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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dichterhain, Bände 5 bis 8

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Samstag, 25. Februar 2012

Dichterhain: Der Eiffelturm von Walter Brusius


Der Eiffelturm

Einmal, am Abend, stand der König am Fenster und schaute über seine Länder. Ein Vogel kam, setzte sich neben ihn auf das steinerne Fensterbrett. Der Vogel schüttelte die Federn.
„König, was schaust du?“
„Nun, ich gucke aufs Land, wie du siehst, schau mir die Felder an, die Wege usw.“
Der König stand da und schaute.
„Ja, König, ein schönes Land hast du. Auch mir gefällt es. Aber hast du schon mal was selbst gemacht? Ich meine, das Land, das hast du doch nur geerbt.“
Der König stutzte. Was soll das? Was meint der Vogel? Der König wollte sprechen, er fand jedoch keine Worte, denn ihm war nicht klar, worauf der kleine Vogel da hinaus wollte.
Der kleine Vogel fuhr dann selbst fort: „König, ich meine, die Felder, die Wege usw., das hast du doch alles nur geerbt.“
Der Vogel machte eine kleine Pause. Noch immer war nichts klar, und der König lehnte einen Arm auf das Fensterbrett, sah den Vogel fragend, aber auch stirnrunzelnd an.
"König", sprach der, "ich meine, du verwaltest das Ganze, das alles, doch nur."
Wieder eine Pause. Jetzt öffnete der König den Mund. Aber bevor er sprechen konnte, sagte der Vogel: "Hast du jemals etwas selbst gemacht, ich meine, klar, du verwaltest das Reich, das ist auch Arbeit, ich erkenne das an, sogar verwaltest du mit einem gewissen Erfolg, klar, ich will nicht ungerecht sein, ich erkenne das sogar mit einem - warum nicht? - mit einem dicken Bravo an (der König nickte zustimmend, erleichtert und entspannt), die Frucht deiner Felder gedeiht gut, deine Wege werden, weil sie ohne Löcher sind, gern befahren (der König nickte wieder, entspannt), das Holz deiner Wälder verkaufst du mit Gewinn usw. usw. Aber, mein Lieber, mein König, was Großes, was Eigenes, ein eigenes Königreich, meine ich, ein eigenes Imperium, ich meine nicht geerbt, sondern selbst erarbeitet, allein, von Anfang an, also, ich meine... Was wäre, wenn du noch mal von ganz von vorne anfangen müsstest, so ohne was, ein eigenes Imperium? Ich meine selbst gemacht, von Anfang an, alles, also, so mein ich das.“
Nun wandte sich der König ab. Und lachte in den Himmel.
„Aber, ach“, rief er, „das gibt’s doch heute gar nicht mehr. Die Erde, das Land, das ist doch alles längst verteilt. Wie sollte man da ein neues Reich schaffen?“ Paff! Er schüttelte die Locken und zündete sich eine Zigarette an. Er blies den Qualm in die Luft und schüttelte den Kopf. So stand er und schaute dabei noch immer in den Himmel. Der Vogel, ein kleiner grauer, rückte näher heran, zischte nun mit einer fast schon unsympathischen heißeren Stimme:
„Papperlapapp! Von wegen Paff-Paff! Nichts Paff-Paff! Höre, König, höre! In Südamerika, in einem wilden Land, da gibt es einen Berg, himmelhoch, der ist innen mit Gold und Diamanten gefüllt. Fahre hin, miete dir ein paar Nigger und buddel das Zeug raus. Das wird alles nicht einfach sein, denn die Landschaft ist voller Ameisen, die Frauen höhnisch und die Eisenbahn unpünktlich.“ Der Tabak in der Zigarette des Königs knisterte. Der Vogel setzte nach: „Hier eine Karte, ich hab dir alles angekreuzt.“ Ohne dass der König etwas dagegen tun konnte, er konnte nichts dagegen tun, streckte er die Hand aus, und nahm aus der Hand des Vogels die Karte. Heftig kam der Rauch aus der Zigarette, trieb ihm Tränen in die Augen. Der kleine mausgraue Vogel zischte weiter: „Eins ist klar, König, unweit des Berges strömt der Fluss Urubamba, kurz hinterm siebten Wasserfall, von Norden aus gesehen, liegt eine winzige Insel mit einem Baum drauf. Die Insel ist steinig und der Baum unfruchtbar. Für deine Zwecke also vollkommen uninteressant. Als Lohn und Dank für diesen Tipp, gehört die Insel mir, hörst du, die Insel gehört mir, wenn du da unten dein Imperium baust, dein Reich, dein eigenes, alles kannst du haben, nur die Insel mit dem Baum ... Finger weg, klar?“ – „Klar“, sagte der König, er hustete, er hatte Mund und Nase voll Rauch.

