Vom Mahle der Lästerer
1
Der Abend fiel über die vom Herbstnebel erfüllte Stadt *** herein, und in der Kirche dieses kleinen
echt normannischen Ortes war es schon ganz dunkel. Die Nacht ist in den gotischen Kirchen immer zuerst da. Es mag dies am Gewölbe liegen, das man mit der Wipfeldecke des Waldes verglichen hat, oder daran, daß die bunten Glasfenster das Licht verzehren, oder weil die vielen hohen Pfeiler überallhin ihren Schatten werfen. Aber trotz der frühen Finsternis werden die Kirchentüren nicht geschlossen. Sie bleiben gewöhnlich bis nach dem Angelusläuten offen; manchmal sogar noch länger, besonders am Vorabend hoher Feiertage, wo in den frommen Kleinstädten eine Menge Leute zur Beichte gehen, um sich für das Abendmahl am nächsten Morgen zu rüsten. Und überhaupt kommen in weltfernen Gegenden zu keiner Tageszeit mehr Besucher in die Kirche als um die Dämmerstunde, wo die Arbeit ruht und die Nacht anbricht, die der Christen Seelen an den Tod gemahnt. Um diese Stunde fühlt man so recht, daß der christliche Glaube ein Kind der Katakomben ist und daß ihm noch immer etwas von seiner trübseligen Wiege anhaftet. Die Dunkelheit ist aber überhaupt ein Bedürfnis für andächtige Herzen, und in ihr glaubt selbst das Weltkind noch am ehesten an die Erfüllbarkeit eines Gebetes.
Es war ein Sonntag. Die Vesper war bereits zwei Stunden vorüber, und die blaue Weihrauchwolke, die wie ein Baldachin lange am Deckengewölbe gehangen hatte, war schon fast verflogen. Die Rippen und Sterne krochen in die Falten des breiten Schattenmantels, der von den Spitzbogen herabwallte. Nur die Flammen zweier Kerzen an zwei ziemlich weit voneinander entfernten Pfeilern des Mittelschiffes und das Laternenlicht am Hochaltar, das wie ein winziger Stern aus dem Dunkel des Chores hervorstarrte, warfen durch die Nacht, die sich im Mittelschiff und in den beiden Seitenschiffen breitmachte, einen gespenstischen Schimmer. In diesem ungewissen Halbdunkel vermochte man Gestalten wohl im Umriß zu sehen, aber nicht klar zu erkennen. Hie und da hoben sich in der Dämmerung verschwommene Gruppen ab, noch dunkler als der Hintergrund, gebeugte Rücken, die weißen Hauben von knienden Frauen aus dem Volk, Gestalten in Mänteln mit heruntergeklappten Kapuzen; aber mehr war nicht zu unterscheiden. Eher hörte man mancherlei. Alle die Lippen, die leise beteten, erfüllten den weiten, stark hallenden Raum mit seltsamem Gesumm, einem Geräusch, das den Ohren Gottes wie das Gesumm eines Ameisenhaufens von Seelen tönen mag. Dieses fortwährende leise Murmeln, zuweilen von Seufzern durchklungen, dieses im Dunkel einer schweigsamen Kirche so eindringliche Lippengeräusch, ward von nichts durchbrochen als ab und zu durch das Kreichen der Haupttür in ihren Angeln beim Eintritt Kommender und durch das danach Wiederzuklappen des schweren Flügels, oder durch den hellen harten Aufschlag der Holzschuhe eines an den Seitenkapellen entlang Gehenden, oder durch den Fall eines Stuhles, gegen den jemand in der Dunkelheit angestoßen war, oder bisweilen durch ein zwei- oder dreimaliges Husten, das verhaltene Husten der Frommen, das aus Respekt vor dem heiligen Echo musiziert, geflötet wird. Aber alle diese Laute verflüchteten sich rasch, ohne die im fortdauernden Gesumm sich sammelnden Gebete zu stören.
