Am Samstagabend, 06.06.2015, hat das Staatstheater Mainz im Orchestersaal eine kleine Hommage an Pierre Boulez angeboten. Zum 90. Geburtstag, den der Meister bereits am 26. März feierte, gab es eine einstündige Party mit Werken von Duspin, Vajda, Airson, Grisey und schließlich vom hochdekorierten Komponisten - seine bei Wikipedia aufgeführten Auszeichnungen und Ehrungen belaufen sich auf 53 Stück, inklusive einer Asteroidenbenennung nach ihm - Dirigenten, Musikschriftsteller, einer wichtigen Schlüsselfigur im internationalen Musikgeschehen, dem Maitre himself. Pierre Boulez ist eine lebende Legende und hört sich heute am liebsten seine Werke auf der ganzen Welt an. Er war leider nicht da.
Als Moderator und an der B-Klarinette Ates Yilmaz, der sich 40 Minuten komplett alleine als One-Man-Orchestra mit seinem Instrument beschäftigte, erst am Ende kamen die Elektronik, das Dialogisieren mit den abgemischten Klangsequenzen und Kreisenlassen des reinen Boulez-Hörgenusses hinzu, das Peter Münch am Mischpult und zuvor bei den Aufnahmearbeiten betreute. Strenggenommen blieb es beim Solo, den Klangkonserven als Mitspieler zu bezeichnen ist schon sehr abstrakt. Insofern kann man getrost von 60 Minuten Solo sprechen. Die Neugierigen wollten anschließend alles (!) über die Spieltechnik, die Fehlerfrequenz, die Komponisten und noch mehr wissen. Blicke in die Partituren zeigten, dass hier ein Höchstmaß an Genauigkeit und Bandbreite erforderlich ist, um den Ton zu treffen. Ates Yilmaz spielt äußerst virtuos und sensibel seine Klarinette, entlockt ihr Töne zwischen Klapperschlangen-Tremolo und gehauchtem Fiepsen, zwischen begleitender dezenter Percussion durch die Klappengeräusche und breit-aggressivem Sound. Gerade der Einsatz von Ober- und Unterton auf einmal und als langgezogenes Klangbild, durch Einzeltöne zäsiert, ist typisch Boulez. Der Zuhörer wähnte sich stellenweise in einem Free-Jazz-Konzert und erlebte Zitate und Kostproben der zeitgenössischen Musik und der des 20. Jahrhunderts in ihrer vollen Distanznahme zum Harmonischen, Gefallenden. Vielmehr steht das Aufstören, Konfrontieren mit ungewöhnlichen Klängen und Tonverbindungen im Vordergrund, das Auflösen aller regulären Zusammenhänge, Gewohnheiten und Erwartungen.
Pierre Boulez war selbst ein radikaler Neuerer, Rebell, der alles vor 1950 ablehnte. Seine Werke werden geliebt oder gehasst. Manche definieren sich durch einen klaren Antibezug zu seiner Klangwelt. Arnold Schönberg lehnte er ab (siehe seinen Nachruf "Schönberg est mort"), weil er ihm zu nahe an Brahms und dessen Vorgängern war. Opern nach Alban Bergs Schaffen waren für ihn nicht mehr diskussionswert. Seine Forderung im September 1967 "Sprengt die Opernhäuser in die Luft", als Empfehlung die Opernkrise so zu beheben, verfolgte ihn noch viele Jahre.
Seine Ferienkurse in Darmstadt waren sehr beliebt, während er als Dozent und als Dirigent des Darmstädter Kammerensembles von 1955 bis 1967 dort arbeitete. Hier zeigte sich, dass er mit Carl Maria von Webers Musik noch leben konnte. Er kam dann doch als Breitbandmusiker später auch mit Wagner zurecht und dirigierte die unterschiedlichsten Werke, die er eigentlich in den Orkus geschickt hatte, und verschiedene Spitzenorchester der Welt. Er unterstützte Präsident Pompidou und musste später vor den Attacken des zunächst stalinistisch-kommunistisch geprägten, später links-gaullistischen Autors, Filmregisseurs und späteren Kulturministers André Malraux, der ihn zu den drittklassigen Komponisten zählte, die sich gegen Frankreich verschworen hätten, nach Baden-Baden „flüchten“.
