Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel) Bildnachweis: Matthias Baus |
Die Oper "Die Ersten Menschen" von Rainer Stephan (1887-1915) aus Worms erzählt die Geschichte des ersten menschlichen Paares, das aus dem Paradies vertrieben wurde, und ihrer beiden Söhne. Es wurde von Kritikern als wegweisendes Werk der modernen Musik angesehen. Stephan komponierte die Oper in den Jahren 1911 bis 1914 und hätte 1915 im Winter in der Oper Frankfurt uraufführen dürfen. Der Komponist fiel bereits am 29. September 1915 im Ersten Weltkrieg in der Westukraine (Galizien) bei Tarnopol kurz nach dem Einberufungsbefehl im Alter von 28 Jahren. Ein Kritiker schrieb 1912 über Stephans Musik: „Hier hat sich eine eigene, neuartige Tonsprache von überraschender klanglicher Ausgiebigkeit herangebildet, deren Absonderlichkeiten auch da, wo sie zunächst befremden, den Stempel des Gemussten, nicht des Ertüftelten tragen.“ Die Uraufführung fand schließlich posthum am 1. Juli 1920 in der Oper Frankfurt unter der Leitung von Ludwig Rottenberg statt.
Der Text und Titel stammt von Otto Borngräber, der ein Drama gleichen Namens geschrieben hatte. Borngräbers "Erotisches Mysterium" von 1908 wurde bei seiner Münchener Uraufführung 1912 zu einem Skandal - anschließend für das gesamte Königreich Bayern verboten. Der Grund ist schlichtweg das sehr ungewöhnliche und kaum als Liebesgeschichte, mehr als Triebabfuhr zu wertende Inzestverhältnis von Eva (Chawa) und Sohn Abel (Chabel). Borngräber starb 1916 in Lugano ebenfalls jung mit 42 Jahren. Eine illustre Biografie, ein kritischer Geist. Aber auch ein schwärmerischer und krass expressionistisch verzerrter Text mit dem Grundkonflikt Religiösität und Atheismus, Fortpflanzung um jeden Preis oder nicht?
Kaum nachvollziehbare emotionale Übersteigerungen, ekstatische Gottes- und
Religionserlebnisse, eine Rückkehr zu ursprünglichen altestamentarischen, heidnischen Handlungsweisen mit Tieropfer und die sexuelle Anziehung durch die Mutter der beiden Söhne. Ein doppeltes ödipales Geschehen so stark wie ein doppelter Campari pur. In Wagners "Walküre" ebenfalls ein großes Thema. Ob sich hier der Ödipus des Dramatikers austoben musste oder bewusst zur Provokation eingesetzt wurde? Ich glaube, Letzteres trifft zu. Das Entsetzen der bayrischen Sittenwächter zeigt die Reaktion.
Das Bühnenbild der beiden Aufzüge wurde bewusst kontrastiv gehalten. Rainer Sellmeier hat die sehr gelungene Umsetzung übernommen und liefert immer detaillierte Welten ab. Zunächst eine normale Wohnung aus dem Süden Deutschlands, Baden-Württemberg, Bayern, wer weiß das schon. Ein unterirdisches Idyll im Bunker, Pseudoaussichten, Helligkeit mit Generator, fleischloses Lebensmittellager und eine Leiter nach oben. Im zweiten Aufzug das "Oben", eine völlig verwüstete Stadtlandschaft mit ausgebranntem Autowrack. Hier fand eine riesige Zerstörung statt, die Bewohner benötigen Schutzanzüge und Atemmaske.
Die Genesis ist eigentlich schon seit Ewigkeiten passiert, die Schöpfung, Evolution bzw. der Sündenfall passiert und abgeschlossen. Der Regisseur setzt eine weitere Entwicklungsstufe auf dem Alten auf. Nach einem atomaren Krieg bleibt eine Kernfamilie übrig, während drumherum kein Mensch mehr zu leben scheint. Das gleißende weiße Licht der Bombenzündung und der Urknall mit irrwitziger Galaxienkraft scheinen hier auf einer Stufe die Ursprünge und das Ende der Menschheit zu verbinden. Der Urknall kann sich wiederholen, was er nicht schafft, produziert der Mensch selbst. Von Hiroshima bis Tschernobyl lauert der Atomtod, dennoch schwingt ein Optimismus mit, dass die Menschheit sich immer wieder von vorne erfinden kann.