Und darum achtete auch niemand aus der Schar der Andächtigen auf eine Mannesgestalt, die sicherlich manchen in Erstaunen gesetzt hätte, wenn es hell genug gewesen wäre, um ihn deutlich zu erkennen. Er war nämlich nichts weniger als ein eifriger Kirchengänger. Man sah ihn nie im Gotteshaus. Seit seiner Rückkehr in die Vaterstadt, von der er jahrelang fern gewesen war, hatte er sie keinmal betreten. Warum war er an diesem Abend erschienen? Welche Empfindung, welcher Gedanke, welche Absicht hatte ihn bewogen, die Schwelle zu überschreiten, an der er Tag um Tag ein paarmal vorüberging, als wäre sie nicht vorhanden?
Er war in jeder Hinsicht ein höherer Mensch und hatte seinen Stolz wie sein Haupt beugen müssen, um durch die niedrige kleine Nebenpforte zu kommen, deren sandsteinerner Rahmen in der feuchten Luft der Normandie grün geworden war. Übrigens fehlte es seinem Feuerkopf durchaus nicht an Romantik. Beim Betreten des ihm ungewohnten Ortes berührte ihn der gruftartige Raum ganz eigentümlich. Dieser Eindruck wird gerade bei dieser Kirche von vornherein dadurch erweckt, daß der Fußboden des Schiffes tiefer liegt als draußen der Platz, auf dem das Gebäude steht. Zu den Türen führen etliche Stufen hinab. Nur der Hochaltar ist höher angelegt. Offenbar unter diesem Eindruck, seiner selbst ungewiß und im Bann alter Erinnerungen, blieb er in der Mitte des Nebenschiffes, durch das er schritt, stehen. Offenbar fand er sich zunächst nicht zurecht. Als sich seine Augen aber einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er die Umrisse der Dinge besser wahrnahm, entdeckte er eine,alte Bettlerin, die in der Ecke der Armenbank mehr hockte denn kniete und ihren Rosenkranz ableierte. Ihr auf die Schulter klopfend, fragte er sie, wo die Kapelle der Muttergottes und der Pfarrer eines Sprengels sei, den er ihr nannte. Auf den Weg gewiesen von dieser Alten, die seit einem halben Jahrhundert genauso zur Kirche gehörte wie die Fratzen der Wasserspeier, schritt der Suchende nun ohne weiteres durch die während des Gottesdienstes in Unordnung geratenen Stuhlreihen und blieb schließlich vor dem Beichtstuhl stehen, der sich ganz hinten in der Kapelle befand. Er verschränkte die Arme, wie das Männer meist tun, die nicht zum Gebet in eine Kirche geraten sind, aber eine schickliche und würdige Haltung zur Schau tragen wollen. Einem Beobachter wäre der Mann nicht durch Unehrbietiges, aber durch das Unfromme in seiner Haltung aufgefallen.
Gewöhnlich brannte an den Beichtabenden am bändergeschmückten Sockel der Madonna eine gewundene gelbe Wachskerze, die der Kapelle Licht spendete. Aber da sich niemand mehr im Beichtstuhl einfand, hatte der Priester die Flamme ausgeblasen und seine Andacht in der Zelle im Dunkeln fortgesetzt. War es Zufall, Laune, Sparsamkeit oder irgendeine Absicht, daß dies geschehen war? Jedenfalls hatte es der unfromme Gast diesem Umstand zu verdanken, daß er unerkannt blieb, gleichgültig, ob ihm daran gelegen war oder nicht. Als ihn der Priester durch die Gittertür erblickte, öffnete er sie, ohne seinen Sitz im Beichtstuhl zu verlassen. Der Draußenstehende gab seine bisherige Haltung auf und überreichte dem Geistlichen ein Päckchen, das er aus einer Brusttasche gezogen hatte. Was darinnen sein mochte, konnte man nicht erkennen.
»Nehmen Sie das, Ehrwürden!« sagte er mit leiser, aber vernehmlicher Stimme. »Ich schleppe es nachgerade lange genug mit mir herum.« Weiter ward nichts gesprochen. Als wüßte er, worum es sich handelte, nahm der Priester das Päckchen entgegen und schloß dann wieder die Tür seines Beichtstuhles. Vielleicht glaubte irgendein Zuschauer, der Mann werde nun hinknien und beichten; aber zu seinem Erstaunen mußte er sehen, daß jener rasch die Stufen der Kapelle hinabschritt und im Seitenschiff wieder verschwand, woher er gekommen war. Und noch erstaunlicher war es, daß er mitten im Seitenschiff plötzlich von zwei kräftigen Armen umfaßt wurde, unter einem lauten Auflachen, das an einem so frommen Ort arg lästerlich klang.