Das von ihm gelehrte "aleatorische Prinzip" will die "totale Unfreiheit des durchorganisierten Klangmaterials", wie es die serielle Musik mit sich bringt, durch den "gelenkten und organisierten Zufall ersetzen". Der Interpret ist also der Weichensteller, der das Werk dahin lenken soll, wo er es selbst und mehr der Meister es quasi haben will. Aber kreiert wird es vom Interpreten!
Der Abend begann mit Pascal Duspins "Ispo", Duspin (geb. 1946) hatte wie Boulez die Ehre an das Collège de France berufen zu werden. Das Stück hatte vier Teile, in denen Improvisation und Klangbilder wie orientalischer Basar und Ruhe vor dem Sturm sich abwechselten. Notensprünge und Kontrastreiches ganz viel: hoch und tief, schrill und wohlklingend, sich entfernend und laut.
Es folgte Gergely Vajda mit „Lightshadow – Trembling". Ein ungarischer Klarinettist und Komponist, 1973 in Budapest geboren und handwerklich eine ausgeprägte klare Sprache. Er arbeitet mit sehr vielen Effekten. In diesem Stück (1993 komponiert) mit dem Gegensatz von Licht und Schatten. Auffallend die Geschwindigkeiten mit Slapstickcharakter, Akzentuierungen und Überraschungen.
Als drittes Stück kam „In the Dark“ aus 2006 von Philippe Airson (geb. 1948), ein Schüler von Golliet, mit einem sonoren Zungenschlag und extremen Tönen an der Obergrenze der Höhen, mit einem überraschend-abrupten Ende.
Weiter ging es mit Gérard Grisey (geb. 1946) und „Charme“ von 1969. Grisey ist ein Vertreter der Spektralmusik, in der die Obertöne im Mittelpunkt stehen. Er ist ein Schüler von Olivier Messiaen und seine Werke oft eine Herausforderung für den Interpreten. Alles sehr modern gehalten, schnarrende Klarinette, Wechsel zu einem verhaltenen Echolotsound und zu Hallwellen, dann wieder fast tonloses Andeuten eines Klangs und ein kaum differenzierbares Aushauchen.
Last not least der Höhepunkt des Abends Pierre Boulez: „Dialogue de l'ombre double“ (Dialog mit einem Schatten) für Klarinette und Live-Elektronik. Dieses Werk wurde am 28.10.1985 von Alain Damiens in dessen Fassung in Florenz (Italien) uraufgeführt, allerdings mit einem wesentlich höheren technischen Aufwand, als heute erforderlich ist. So wurde damals das Spiel der Klarinette über Mikrofon aufgenommen und unter das Piano in einen Lautsprecher geleitet, dessen Klang die Saiten des Pianos darüber zum Klingen und Vibrieren brachte, was wiederum aufgenommen und in die Surroundanlage gejagt wurde. Die Illusion des wandernden Sounds, Kreisbewegungen und die Wiedergabe verschiedener extra aufgenommener und gemischter Sequenzen im PC hat den Apparat heute stark verkleinert und bietet alles übersichtlicher. Das Abspielen der Sequenzen ist lediglich eine Frage der Programmierung. Das Stück wird weltweit gespielt, so 1999 in Chicago oder 2012 in der Royal Albert Hall, London. Ates Yilmaz hat es geschafft, den Zauber dieses wandernden Klangs in den Orchestersaal zu Mainz zu bringen. :-) Er spielte quasi live gegen und mit seinem eigenen aufgenommenen und rotierenden oder einfach nur die Positionen wechselnden Klarinettenspiel. Mal wird das Echo aus den Lautsprechern improvisierend erweitert, mal das Livespiel in den Lautsprechern fortgesetzt oder ergänzt. Am Ende verliert sich alles im Nichts.
