herz, das war jetzt aus Eisen, und
unzerbrechbar, auf immer und ewig, unzerbrechbar aus Stahl
geschmiedet, prima Bolzeneisen, und wetterfest lackiert. C'est ca.
Ja,
das ist schlimm. Deshalb will ich auch noch ein bisschen
weitererzählen. Ist der König wirklich einmal müde vom Gucken, und
hält er es vor lauter Geilheit nicht mehr aus, und schaut er
woanders hin, ganz gequält, um sich abzulenken, dann sieht er durch
die Fächer im Gerüst auf die Stadt herab, sieht all die herrlichen
Boulevards, die vielen Restaurants, aber er kann ja nirgendwo
hingehen. Im Mund, wieder nur mental natürlich, hat er den Geschmack
von Wein und Austern, von Lakritzbonbons, mit dem Spazierstock
wirbelt er im Wind. Pustekuchen, nichts von alledem. All die bunten
Lichter werden nicht für ihn angeknipst. Er hat kein Ticket für den
Ausflugsdampfer, für die Metro oder die Pferderennbahn. Er hängt im
eisernen Gebälk, der Stift, der Bolzen. Aus ist es mit dem
Herrendasein. Jetzt wird gedient. Jetzt wird getragen. Meckern kann
er, aber es ändert nichts. Natürlich hat der König noch die
Alternative nach oben zu gucken, in den Himmel. Aber da sieht er das
Reich der Vögel. Unter den Wolken fliegen sie her, und wenn sie müde
sind, hocken sie auf dem Gerüst, kacken ab. Das will der König erst
recht nicht sehen. Das bringt unangenehme Erinnerungen. Natürlich
hat der König noch die Alternative in sich hinein zu sehen, nur
mental natürlich, aber da ist es so dunkel, wie es in Stahl nur
dunkel sein kann, und in der trostlosen Dunkelheit hört er unter all
der Anspannung sein Eisen knacken, und da wünscht er, dass es noch
lauter knackt, dass er auseinanderbricht, in Stücke bricht, dass es
aus ist mit ihm, dass er in Stücke bricht, und aus dem Gerüst nach
unten stürzt...
Aber das ist nur ein Traum, ein Wunsch, denn das
hier ist eine Geschichte, in der die Wünsche nicht in Erfüllung
gehen.
Der Autor
Walter Brusius arbeitet und lebt seit 1982 in Bad Kreuznach als freischaffender Maler und unterhält dort ein Atelier.
Er hat in Köln studiert. Vor etwa zehn Jahren begann er parallel zur Malerei Geschichten zu schreiben.
Im Eigenverlag sind bisher einige kleine Bücher erschienen und seit zwei Jahren seine Atelierhefte. Er verkauft sie im Atelier an einen kleinen interessierten Kreis und in einer dortigen Buchhandlung. Sie sind auch abonnierbar. Neben seinen Ausstellungen veranstaltet er regelmäßig Lesungen. Ziel ist, die Atelierhefte nicht selbst zu illustrieren, sondern andere Künstler in Form einer Koproduktion dazu einzuladen.