Collage von Walter Brusius
Der König fuhr hin. Er sprach die Landessprache nicht, aber er wurstelte sich durch. Die Frauen, die Ameisen, die Schwarzen und die Eisenbahnen waren eine Qual. Aber der Berg war rasch gefunden und eigenhändig trieb er den ersten Stollen hinein. Auch fuhr er die erste Ladung Schätze selbst mit dem Kanu nach der Hauptstadt Quito. Dann ging alles Schlag auf Schlag, bald baute er seine eigene Eisenbahn, legte überall Gärten an, für die Bergarbeiter am Stollen baute er Schießbuden, Reithallen und eine Oper. Er wurde reicher und reicher, die Schätze des Berges schienen unerschöpflich.

Aber der Vogel. Wo blieb der Vogel, warum kam der Vogel nicht und forderte seinen Teil? Dem König fiel die Insel ein. Als er sie sah, ein Haufen Steine mit Schlamm und Geröll, ein insektenzerfressener Baum, schief, mit dürren Ästen, schien sie ihm schön, wunderbar, als der schönste Teil seines neuen eignen Reichs und Imperiums. Gewiss sie war nicht groß, eher winzig. Ein Schloss hätte da keinen Platz. Selbst wenn er den alten wurmstichigen windschiefen Baum gefällt hätte. Was überhaupt sollte man da bauen. Einen Turm? Eine Jagdhütte? Einen Springbrunnen? Egal. Er wollte sie haben. Sie war schon sein. Mit dem Helikopter ließ er sich rüber fliegen und hängte erst mal eine Hängematte in den Baum. Doch kaum hatte er die erste Schlaufe des Netze gebunden, im alten Geäst verhakt, da tat es einen Paff, es zischte und bruzzelte, und aus einer Rauchschwade trat der kleine Vogel. Er reckte den Hals und mit einer solch lauten und grässlichen Stimme, dass es durch das ganze Tal donnerte, schrie er: „Da, da, hab ich's mir doch gedacht, und da, du Arsch, da hast du schon die Strafe!“
Peng! Und da hatte der König seine Strafe, es war so schnell gegangen, von einer Sekunde auf die andere, ach, was sage ich, so schnell, noch viel schneller, dass der König gar nicht wusste, wie und was ihm geschah. Er fühlte und sah, er steckte da irgendwie als Eisen, als ein Bolzen in einem Gerüst. Ja, er war ein Eisen, in einem Stahlgerüst und auf ihm lastete ein ungeheurer Druck, er stand unter einer entsetzlichen Spannung. Jetzt fühlte er es ganz deutlich, er war eingeklemmt zwischen zwei Eisenträgern, er steckte in diesem Eisen, in dem Stahl, unbeweglich als handlanger Bolzen. Da wurde ihm ganz anders zumute. Es wurde ihm mit Grausen wahr, er steckte in einem Eisengerüst, oben in einem Turm, es war der Eiffelturm. Paris. Verdammt, jetzt sah er es. Er steckte oben, ziemlich oben, oberes Drittel. Der Vogel hatte ihn in einen lächerlichen Eisenbolzen verwandelt, eine Niete, eine Eisenniete, 30 cm lang, 5 dick. Zusammen mit Tausenden von anderen Bolzen, steckte er hier im Eisengerüst, alles Nieten. Der König schüttelte sich, aber er saß fest. Er sah es, auch die andern Bolzen waren alles Könige, Bankdirektoren etc. gewesen, der ganze Eiffelturm wurde von gefangenen, zu Eisen und Stahl verwandelten Königen zusammengehalten. Verdammt, Graus, der ganze Eiffelturm war eine riesige Strafkolonie, überall steckten sie in den Trägern, trugen, hielten, gefangen, reingehämmert, mit Lack und Mennige drüber, wetterfest, trugen die ungeheure, über 200 Meter hohe Last, unbeweglich, hielten das riesige Ding zusammen, Tausende von Tonnen, Stahl, Eisen, in schwindliger Höhe. Tag und Nacht. Nie Feierabend. Immer nur halten. Tag und Nacht. Ewig. In Paris. Und da kamen sie schon. Das war die Strafe: Unser König war gleich neben der Treppe eingenietet. In einer Kurve. Auf der Touristentreppe. 