Ein sehr interessanter Abend, der in Mainz nur Freaks anlockte, wie Ates Yilmaz lachend bemerkte. Aber immerhin, es waren fast zwei Dutzend und der Abend so herrlich ungewöhnlich!
Als Moderator und an der B-Klarinette Ates Yilmaz, der sich 40 Minuten komplett alleine als One-Man-Orchestra mit seinem Instrument beschäftigte, erst am Ende kamen die Elektronik, das Dialogisieren mit den abgemischten Klangsequenzen und Kreisenlassen des reinen Boulez-Hörgenusses hinzu, das Peter Münch am Mischpult und zuvor bei den Aufnahmearbeiten betreute. Strenggenommen blieb es beim Solo, den Klangkonserven als Mitspieler zu bezeichnen ist schon sehr abstrakt. Insofern kann man getrost von 60 Minuten Solo sprechen. Die Neugierigen wollten anschließend alles (!) über die Spieltechnik, die Fehlerfrequenz, die Komponisten und noch mehr wissen. Blicke in die Partituren zeigten, dass hier ein Höchstmaß an Genauigkeit und Bandbreite erforderlich ist, um den Ton zu treffen. Ates Yilmaz spielt äußerst virtuos und sensibel seine Klarinette, entlockt ihr Töne zwischen Klapperschlangen-Tremolo und gehauchtem Fiepsen, zwischen begleitender dezenter Percussion durch die Klappengeräusche und breit-aggressivem Sound. Gerade der Einsatz von Ober- und Unterton auf einmal und als langgezogenes Klangbild, durch Einzeltöne zäsiert, ist typisch Boulez. Der Zuhörer wähnte sich stellenweise in einem Free-Jazz-Konzert und erlebte Zitate und Kostproben der zeitgenössischen Musik und der des 20. Jahrhunderts in ihrer vollen Distanznahme zum Harmonischen, Gefallenden. Vielmehr steht das Aufstören, Konfrontieren mit ungewöhnlichen Klängen und Tonverbindungen im Vordergrund, das Auflösen aller regulären Zusammenhänge, Gewohnheiten und Erwartungen.
Pierre Boulez war selbst ein radikaler Neuerer, Rebell, der alles vor 1950 ablehnte. Seine Werke werden geliebt oder gehasst. Manche definieren sich durch einen klaren Antibezug zu seiner Klangwelt. Arnold Schönberg lehnte er ab (siehe seinen Nachruf "Schönberg est mort"), weil er ihm zu nahe an Brahms und dessen Vorgängern war. Opern nach Alban Bergs Schaffen waren für ihn nicht mehr diskussionswert. Seine Forderung im September 1967 "Sprengt die Opernhäuser in die Luft", als Empfehlung die Opernkrise so zu beheben, verfolgte ihn noch viele Jahre.
Seine Ferienkurse in Darmstadt waren sehr beliebt, während er als Dozent und als Dirigent des Darmstädter Kammerensembles von 1955 bis 1967 dort arbeitete. Hier zeigte sich, dass er mit Carl Maria von Webers Musik noch leben konnte. Er kam dann doch als Breitbandmusiker später auch mit Wagner zurecht und dirigierte die unterschiedlichsten Werke, die er eigentlich in den Orkus geschickt hatte, und verschiedene Spitzenorchester der Welt. Er unterstützte Präsident Pompidou und musste später vor den Attacken des zunächst stalinistisch-kommunistisch geprägten, später links-gaullistischen Autors, Filmregisseurs und späteren Kulturministers André Malraux, der ihn zu den drittklassigen Komponisten zählte, die sich gegen Frankreich verschworen hätten, nach Baden-Baden „flüchten“.