»Der Teufel soll mich holen! Du, Mesnil?« rief der Lacher halblaut, aber doch deutlich genug, daß man den Landsknechtsfluch ringsherum vernehmen mußte. »Was hast du Narr um diese Zeit im Tempel zu suchen? Wir sind doch nicht mehr in Spanien wie Anno dazumal, wo wir den Klosterschwestern von Avila die Schleier zerknüllten!«
Der »Mesnil« Genannte machte eine zornige Bewegung.
»Schweig!« sagte er mit gedämpfter Stimme, obgleich er den anderen am liebsten laut angegrobst hätte. »Bist du bezecht? Du fluchst hier in der Kirche wie in einer Wachtstube! Komm mit! Benimm dich! Wir wollen uns beide mit Anstand entfernen!«
Er beschleunigte seinen Schritt. Der andere folgte ihm. So schritten beide durch die niedrige kleine Pforte, und als sie im Freien waren, wo sie wieder laut sprechen konnten, begann dieser von neuem:
»Zum Donnerwetter noch einmal, Mesnil! Willst du Kapuziner werden? Am Ende gar Abendmahlgänger! Du, der Herr von Mesnilgrand, Rittmeister von den Chambordschen Husaren, Betbruder! Pfui Deibel!« »Du warst ja selber dort«, erwiderte Mesnilgrand gelassen.
»Nur, weil ich dir nachgegangen bin. Ich sah dich hineingehen und war baff. Was sucht der Kerl in der Pfaffenscheune? fragt' ich mich. Sitzt eine Maus im Unterrock da in dem Steinhaufen? Kurz und gut, ich wollte mich mit eigenen Augen überzeugen, ob ein Ladenmädchen oder eine Prinzessin hier deiner harre.«
»Mein Vehrtester, nur für mich war ich drinnen«, sagte Mesnilgrand, kühl und geringschätzig. Es war ihm sichtlich ganz gleichgültig, was andere über ihn dachten.
»So! Dann muß ich mich um so mehr wundern!«
»Mein Lieber«, entgegnete der Rittmeister, indem er stehen blieb. »Menschen meines Schlages sind nun einmal von jeher in der Welt, um Leute wie dich in Erstaunen zu setzen.« Ihm den Rücken wendend, ging er rasch wieder weiter, wie einer, der allein bleiben will, durch die Gisors-Gasse nach dem Thurin-Platz, an dessen einer Ecke er sein Heim hatte.
Er wohnte im Haus seines Vaters, des alten Herrn von Mesnilgrand, der als reicher Geizhals verschrien war. Selbiger lebte lange Jahre völlig zurückgezogen, bis auf die drei Monate, die sein Sohn, der in Paris lebte, alljährlich bei ihm zubrachte. Dann aber pflegte der alte Herr, zu dem sonst keine Katze kam, die alten Freunde und Regimentskameraden seines Sohnes einzuladen und auf das üppigste zu bewirten. Die bösen Zungen der Stadt lästerten natürlich auch darüber; aber »der Tisch des alten Knickers« – wie sie sich ausdrückten – war in der Tat vorzüglich.
Der greise Vater war sehr stolz auf seinen Sohn, aber ebenso betrübt über ihn. Und dazu hatte er allen Anlaß. War doch das Leben seines Jungen, wie er den Vierzigjährigen immer noch nannte, durch denselben Schlag zertrümmert worden, der das Glück des Kaisers zerbrochen hatte. Mit achtzehn Jahren war der junge Mesnilgrand Husar geworden und hatte die Feldzüge der Kaiserzeit mitgemacht. Zu den höchsten Hoffnungen berechtigt, denn er war aus dem Holz geschnitzt, von dem die Marschälle Napoleons waren, hatte das Finale von Waterloo seine ehrgeizige Laufbahn ein für allemal vernichtet. Er war einer von denen, die von der Restauration nicht wieder in Dienst genommen wurden, weil er wie so mancher der Besten während der Hundert Tage im alten Bann den neuen Eid vergessen hatte. Und so kam es, daß er, der bis zum Eskadronchef in einem Regiment von geradezu fabelhafter Tapferkeit gebracht hatte, und obgleich man von ihm sagte: »Man kann tapfer wie Mesnilgrand sein, aber unmöglich tapferer!« – daß er nun zusehen mußte, wie Kameraden von ihm, deren Führungsliste sich in keiner Weise mit seiner messen konnte, Oberste und Kommandeure von Garderegimentern wurden. Er kannte keinen Neid, aber er ärgerte sich doch gräßlich darüber.