Collage von Walter Brusius
Da kamen die Frauen nach oben. Aus allen Herren Ländern, schöne, exotische, braune, gelbe, rote, schwarze. Sie schnauften und stöhnten, sie hatten von Anstrengung und Glück gerötete Wangen, Gesichter, ihr Haar hatte sich im Wind gelöst, sie lachten glücklich, denn sie waren in Paris, da waren die Tauben und der Wind, von oben sah der König den Aufsteigenden in geöffnete Mäntel und Blusen, gingen sie an ihm vorbei, roch er Parfüm und Schweiß, Wolken, stiegen sie an ihm vorbei weiter nach oben, sah er Hüften, Röcke, Strümpfe, Fersen, Stöckel, gingen sie noch weiter nach oben, sah er ihnen nach, und er schaute in die Dunkelheit, die Schenkel, er schaute in die dunkle, dunkle Tiefe unter den Röcken. Sie gingen an ihm vorbei. Er sah sie, er roch sie. Aber er war eingenietet in den Eisenbalken. Er kam nicht raus. Er konnte sie nicht anfassen. Er kam nicht an sie ran. Er konnte sich nicht auf sie stürzen. Er konnte sie nicht in eine Hängematte zerren. Aber er hätte es gern. Und es brach ihm das Herz. Aber nur mental natürlich. Denn sein Herz, sein wirkliches Herz, das war jetzt aus Eisen, und unzerbrechbar, auf immer und ewig, unzerbrechbar aus Stahl geschmiedet, prima Bolzeneisen, und wetterfest lackiert. C'est ca.

Ja, das ist schlimm. Deshalb will ich auch noch ein bisschen weitererzählen. Ist der König wirklich einmal müde vom Gucken, und hält er es vor lauter Geilheit nicht mehr aus, und schaut er woanders hin, ganz gequält, um sich abzulenken, dann sieht er durch die Fächer im Gerüst auf die Stadt herab, sieht all die herrlichen Boulevards, die vielen Restaurants, aber er kann ja nirgendwo hingehen. Im Mund, wieder nur mental natürlich, hat er den Geschmack von Wein und Austern, von Lakritzbonbons, mit dem Spazierstock wirbelt er im Wind. Pustekuchen, nichts von alledem. All die bunten Lichter werden nicht für ihn angeknipst. Er hat kein Ticket für den Ausflugsdampfer, für die Metro oder die Pferderennbahn. Er hängt im eisernen Gebälk, der Stift, der Bolzen. Aus ist es mit dem Herrendasein. Jetzt wird gedient. Jetzt wird getragen. Meckern kann er, aber es ändert nichts. Natürlich hat der König noch die Alternative nach oben zu gucken, in den Himmel. Aber da sieht er das Reich der Vögel. Unter den Wolken fliegen sie her, und wenn sie müde sind, hocken sie auf dem Gerüst, kacken ab. Das will der König erst recht nicht sehen. Das bringt unangenehme Erinnerungen. Natürlich hat der König noch die Alternative in sich hinein zu sehen, nur mental natürlich, aber da ist es so dunkel, wie es in Stahl nur dunkel sein kann, und in der trostlosen Dunkelheit hört er unter all der Anspannung sein Eisen knacken, und da wünscht er, dass es noch lauter knackt, dass er auseinanderbricht, in Stücke bricht, dass es aus ist mit ihm, dass er in Stücke bricht, und aus dem Gerüst nach unten stürzt...
Aber das ist nur ein Traum, ein Wunsch, denn das hier ist eine Geschichte, in der die Wünsche nicht in Erfüllung gehen.

Der Autor
Walter Brusius arbeitet und lebt seit 1982 in Bad Kreuznach als freischaffender Maler und unterhält dort ein Atelier. 
Er hat in Köln studiert. Vor etwa zehn Jahren begann er parallel zur Malerei Geschichten zu schreiben. 
Im Eigenverlag sind bisher einige kleine Bücher erschienen und seit zwei Jahren seine AtelierhefteEr verkauft sie im Atelier an einen kleinen interessierten Kreis und in einer dortigen Buchhandlung. Sie sind auch abonnierbar. Neben seinen Ausstellungen veranstaltet er regelmäßig Lesungen. Ziel ist, die Atelierhefte nicht selbst zu illustrieren, sondern andere Künstler in Form einer Koproduktion dazu einzuladen.

2 Kommentare:

  1. Walter Brusius hat endlich einen Platz für die vielen unnützen oft auch noch reichen Taugenichts dieser Erde gefunden.Er entsorgt diese Nieten auf eine einzigartige Weise. Nur ob da ein Eiffelturm reicht? Bestimmt nicht, Zum Glück gibt es noch etliche Bauwerke von Jean Eiffel wie z.B. die Brücke in Porto mit vielen Nieten.Hoffentlich kommen die Gefangenen nicht wieder frei, sollten diese Bauwerke einmal abgerissen werden,doch stehen sie und das ist gut,alle unter Denkmalschutz. KD Schmidt Norheim

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  2. ja, gut vernietet haben sie einen stabilen Platz in unserer Geschichte und richten keinen Schaden mehr an ... Wenn man die von Anfang an in Kunstharz oder Gebäudekonstruktionen konservieren könnte, wäre diesen Nieten sooo gedient. Aber es wird nicht gemacht ... unser Pech, noch.

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