Der Gedankenspieler (03)
Mit langen Schritten rannte sie über den klapprigen Schotter des Parkplatzes. Die knochigen Steine unter ihren Füßen knirschten lauthals auf und stellten ihre Fußgelenke auf eine harte Probe. Sie war mal wieder spät dran. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie in der letzten Zeit einmal nicht auf dem Sprung gewesen wäre. Eine Familie und Freunde im Ruhrgebiet zu haben und gleichzeitig ein Studium in Siegen zu absolvieren bereitete ihrem Zeitmanagement doch einige Druckstellen. Mental hatte sie sich mit dem Gedanken angefreundet, Siegerin zu sein. Doch ihr Herz und ihre Wurzeln zogen sie immer wieder zurück in ihr schaurigschönes Heimatnest.
Sie kam aus einer dieser Städte, die nur dann einmal in der Zeitung auftauchen, wenn etwas Schreckliches passiert. Und wenn auch wenig Positives über diesen Ort zu berichten war, so schlug ihr Herz doch immer wieder höher, wenn sie die Grenzen ihrer Heimat erblickte.
Nun aber musste sie sich beeilen. Sie wollte diesen Job behalten. Er brachte unkompliziert und schnell ein paar Euro mehr in die arg strapazierte, studentische Haushaltskasse.
Und auch wenn sie erst wenige Wochen dabei war, so hatte sie doch schon so viele Freundschaften unter den Mitarbeitern dort geschlossen, dass sie sich auch dort irgendwie zu Hause fühlte.
Hastig hetzte sie die lang gezogene Stahltreppe hinauf in den ersten Stock der Halle. Wo in früheren Zeiten unter Schweiß und Muskelkraft das schwarze Gold des Ruhrgebiets zu Tage befördert wurde, führte man heute Konzerte, Theaterstücke und allerlei andere Veranstaltungen auf. Unbeschreiblich war die Länge dieser Halle. Unfassbar seine Architektur. Jenny hatte schon viel gesehen, kannte die Pläne vieler großer Bauwerke weit um den Erdball verteilt. Doch dieses Gebäude war einfach einzigartig. Es wurde im Volksmund der Tempel der Arbeit genannt und so konnte man es auch durchaus bezeichnen. Sie liebte die Halle sehr. An den Wänden zogen sich wunderbare Fresken in die Höhe. Der stark ramponierte Boden mit Kacheln gefliest. Wer es nicht besser wusste, hätte nie damit gerechnet, dass dies jemals eine Arbeitsstätte war. Es erweckte den Eindruck, der Schönheit wegen erbaut worden zu sein. Doch die mehr als mannshohen Maschinen im hinteren Bereich der Halle überzeugten vom Gegenteil. Die schon in der Kaiserzeit errichteten Apparaturen dienten heute nur als stilvoller Bühnenhintergrund. Die Tontechniker machten gerade ihren letzten Soundcheck als Jenny das obere Plateau erreichte. Die kraftvollen, ja beinahe majestätisch anmutenden Backsteinmauern hatten schon lang den Kampf gegen die frostige Dezemberkälte aufgegeben. Jenny wusste nicht, ob sie deswegen fröstelte oder ob es der Gedanke an Herrn Landmann war, der sie mit starrem, eisigem Blick, auf seine Armbanduhr klopfend, erwartete.
„Sie sind mal wieder zu spät, Frau Jäger. Lange geht das nicht mehr gut mit ihnen.“
„Tut mir leid, Herr Landgraf. Wird bestimmt nie wieder vorkommen“, entschuldigte sich Jenny und versuchte dabei ihr unschuldigstes Gesicht zu präsentieren. Im Hintergrund konnte sie nur zu gut erkennen wie Larissa und Annika sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen konnten. Es erfasste sie augenblicklich. Durch den Frohsinn der anderen angesteckt huschte auch ihr ein scheues Lächeln über das Gesicht.
„Sie finden das wohl auch noch komisch!“, fauchte Herr Landgraf, „Passen Sie lieber auf, dass Ihnen das Lachen nicht schneller vergeht, als Ihnen lieb ist!“
„Passen Sie mal lieber auf, dass ich Ihnen nicht ihre hässliche Nase abbeiße!“, hätte sie gerne gesagt, doch stattdessen brachte sie nur ein kleinlautes :„Nein! Herr Landgraf! Tut mir leid Herr Landgraf!“, heraus. Oh. Egal wie sie sich anstrengte. Sie konnte diesen eingebildeten Fatzken sowieso nicht leiden. Umso schlimmer war es da noch, dass er sich diesmal ausnahmsweise auch noch im Recht befand. Schnell reihte sie sich in die lang gezogen Reihe der Mitarbeiter ein.