Mesnilgrand war ein zügelloser Draufgänger gewesen. Nur die soldatische Zucht einer beinahe römischen Zeit hatte es vermocht, den Sturm und Drang in ihm einigermaßen einzudämmen. Das Gerücht seiner leidenschaftlichen Abenteuer war bis in seine biedere Vaterstadt gedrungen, die sich darob arg entsetzte, zumal als er sich – vor nunmehr achtzehn Jahren – durch sein tolles Leben ein schweres Rückenmarksleiden zuzog, das er nur durch einen ungeheuerlichen ärztlichen Eingriff und dank seiner eisernen Natur überwand.
Diese besaß er wirklich, so daß er nach dieser höllischen Kur allen den Mühsalen und Wunden des Krieges von neuem zu trotzen imstande war. Dieser ehrgeizige Kraftmensch, der im besten Mannesalter seinen Säbel an den Nagel hängen mußte, war fortan zum Nichtstun verdammt, ohne Aussichten und ohne Hoffnungen. Er raste vor Wut. Obgleich nur der Sohn eines schlichten niedernormannischen Krautjunkers, ähnelte er, durch geheimnisvollen Zufall Karl dem Kühnen, dem Herzog von Burgund, den die Geschichte auch »den Schrecklichen« genannt hat. Er besaß dessen nie nachlassende wilde Leidenschaftlichkeit und bitterlich bösen Ingrimm.
Als der »verkrachte Rittmeister« – wie ihn die alles herabwürdigende Allgemeinheit nannte – heimkam, glaubte man zunächst, er werde sich umbringen oder den Verstand verlieren. Aber er beging weder Selbstmord, noch wurde er verrückt. Letzteres ging nicht, denn er war es schon immer, meinten die Spötter. Daß er bei seiner Natur am Leben blieb, war verwunderlich, indessen er war nicht der Mann, der sich vom Geier das Herz auffressen ließ, ohne den Versuch zu machen, dem Geier den Schnabel zu zerbrechen. Der unglaublich willensstarke Vittorio Alfieri, der nichts verstand als wilde Pferde zuzureiten, hat mit vierzig Jahren noch die Sprache Homers zu lernen begonnen und es so weit gebracht, daß er griechische Verse geschrieben hat. Nach diesem Vorbild warf sich Mesnilgrand auf die Malerei, das heißt auf etwas, was ihm am fernsten lag, denn er hatte zunächst keine Ahnung von den handwerksmäßigen Erfordernissen dieser Kunst. Er arbeitete, stellte in Paris seine Bilder aus, fand keine Beachtung, verzichtete auf die öffentliche Anerkennung, zerstörte seine Werke und schuf wieder neue, mit immer gleichem Feuereifer. Dieser Offizier, der bis dahin nur seinen Säbel zu handhaben verstanden und auf seinem Gaul ganz Europa durchquert hatte, verbrachte sein Leben fortan vor der Staffelei. Sein Widerwille vor dem Krieg und seinem alten Beruf, der Groll eines heimlich Liebenden war so groß, daß er nur Landschaften malte, also Dinge, die er ehedem verwüstet hatte. Beim Malen rauchte er stets, und seinem Tabak mengte er Opium bei. Aber kein Betäubungsmittel war imstande, das grimmige Ungeheuer einzuschläfern, das er seinen »Drachen am Brunnen« nannte. Leute, die ihn nur oberflächlich kannten, hielten ihn für einen Carbonaro; aber wer ihn besser kannte, wußte, daß er ein viel zu selbständiger Denker war, als daß er dem Freisinn jener Zeit verfallen konnte, der im Grunde nur hohles und dummes Geschwätz war.