v.l.n.r. Ambur Braid (Chawa; im Auto), Kampf zwischen Ian Koziara (Chabel; hinten) und Iain MacNeil (Kajin; vorne) Bildnachweis: Matthias Baus |
da sind? Es ist wohl ein seltenes Ereignis im Freien, ein Schaf gefunden zu haben, es ist ja alles kaputt. Expressionistisch übersteigert entwickelt sich die Diskussion um Gott, Opferungen, Glaube, Gehorsam, Geschlechterunterschiede zu einem eindringlichen Disput. Abel (Chabel) ist gottesfürchtig und besessen, seine Opferschlachtung das Gegenteil - brutal zerschneidet er das Schaf, seine Mutter langt auch kräftig zu. Extrem künstlich wirkt dieser Glaube, der keiner ist. Dazwischen die Eheproblematik Adahm und Chawas. Es gibt kein Begehren mehr, Chawa vermisst Sexualität. Ihre beiden Söhne geraten ins Visier, sie fühlt sich ebenso angezogen von ihnen wie die Söhne von ihr - Männer- und Frauenmangel, eine Notsituation. Kajin ringt mit sich, kann sich noch mehr kontrollieren als Abel, der blind verliebt in ihre Arme taumelt. Als Chawa sich nach oben bewegt, trifft sie Chabel und die Moral ist dahin. Sie stürzen sich aufeinander und verkehren sexuell. Die Mutter-Sohn-Beziehung rutscht in Notfortpflanzung [der letzten oder ersten (?) Menschen] und Inzest ab, aus lauter Liebeshunger, kaum zu glauben, dass eine Frau so stark in Versagungsnöten sein soll. Wie hätte die Menschheitsgeschichte ablaufen müssen, hätte die Urfamilie keine Frau für die Söhne gefunden? Mit Inzest? Sehr wahrscheinlich. War das der Anfang der Menschheitsgeschichte? Diese äußerst seltene Fragestellung mag auch den Dramatiker und dessen Zuschauer 1912 beschäftigt haben. Es ist vergleichbar mit der ebenfalls krassen Frage, ob Menschen, wenn es nichts mehr zu essen gibt oder in Extremsituationen, beginnen sich gegenseitig zu töten und zu essen. Kajin beobachtet die beiden und geht wutentbrannt dazwischen, tötet seinen Bruder aus Eifersucht und Wut, schließlich kastriert er sich sehr brutal bei lebendigem Leib aus Entsetzen über sich selbst, er stirbt ebenfalls. Alles, alles ganz weit weg von Religiosität trotz anhaltender und fortlaufender Lobpreisungen. Der schöne Schein kann sich nicht halten. Chawa und Adahm finden wieder zueinander, aber die betagten Eltern sollen noch Kinder bekommen? Oder ist Chawa schwanger von Chabel? Der Anfang der Menschheit tatsächlich durch Inzest und durch Krieg und Tote in der Urfamilie?
Der Komponist nutzt in diesem Werk innovative Kompositionstechniken und schafft eine klangliche Darstellung der Entstehung bzw. Entwicklung der Menschheit, die keine gewöhnliche ist. Die Premiere "Die Ersten Menschen" im Juli 2023 in Frankfurt war eine beeindruckende Darbietung. Sie zeigte die Fähigkeiten und das Engagement der Beteiligten, von der musikalischen Leitung des scheidenden Generalmusikdirektors Sebastian Weigle über die Solisten bis zur sorgfältigen Inszenierung von Tobias Kratzer. Das Publikum erlebte ein expressionistisches Opernwerk, das sowohl in seiner musikalischen Ausführung als auch in seiner Ausgestaltung einen tiefen Eindruck hinterlässt.
Ein herausragendes Merkmal des Werkes ist die Verwendung von ungewöhnlichen Instrumenten und Klängen, um die Entwicklung der Menschheit darzustellen. Stephan nutzt beispielsweise primitive Trommeln, um die Anfänge der menschlichen Zivilisation zu repräsentieren. Diese unkonventionelle Instrumentierung verleiht dem Werk eine einzigartige Atmosphäre und zeigt Stephans kreative Herangehensweise an die Musik. Ein weiteres Highlight ist die Verwendung von Dissonanzen und atonaler Musik, um die Konflikte und Herausforderungen der Menschheit darzustellen. Stephan stellt musikalisch die Spannung zwischen Fortschritt und Rückschritt dar und spiegelt damit die menschliche Erfahrung wider. Diese Dissonanzen können als kritische Reflexion auf die Gesellschaft und ihren Zustand nach 1900 verstanden werden, in der das Werk entstanden ist, sowie übergeordnet ein menschliches Problem beschreiben. "Die Ersten Menschen" ist ein bedeutendes Werk in der Musikgeschichte, das einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der modernen Musik geleistet hat.
Originalfassung des Dramas von 1908