„Arsch!“, knirschte sie durch ihre Vorderzähne, die ihr Mund bei der Bildung eines schelmischen Lächelns freilegte. Annika tat sich schwer nicht laut loszulachen. Doch zuerst einmal war Herr Landgraf an der Reihe. Wie ein Brigardegeneral schritt er die Reihen seiner Mitarbeiter ab.
„Nun da wir ja jetzt vollzählig sind kann ich ja endlich beginnen.“
Er hatte seinen feisten Körper in einen pechschwarzen, unfassbar teuren Anzug gepresst. Sein Hemdkragen war aufs aller Sorgfältigste gebügelt. Doch an den Knöpfen spannte sich das weiße Hemd so sehr, dass es den Blick auf das eng anliegende, weiße Feinreippunterhemd freigab.
„Heute ist ein großer Tag für unser Unternehmen. Alles was in dieser Gegend von Rang und Namen ist wird heute hier vertreten sein. Aus diesem Grund dulde ich heute keine Fehler! Und jetzt los! Ich bezahle Sie schließlich nicht fürs Rumstehen und Löcher in die Luft gucken.“
Die Mitarbeiter, Kochgehilfen und Servicekräfte wechselten kurze, aber vielsagende Blicke untereinander. Wie oft schon hatten sie diese Rede gehört. Immer war es ein wichtiger Tag und immer war irgendwer Wichtiges da. Doch niemand hatte den Mut Herrn Landmann darauf aufmerksam zu machen.
„Sie sind zu spät, Frau Jäger!“, imitierte Annika die markant tiefe Stimme Landmanns. „Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen.“
Die drei Mädchen kugelten sich vor Lachen. In den scheinbar sicheren Gründen des Umkleideraums angekommen gab es für die drei kein Halten mehr.
„Sobald ich genug verdiene, bin ich hier schneller weg, als dieser Mistkerl gucken kann.“
Jenny war immer noch ein wenig eingeschnappt über ihre öffentliche Demütigung. Sie streifte sich ihre schwarze Arbeitsbluse über und schnitt den anderen beiden ein Grimasse. Plötzlich sprang die Tür auf.
„Kann ich Ihnen vielleicht noch einen Kaffee dazu reichen. Ist das eigentlich alles nur ein Witz hier für Sie?!“
Der Kopf Landmanns war zu einem gewaltigen, roten Ballon angeschwollen, der jeden Moment zu platzen drohte.
Die drei jungen Frauen senkten die Köpfe und waren im Begriff den Raum wortlos zu verlassenn als Landmanns fester Griff Jennys Schulter erfasste.
„Sie nicht, Fräulein Jäger! Sie bleiben kurz mal hier! Die anderen beiden finden sich umgehend an der Theke ein. Lassen Sie sich von Frau Schrödter Tabletts geben. Heute ist Service angesagt.“
Hilflos warfen Larissa und Annika ihrer Freundin noch einen letzten Blick zu. Doch Landmanns Auftritt duldete weder Widerwort noch Aufschub. Und so verschwanden sie so schnell sie konnten durch die noch offenstehende Tür.
„Was ist bloß los mit Ihnen? Ich habe für heute echt die Faxen dicke! Sie werden sich sofort in die Küche begeben. Lassen Sie sich eine Schürze geben. Für heute ist Küchendienst angesagt! Ich kann und will Sie heute vorne nicht sehen!“
Jenny konnte es nicht fassen. Nicht die Küche. Das konnte er ihr doch nicht antun. Für den Service war der Dienst in der Küche gleichzusetzen mit einem einmonatigem Aufenthalt im strengsten Gulag Sibiriens. Denn genauso pflegte Lutmilla Smetlova diese Abteilung zu führen. Mit harter Hand schikanierte sie das Personal, wie es ihr gerade passte. Niemand war gut genug für sie und erstrecht konnte ihr niemand das Wasser reichen.
„Was du willst? Kann ich gebrauchen dich nicht!“, waren die ersten Worte, die Jenny in der Küche zu hören bekam. In der Küche herrschte eines: STILLE. Natürlich konnte man das hektische Klopfen der Messer hören, wenn sie auf die Schneidebretter trafen. In den Töpfen köchelten Suppen und Soßen vor sich hin und auch sonst war der Ort erfüllt von geschäftigem Treiben. Doch Stimmen waren nicht zu hören. Wenn hier jemand etwas zu sagen hatte, dann war es Lutmilla.