Trotz seiner maßlosen und unsinnigen Leidenschaftlichkeit wahrte sich Mesnilgrand doch den nüchternen klaren Sinn für das Wirkliche, der den Bewohnern der Normandie eigentümlich ist. Er war alles andere denn Umstürzler. Das Demokrätentum, auf das sich die Bonapartisten während der Restauration stützten, war ihm stark zuwider. Mesnilgrand war durch und durch Aristokrat. Er war es nicht nur nach Geburt, Stand und Rang, sondern von Natur. Er war eben er, und wenn er der ärmste kleine Mann gewesen wäre: ein Herrenmensch, das Gegenstück zum Spießbürger. Äußerliche Auszeichnungen, auf die der Emporkömmling soviel Wert legt, verachtete er. Seine Orden pflegte er nicht zu tragen. Sein Vater hatte ihm vor dem Zusammenbrach des Kaiserreichs, als seine Ernennung zum Stabsoffizier bevorstand, ein Majorat gegründet, so daß er berechtigt war, den Baronstitel zu tragen; aber auf seinen Besuchskarten wie für alle Welt blieb er »Le Chevalier de Mesnilgrand«.
Es gibt in allen Jahrhunderten fahrende Ritter. Heutzutage kämpfen sie für das, was sie als recht und richtig ansehen, und gegen das, was sie hassen, nicht mehr mit Lanze und Schwert, sondern mit Spott und Hohn. Mesnilgrand war ein solcher Ritter. Er besaß die dazu nötige geistige Überlegenheit. Die war übrigens nicht die einzige Gabe, die ihm der Gott der Kraft verliehen hatte. Wie in allen Männern der Tat herrschte bei ihm der starke Wille vor; nur stand dem ein scharfer Verstand zur Seite, eine Macht für ihn gegen die anderen. Wahrscheinlich wäre er als glücklicher Mann nicht besonders geistreich gewesen, aber als Nichtglücklicher hatte er das Feuer der Verzweifelten, und, wenn er gute Laune hatte, auch den Galgenhumor solcher Menschen. Dazu war ihm eine ungewöhnliche Beredsamkeit eigen. Was man von Mirabeau sagte: Man muß ihn gehört haben! – das galt auch von ihm. Byron begann damals in die Mode zu kommen. Wenn sich Mesnilgrand einigermaßen beherrschte, glich er den Helden der Dichtungen des Lords. Er besaß nicht die regelmäßige Schönheit, die den kleinen Seelen gefällt. Er war sogar grundhäßlich. Aber sein blasses verlebtes Gesicht, dazu das jugendlich gebliebene kastanienbraune Haar, seine früh durchfurchte Stirn, gleich der des Lara oder des Korsaren, seine Leopardennase, seine grünschimmernden Augen, die ein wenig blutrot durchädert waren wie die feuriger Rassepferde, verliehen ihm einen Ausdruck, der selbst die größten Spötterinnen der Stadt beunruhigte. In seiner Gegenwart mäßigten die schlimmsten ihr Mundwerk. Groß, stark, gut gewachsen, nur ein wenig vorgebeugt in seiner Haltung, als bewege er sich in einer zu schweren Rüstung, hatte Mesnilgrand die in unseren Tagen so selten gewordene stattliche Herrenhaftigkeit, die wir aus den Bildnissen der alten Zeit kennen. »Er ist ein wandelndes Ahnenbild!« sagte einmal eine junge Dame von ihm, als sie ihn zum ersten Male im Salon eintreten sah. Überdies krönte er alle diese Vorzüge durch einen, der in den Augen der Frauen unübertrefflich ist. Er war immer tadellos angezogen. War dies die letzte Eitelkeit eines homme à femmes, dessen Persönlichkeit ein abgetanes Stück Leben überdauerte, wie die untergehende Sonne den Saum der Wolken durchglüht, hinter denen sie versunken ist? War dies ein Überbleibsel des fürstlichen Aufwandes, den die Eroberer Europas sich ehedem geleistet hatten, wo Mesnilgrand eine Paradedecke aus Tigerfellen unter dem Sattel trug, die seinem Vater, dem Geizhals, zwanzigtausend Franken gekostet hatte? Wie dem auch sei, kein junger Mann in Paris oder London konnte diesen Menschenfeind, der die große Welt verlassen hatte, in der Erlesenheit seiner Kleidung übertreffen.
