Xaverl blickt schon seit
einiger Zeit ungeduldig aus dem Fenster. Endlich, nach drei Stunden,
kommt die Kutsche des Pfarrers die Hauptstraße herauf gefahren und
biegt in den Pfarrhof ein. Franz springt vom Kutschbock, geht nach
hinten, hilft Kathi und dem Pfarrer beim Aussteigen. Die beiden
verschwinden sofort in der Kirche, Franz schirrt die Pferde, zwei
Rottaler Kaltblüter, aus. Xaverl fährt mit dem Rollstuhl in den
Hof:
»Hallo Franz, sind die beiden
in der Kirche?«
Franz
nickt und führt das erste der Pferde in den Stall. Xaver fährt
rückwärts auf die Tür der Sakristei zu, drückt die Klinke runter
und schiebt die Tür mit dem Rollstuhl auf. Er hört Pfarrer
Dörflinger und die Tante sprechen. Xaverl fährt durch die Tür in
den Altarraum, bekreuzigt sich mit Blick zum Heiland. Tante Kathi
bemerkt Xaverl als Erste:
»Ach Xaverl, schön, dass du
da bist. Hast du noch Ideen zum Erntedankfest?«
»Grüß dich, Tante! Nein,
habe ich nicht. Herr Pfarrer, ich müsste dringend mit ihnen
sprechen.«
Xaverl
blickt den Pfarrer flehend an. Der Pfarrer versteht:
»Na gut! Kathi, wir reden
später weiter.«
Kathi
versteht nicht, dass es etwas gibt, dass Xaverl lieber mit dem
Pfarrer besprechen möchte, als mit ihr. Sie schaut ihn besorgt an.
Xaverl möchte sie nicht verletzen, erklärt ihr knapp:
»Männerthemen.«
Kathi
ist sichtlich erleichtert:
»Na, dann möchte ich nicht
länger stören.«
Und
verlässt die Kirche über die Sakristei. Xaverl wartet, bis die Tür
schlägt und die Tante die Kirche wirklich verlassen hat. Dörflinger
setzt sich in die erste Kirchenbank. Xaverl rollt auf ihn zu:
»Der Schmied, mein Vater und
die anderen Dorfbewohner haben ihren Kindern verboten, zur Nachhilfe
zu kommen. Sogar der Bürgermeister hat die Seiten gewechselt.«
Der
Pfarrer ist erstaunt:
»Woher weißt du das?«
»Die Marie hat mir alles
brühwarm erzählt. Haben Sie davon was gewusst?«
Der
Pfarrer windet sich, gibt aber dann doch eine vage Antwort:
»Mir ist da was zu Ohren
gekommen.«
Xaverl
wirkt nun etwas traurig:
»Ich versteh das nicht.«
Der
Pfarrer versucht, die Handlungen der Dorfbewohner zu erklären:
»Sie haben Angst vor dir, vor
deiner Andersartigkeit, deinem körperlichen Leiden. Und vor allem
vor deiner Intelligenz. Ich gebe dir den Rat, sei nie überheblich.
Das schafft dir nur unnötig Feinde.«
Xaverl
deutet fuchtelnd an seinem verkrüppelten Körper herunter:
»Was soll mir denn anderes
bleiben als mein Wort.«
»Xaverl, schon in der Bibel,
Hebräer 4,12–13 steht geschrieben, Gottes Wort ist die schärfste
Waffe. Und dir als Kind Gottes steht diese Waffe zur Verfügung.
Daher prüfe gut, wie du sie einsetzt.«
Xaverl
denkt nach. Der Pfarrer sucht derweilen eine Erklärung, warum
Xaverls Vater so reagiert:
»Xaverl, ich denke, dein Vater
hat es nie ganz verwunden, dass du ein Krüppel bist.«
Xaverl
wirft ein:
»Er kann nur Personen und
Sachen mögen, die gesund und vollkommen sind. Verhageltes Korn würde
er umpflügen, kranke Tiere notschlachten.«
Pfarrer
Dörflinger findet eine Erklärung:
»Aha, also mit kranken
Menschen kann dein Vater nicht umgehen. Irgendwas funktioniert da in
seinem Denkschema nicht.«
Xaverl
schmettert dies ab:
»Ach, das ist einfach nur
archaisch!«
Dörflinger
pflichtet ihm bei:
»Genau, altes Testament! Nur
der Stärkere überlebt!«
Xaverl
kommt nun dem Kern seines Problems näher:
»Und was ist mit dem neuen
Testament, Nächstenliebe, anderen die Wange hinhalten?«
Der
Pfarrer schweigt, aber Xaverl bohrt nach:
»Warum hat es Gott zugelassen,
dass der Vater die Mutter ein ums andere Mal geschwängert hat?«
Der
Pfarrer blickt zum Kreuz Jesu und schweigt weiter. Xaverl setzt
unaufhörlich nach:
»Und meist nicht freiwillig.
Denn sie hat immer geweint, wenn der Vater sonntags stockbetrunken
vom Postwirt nach Hause zu ihr in die Kammer kam. Früher als Kind
habe ich es mir nicht vorstellen können, warum. Jetzt weiß ich es!«
Der
Pfarrer kapiert:
»Warst du in meinem
Geheimfach?«
Xaver
nickt, stemmt zur Bekräftigung die Hände in die Taille.
»Warum nicht? Es ist mein
Recht zu wissen, was in der Welt vor sich geht!«
Der
Pfarrer ist enttäuscht.
»Ich habe es dir doch
versprochen zu erklären. Ich bin enttäuscht von dir, Xaverl. Ich
empfinde es als Vertrauensmissbrauch.«
Xaverl
gibt nicht klein bei:
»Erstens werde ich nicht 21
Jahre. Zweitens, wenn man sich nicht auskennt, dann kann man nicht
darüber reden. Und drittens habe ich ihnen gerade die Wahrheit
gesagt.«
Der
Pfarrer steht auf, geht ein paar Schritte Richtung Altar:
»Also gut, ich will es dir
erklären. Die Ehe ist ein heiliges Sakrament. Gott hat es
eingeführt, dass die Menschen sich lieben und vermehren.«
Xaverl
entgegnet:
»Aber meine Mutter war doch
schon ganz schwach. Wo ist da die Nächstenliebe?«
Pfarrer
Dörflinger verteidigt die kirchliche Lehrmeinung:
»Es ist die Aufgabe der
Frauen, Kinder zu gebären.«
Xaverl
wird wütend und antwortet für den Pfarrer:
»Wird es wohl nicht so gewesen
sein, dass der Vater im Rausch seinen Trieb an der Mutter befriedigt
hat?«
Jetzt
ist der Pfarrer perplex, schlägt drei Kreuzzeichen:
»Xaverl, versündige dich
nicht vor dem Herrn!«
Dann
dreht er sich um und verlässt durch den Haupteingang die Kirche.
Kurz vor der Tür dreht der Pfarrer sich um:
»Xaverl, bitte sprich zehn
Vaterunser zur Buße.«
Xaverl
kommentiert dies wütend mit:
»Einen Scheiß werde ich tun!«
(c) Alfred Franz Dworak (aus: Der LeiterwagenXaverl)