„Musst du schneiden dünner!“ oder „Was du machen? Geh weg! Ich gucke!“ waren die einzigen menschlichen Laute, die man hier vernehmen konnte.
Jenny hatte die höchst fordernde Aufgabe erhalten, die Dessertschälchen zu garnieren. Und obwohl ihr dieser Ort überhaupt nicht gefiel, bemerkte sie doch schnell eine bemerkenswerte Freude daran. Auf der anderen Seite des Raumes waren Füsun und Semra damit beschäftigt, Kalbsbäckchen zu schneiden und auf Tellern zu verteilen. Es erschien Jenny als könne ihnen selbst ein Erdbeben keine Gemütsneigung abringen. Mit stoischer Ruhe erledigten die beiden rüstigen Türkinnen die ihnen anvertrauten Aufgaben, ohne auch nur den kleinsten Verdacht auf Unzufriedenheit auszulösen.
„Wenn sie unsere Sprache sprechen würden, wären sie wahrscheinlich schon lang nicht mehr hier“, dachte Jenny und legte noch ein paar gehackte Pistazienkerne auf die weiße Mousse au Chocolat.
„Kannst du nicht machen richtig?“, keifte sie Ludmilla urplötzlich an, „Habe ich gesagt Fingerspitz! Nicht Hand voll!“
Energisch entriss Ludmilla ihr die Schale und machte sich hektisch daran, Jennys Aufgabe zu vollenden.
„Geh gucken, was machen Soße!“, rief die beliebte Russin ihr hinterher, „Einfach nur umrühren! Das schaffen selbst du!“
Jenny wollte protestieren, doch das konnte sie sich gerade heute nicht erlauben. Also kümmerte sie sich um die Soße. Lustlos rührte sie immer wieder in dem riesigen Topf. Beinahe apathisch schweifte ihr Blick durch die Küche und blieb bei einem jungen Mann hängen, der kunstvolle Rosen aus Karottenstümpfen schnitzte. Wer war dieser Typ. Seitdem sie hier arbeitete, war er auch dabei, doch sie wusste überhaupt nichts über ihn.
Als Ludmilla sich in Richtung Toilette bewegte, nutzte Jenny ihre Chance: „Wie heißt du?“, fragte sie ihn direkt.
Der junge Mann war einfach zu sehr in Gedanken, als dass er darauf reagieren konnte.
„Ähhm. Entschuldigung. Ich habe dich hier schon oft gesehen. Aber ich kenne deinen Namen nicht.“
Der junge Mann hob kurz den Kopf an. Sein lockiges, braunes Haar stand ihm ungeordnet kreuz und quer auf dem Kopf.
„Ich .. ich bin Alexander“, sagte er leise und senkte sofort wieder seinen Kopf. Wieder einmal war es gespenstig ruhig in der Küche. Jenny war irritiert.
„Wer bist du?“
Er schaute ihr nicht direkt in die Augen. Fokussierte sich direkt wieder auf die Arbeit.
„Ich heiße Jenny“, gab sie zurück.
„Deine Suppe!“
„Was ist mit meiner Suppe?“
„Ich glaube, sie brennt an.“
„Ach, du heilige Sch…“
Schnellen Schrittes begab sich Jenny zurück zu ihrer Kochstelle. Ein beißender Schmerz durchzog ihren Finger, als sie den Topf vom Ofen nahm. In ihrer Panik hatte sie vergessen, einen Topflappen zu benutzen. Beinahe hätte sie den Topf fallen lassen. Doch im letzten Moment bekam der junge Mann ihn zu fassen. Er drückte ihn auf eines der kalten Kochfelder und ließ schnell kaltes Wasser ins Waschbecken laufen.
„Kühl deinen Finger“, sagte er zu ihr. Dann stellte er die Hitze der Kochplatte etwas kleiner ein, probierte die Soße und sagte:
„Oh, noch mal Glück gehabt.“
Danach begab er sich wieder an seinen Arbeitsplatz und schnitt weiter kunstvolle Blätter in die Karotte vor sich.
Jenny ließ etwas Wasser auf ein Handtuch laufen und stellte es dann ab. Dann begab sie sich wieder zu ihrem so genannten Arbeitsplatz. Auf dem Weg dort hin flüsterte sie Alexander noch ein leises Danke zu und gab sich wieder ihrer anspruchsvollen Tätigkeit hin.
To be continued....
©Marco Meissner, Gladbeck
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