Während der drei Monate, die er in *** zuzubringen pflegte, machte er nur wenige Besuche; den Rest des Jahres keine. Wie in Paris lebte er auch in seiner Vaterstadt bis in die späte Nacht nur seiner Malerei. Manchmal erging er sich ein wenig in der sauberen, anmutigen kleinen Stadt, die etwas Verträumtes an sich hatte, als sei sie für Dichter da, obwohl wahrscheinlich kein einziger in ihr hauste. Wenn er durch die Straßen ging, flüsterten die Leute einander zu: »Das ist der Herr Rittmeister von Mesnilgrand!« Und wer ihn einmal gezeigt bekommen hatte, der vergaß ihn sein Leben lang nicht wieder. Er machte Eindruck auf die Leute, wie alle Menschen, die nichts mehr vom Leben verlangen. Wer das nicht mehr tut, der steht immer über ihm; und dann ist es das Leben, das sich uns hündisch zu Füßen legt. Mesnilgrand ging nicht in das Kaffeehaus, zu den anderen Offizieren, die von der neuen Regierung aus der Rangliste gestrichen waren; aber auf der Straße verfehlte er nicht, wenn er einen traf, ihm die Hand zu drücken. Die kleinstädtischen Kaffeehäuser waren nichts für ihn, den Aristokraten. Eines zu betreten, wäre ihm ein Verstoß gegen den guten Geschmack gewesen. Es nahm ihm dies niemand übel. Seine Kameraden konnten ihn ja jederzeit im Haus seines Vaters aufsuchen. Die üppigen Gastmähler, die er ihnen, wie schon erwähnt, gab, nannten sie in Anlehnung an die Bibel, in der sie nie lasen, die »Belsazar-Mähler«.
Bei diesen Tafeleien saß der Vater dem Sohn gegenüber, und trotz seines Alters merkte man gar wohl, daß auch er ein ganzer Mann gewesen, würdig seines Sohnes, auf den er so stolz war. Groß und hager, gerade gewachsen wie ein Mastbaum, beugte er sich dem Alter lange noch nicht. Er ging stets im schwarzen Gehrock, in dem er noch größer erschien, als er ohnehin war. Er sah ernst aus wie ein nachdenklicher Mensch, der aller Eitelkeit der Welt entsagt hat. Seit Jahren pflegte er immer eine veilchenblaue gestrickte Zipfelmütze zu tragen, ohne daß sich der Spott an diese herkömmliche Kopfbedeckung des »Eingebildeten Kranken« gewagt hätte. Über die Jugend dieses Geronten wußte niemand etwas. Sie lag zu weit zurück, als daß man sich hätte daran erinnern können. Er hatte zu den Umstürzlern gehört, sagte man, obwohl er ein Vetter von Vicq d'Azir war, dem Arzt der Königin Marie Antoinette. Aber das dauerte nicht lange. Der Mann der Wirklichkeit, der Besitzende, der Gutsherr, war schließlich doch stärker als der Mann der Idee. Nur war er aus der Umsturzzeit, in die er als Ungläubiger in kirchlichen Dingen geschritten war, auch als Ungläubiger in Staatsdingen hervorgegangen. Dieser doppelte Unglaube ergab einen Erzzweifler, vor dem Voltaire erschrocken wäre. Übrigens verhielt er sich bei den zu Ehren seines Sohnes von ihm veranstalteten Gastmählern ziemlich schweigsam; nur wenn er auf Wahlverwandtschaft stieß, ließ er sich Meinungen und Gedanken entlocken, die das rechtfertigten, was man in der Stadt über ihn munkelte. Für die Frommen und Adligen, von denen es am Ort wimmelte, war er der alte Ketzer, mit dem man nicht verkehren konnte und der sich selber verdammte, indem er sich von der Welt abschloß.