Das von ihm gelehrte "aleatorische Prinzip" will die "totale Unfreiheit des durchorganisierten Klangmaterials", wie es die serielle Musik mit sich bringt, durch den "gelenkten und organisierten Zufall ersetzen". Der Interpret ist also der Weichensteller, der das Werk dahin lenken soll, wo er es selbst und mehr der Meister es quasi haben will. Aber kreiert wird es vom Interpreten!
Der Abend begann mit Pascal Duspins "Ispo", Duspin (geb. 1946) hatte wie Boulez die Ehre an das Collège de France berufen zu werden. Das Stück hatte vier Teile, in denen Improvisation und Klangbilder wie orientalischer Basar und Ruhe vor dem Sturm sich abwechselten. Notensprünge und Kontrastreiches ganz viel: hoch und tief, schrill und wohlklingend, sich entfernend und laut.
Es folgte Gergely Vajda mit „Lightshadow – Trembling". Ein ungarischer Klarinettist und Komponist, 1973 in Budapest geboren und handwerklich eine ausgeprägte klare Sprache. Er arbeitet mit sehr vielen Effekten. In diesem Stück (1993 komponiert) mit dem Gegensatz von Licht und Schatten. Auffallend die Geschwindigkeiten mit Slapstickcharakter, Akzentuierungen und Überraschungen.
Als drittes Stück kam „In the Dark“ aus 2006 von Philippe Airson (geb. 1948), ein Schüler von Golliet, mit einem sonoren Zungenschlag und extremen Tönen an der Obergrenze der Höhen, mit einem überraschend-abrupten Ende.
Weiter ging es mit Gérard Grisey (geb. 1946) und „Charme“ von 1969. Grisey ist ein Vertreter der Spektralmusik, in der die Obertöne im Mittelpunkt stehen. Er ist ein Schüler von Olivier Messiaen und seine Werke oft eine Herausforderung für den Interpreten. Alles sehr modern gehalten, schnarrende Klarinette, Wechsel zu einem verhaltenen Echolotsound und zu Hallwellen, dann wieder fast tonloses Andeuten eines Klangs und ein kaum differenzierbares Aushauchen.
Last not least der Höhepunkt des Abends Pierre Boulez: „Dialogue de l'ombre double“ (Dialog mit einem Schatten) für Klarinette und Live-Elektronik. Dieses Werk wurde am 28.10.1985 von Alain Damiens in dessen Fassung in Florenz (Italien) uraufgeführt, allerdings mit einem wesentlich höheren technischen Aufwand, als heute erforderlich ist. So wurde damals das Spiel der Klarinette über Mikrofon aufgenommen und unter das Piano in einen Lautsprecher geleitet, dessen Klang die Saiten des Pianos darüber zum Klingen und Vibrieren brachte, was wiederum aufgenommen und in die Surroundanlage gejagt wurde. Die Illusion des wandernden Sounds, Kreisbewegungen und die Wiedergabe verschiedener extra aufgenommener und gemischter Sequenzen im PC hat den Apparat heute stark verkleinert und bietet alles übersichtlicher. Das Abspielen der Sequenzen ist lediglich eine Frage der Programmierung. Das Stück wird weltweit gespielt, so 1999 in Chicago oder 2012 in der Royal Albert Hall, London. Ates Yilmaz hat es geschafft, den Zauber dieses wandernden Klangs in den Orchestersaal zu Mainz zu bringen. :-) Er spielte quasi live gegen und mit seinem eigenen aufgenommenen und rotierenden oder einfach nur die Positionen wechselnden Klarinettenspiel. Mal wird das Echo aus den Lautsprechern improvisierend erweitert, mal das Livespiel in den Lautsprechern fortgesetzt oder ergänzt. Am Ende verliert sich alles im Nichts.
Ein sehr interessanter Abend, der in Mainz nur Freaks anlockte, wie Ates Yilmaz lachend bemerkte. Aber immerhin, es waren fast zwei Dutzend und der Abend so herrlich ungewöhnlich!