Er führte ein sehr einfaches Leben. Niemals ging er aus. Die Grenze seines Hofes und seines Gartens waren für ihn die Grenzen der Welt. Im Winter saß er vor dem großen Kamin in der Küche, in einem hohen Lehnstuhl mit rotbraunem Utrechter Samt, stumm inmitten seiner Dienstboten, die, von seiner Gegenwart bedrückt, kaum zu flüstern wagten. Im Sommer befreite er sie von diesem Zwang und blieb im Eßzimmer, wo es kühl war, las in den Zeitungen oder in irgendeinem alten Buch aus einer Klosterbibliothek, die er bei einer Versteigerung erstanden hatte, oder ordnete Geschäftspapiere an einem kleinen Schreibtisch aus Ahornholz mit Messingbeschlägen, den er sich aus dem Oberstock hatte herunterschaffen lassen, um nicht hinaufgehen zu müssen, wenn einer seiner Pächter kam, obwohl dies Möbelstück gar nicht in ein Eßzimmer paßte. Ob ihn noch andere Dinge als seine Geschäfte bewegten, wußte kein Mensch. Sein fahles, von Blatternarben zerrissenes Gesicht mit der kurzen, ein wenig aufgestülpten Nase, verriet nichts von seinem Innern. Es war rätselhaft wie das einer am Herd schnurrenden Katze. Infolge der Blattern hatte er gerötete Augen und nach innen gekehrte Wimpern, die ab und zu gestutzt werden mußten. Er blinzelte infolgedessen, und wenn er mit jemandem sprach, legte er die eine Hand an die Brauen, um das Licht zu dämpfen, wobei er den Kopf etwas zurückbog. Dies verlieh ihm den Anschein von Dünkel und Hochmut. Der Gebrauch eines Augenglases, um schärfer zu sehen, hätte nicht so anmaßend gewirkt. Seine Stimme, die eines Mannes, der an das Recht des Befehlens gewohnt ist, war mehr eine Kopf- als eine Bruststimme, gleichsam ein Zeichen, daß er selbst mehr Hirn als Herz hatte. Aber er machte selten von ihr Gebrauch. Er war mit seinen Worten genauso sparsam wie mit seinen Talern. Wenn er sprach, geschah dies in der knappen Art des Tacitus. Er drechselte an seinen Worten, und so hatte seine Rede Wert und Wucht. Seine Witzworte trafen wie Steinwürfe.
Ehedem hatte er über die großen Ausgaben und die tollen Streiche seines Sohnes gejammert, wie dies alle Väter tun, aber seit Mesnil – wie er ihn nannte – unter den Trümmern des Kaiserreiches begraben war wie ein Titan, hatte er. vor ihm die Achtung des Weisen, der das Leben auf der Goldwaage der Verachtung wägt und gefunden hat, daß es im Grunde nichts Schöneres gibt als vom sinnlosen Schicksal zerbrochene Menschenkraft. Er bewies ihm dies auf seine Art. Wenn sein Sohn das Wort hatte, leuchtete die vollste Aufmerksamkeit in seinen Zügen. Der größte Beweis, wieviel er ihm galt, lag übrigens darin, daß er während seiner Anwesenheit, wie schon bemerkt, seinen Geiz völlig vergaß.
Die Gelage in seinem Haus waren in der ganzen Stadt berüchtigt. Man raunte sich zu, es ginge dabei gottlästerlich her. Und wirklich, echte Gottesleugner und wütende Pfaffenfeinde waren sie alle miteinander, die da versammelt saßen. Die Gottlosen der damaligen Zeit waren von ganz besonderer Art. Es war das Heidentum von Kraftmenschen und Männern der Tat, die alle Greuel des Umsturzes und alle Kriege der Kaiserzeit durchgemacht hatten. Das war eine völlig andere Gottlosigkeit als die des achtzehnten Jahrhunderts, aus der sie hervorgegangen war. Diese war von Wahrheitsliebe und Geistesfülle durchdrungen. Sie war scharfsinnig, grüblerisch, gespreizt und vor allem frech, aber nicht so roh wie die der Königsmörder von 1793, wie die der Landsknechte des Kaisers. Auch wir, die wir eine neue Zeit vorstellen, haben unser Heidentum, ein eisiges, gelehrtes, innerlich starkes, unerbittliches, unduldsames und zielbewußtes Heidentum. Aber weder dieses noch sonst eines vermag einen Begriff zu geben von der leidenschaftlichen Gottlosigkeit der Männer zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich. Und so war es Tatsache, daß nach drei oder vier Stunden des Schlemmens und Zechens das Eßzimmer im Haus am Thurin-Platz von den gottlosesten Reden dröhnte.
Die Teilnehmer an diesen schändlichen Gelagen sind tot, und reichlich tot; aber damals waren sie am Leben, und zwar auf der Höhe ihres Lebens. Die ist nicht dort, wo die Kräfte abzunehmen beginnen, sondern dort, wo das Ungemach am größten wird. Alle diese Freunde Mesnilgrands, alle die Gäste im Haus seines Vaters, waren im Besitz ihrer ganzen Kraft, um so mehr, da sie diese geübt und erprobt hatten, als sie in maßloser Gier noch am vollen Faß der ungezügelten Lebensfreuden saßen, ohne daß sie am berauschenden Trank zugrunde gegangen waren. Aber so krampfhaft ihre Hände den Becher umklammerten und ihre Zähne in ihn bissen, um nicht von ihm zu lassen: er war ihnen doch entrissen worden. Die Umstände hatte sie vom Quell verjagt, an dem sie geschlürft hatten, ohne sich satt zu trinken; und nun waren sie um so durstiger, weil sie davon getrunken hatten. Sie hatten wie Mesnilgrand ihre »schlimme Zeit«, aber es fehlte ihnen die Seelengröße dieses rasenden Rolands, dessen Ariost, wenn er einen gefunden hätte, ein Shakespeare hätte sein müssen. Für ihre Seelen, ihren Geist und ihre Sinne war das Leben schon vor dem Tod zu Ende. Noch waffenfähig, waren sie entwaffnet. Alle jene Offiziere sahen sich nicht nur an als Verabschiedete der Loire-Armee, sondern auch als Verabschiedete des Lebens und der Hoffnung. Nachdem das Kaiserreich vernichtet, nachdem die Revolution getilgt war durch die Reaktion, die sie nicht niederzuhalten vermochten wie der Erzengel Michael den Drachen, waren sie, ihrer Stellung, ihrer Ämter, ihres Ehrgeizes und der Ernte ihrer Vergangenheit beraubt, in ihre Vaterstadt heimgekehrt, machtlos, arm und gedemütigt, um dort – wie sie grimmig sagten – gleich Hunden zu verrecken. Im Mittelalter wären sie Wegelagerer,Freibeuter oder Entdecker geworden. Aber man kann sich sein Jahrhundert nicht aussuchen; und da sie an den Ketten der Gesittung hingen, die alles in Schranken und Gesetzen hält, so mußten sie still halten, in die Kandaren beißen, auf der Stelle treten, sich selbst verzehren und den Unmut darüber hinunterschlucken. Höchstens konnten sie ihren Blutdurst in Zweikämpfen austoben.
Man kann sich danach einen Begriff machen, wie das Vaterunser gelautet hat, das diese Haudegen zum Himmel emporsandten, wenn die Rede auf den lieben Gott kam. Wenn sie selber auch nicht an ihn glaubten, so glaubten doch andere Leute an ihn, ihre Feinde; und das genügte ihnen, um in ihren Reden alles, was auf Erden für hoch und heilig gilt, zu verlästern, zu verspotten und niederzutreten.
Wie allwöchentlich hatte sich also auch am Freitag nach jenem Sonntag, an dem Mesnilgrand von seinem alten Kameraden zu dessen Verwunderung und Ärger in der Kirche angehalten worden war, die Tafelrunde im Mesnilgrandschen Hause pünktlich eingestellt. Jener alte Kamerad war der Rittmeister Rançonnet, ehemaliger 8. Dragoner. Er erschien diesmal als einer der ersten, weil er sich vorgenommen hatte, den Freund, den er die ganze Woche nicht wiedergesehen, um Aufklärung über den Vorfall zu ersuchen und über die Art, wie er dort von ihm behandelt worden war. Dies sollte in Gegenwart aller Gäste geschehen, um sie zu unterhalten. Rançonnet war durchaus nicht der Schlimmste der Schlimmen an der Freitagstafel. Aber er war ein Polterer und ein allzu urwüchsiger Feind der Kirche. Wenn nicht geradezu ein Narr, so war er hierin ein Tor. Der Gottesbegriff ärgerte ihn wie eine Fliege auf der Nase. Im übrigen war er vom Scheitel bis zur Sohle ein Offizier seiner Zeit, mit allen Fehlern und Vorzügen, einer, der den Krieg um des Krieges willen liebte, ein echter Säbelraßler. Von den fünfundzwanzig Zechkumpanen war er wohl der, der den Rittmeister Mesnilgrand am liebsten hatte; nur war er ihm seit dem Vorfall in der Kirche unverständlich geworden.