Das Haus
Eine Novelle von Anner Griem
(Auszug)
In Ordnung, diesen Sommer komme ich,
wenn Du es endlich möblierst und ich nicht auf dem Fußboden
schlafen muss. Weit über eine halben Stunde redete Wanna am Telefon
auf mich ein, sie endlich in ihrem Haus zu besuchen, schließlich
wohne sie bereits seit dreizehn Monaten dort und irgendwie seien wir
immer noch verheiratet, auch wenn ich diese Tatsache nicht unbedingt
wahrhaben möchte.
Sie fing an zu weinen und meinte mit
von Schluchzern unterbrochener Stimme, dass sie ihrem letzten
Liebhaber wegen mir den Laufpass gegeben habe.
Ob sie ihm oder er ihr den Laufpass
gab, war nicht so deutlich herauszuhören, es interessierte mich
letztlich nicht, als ich mich entschloss, sie zu besuchen und ich ihr
zusagte.
Nach der vorläufigen Trennung, wie sie
es seinerzeit nannte, hatte ich mir ein möbliertes Zimmer bei einem
älteren Herrn genommen, dessen Frau kurz zuvor verstorben war.
Bad und Küche gemeinsam, im
Kühlschrank gehörte mir die untere Hälfte, getrennte
Haushaltskasse.
Er die Waschmaschine Montag bis
Donnerstag, den Rest der Wochentage konnte ich sie benutzen.
Wir, er, der alte Mann und ich hatten
einander schnell gewöhnt.
Schweigsam zurückhaltend, trug er noch
an seiner Trauer um den Tod seiner Frau.
Ich, schweigsam zurückhaltend, trug
noch an der Trennung von Wanna.
Sonntags kochten wir abwechselnd und
luden uns gegenseitig ein. Er trank nur gekühltes Mineralwasser,
Medium; ich nur gekühlten Rheingauer Riesling, beide Flaschen
standen einträchtig nebeneinander im Kühlschrank.
„Meine Frau kochte niemals, immer
ich. Dafür durfte ich mir das Dessert bei ihr holen“.
Als er mir das am vorletzten Sonntag
zwischen zwei Gabelbissen mitteilte, hatte ich erst nicht begriffen.
Zum ersten Mal unterbrach er das ansonsten vorherrschende Schweigen
während unserer gemeinsamen sonntäglichen Mahlzeiten.
„Wie, bis zu ihrem Tod?"
„Einen Tag vorher noch! Plötzlich
ist sie gegangen, einfach so, von eben auf jetzt, kurz nach dem
Essen, ich hatte mich gerade meiner Weste entledigt. Dort, da auf
dieser Chaiselongue lag sie, wie immer! Plötzlich ein Laut, nein,
eher ein lauter Seufzer, irgendwie melodisch. Ich glaubte, sie wolle
singen, sie sang oft, bis sie sich kurz aufbäumte und dann zurück
in das Kissen sank."
„War sie denn jünger als Sie, Ihre
Frau?"
„Nein, drei Jahre älter! Wieso? Ist
das wichtig für Sie?"
„Nicht wichtig, habe ja keine
Ahnung."
„Keine Küche, keine Kinder und keine
Kirche; dies waren ihre Bedingungen, die sie mir in unserer
Hochzeitsnacht stellte. Hätte ich nicht zugestimmt, wäre sie am
nächsten Tag zu einem Anwalt gegangen."
„Sehr konsequent und resolut, die
Dame“, meine Anmerkung fiel sachlicher aus, als beabsichtigt.
„Die Geschichte mit dem Dessert
dachten Sie sich aus, sozusagen als Ausgleich?"
„Nein, nein! Im Gegenteil! Es war
eine ihrer weiteren Bedingungen."
„Ich verlangte niemals etwas von ihr;
sie gab, gab mit freudigem Herzen. Ich musste nur zugreifen."
„Jeden Tag? Jeden Mittag nach dem
Essen?" Er nickte und griff zu seinem Wasserglas.
„Wie lange waren Sie verheiratet?"
„Heute wären es 47 Jahre geworden."
Sein Kopf geriet nach diesem Satz in heftige Bewegungen, sein
plötzliches Aufschluchzen machte mich befangen. Sich entschuldigend
stand er vom Tisch auf und lief rüber ins Bad, Wasserrauschen drang
zu mir in die Küche.
Siebenundvierzig Jahre, jeden Mittag,
von montags bis sonntags, immerfort auf der Chaiselongue dort drüben
an der Wand? Meine Gedanken waren verwirrt.
„Entschuldigen Sie meinen kleinen
emotionalen Ausrutscher“, mit diesen Worten betrat er wieder die
Küche, setzte sich auf seinen Stuhl und aß weiter.
„Nein, keine Entschuldigung bitte,
für mich aber kaum zu glauben."
„Was ist für Sie nicht glaubwürdig?"
Während er dies frug, senkten sich seine beiden Hände, so, dass
Gabel und Messer den Rand seines Tellers berührten.
„Dass Sie jeden Mittag nach dem Essen
dort auf der Chaiselongue …."
„Mein Herr, ich durfte kosten und
naschen, mal von dieser, mal von jener Frucht. Niemals habe ich es
gewagt, mehr zu nehmen, als sie gestattete."
„Siebenundvierzig Jahre das gleiche
mittägliche Ritual nach festgelegten Spielregeln, die Sie sich
bemühten, nicht zu verletzen?"
Er wendete seinen Kopf vollends mir zu,
legte sein Besteck ab, griff zur Serviette, tupfte sich mit ihr über
den Mund.
„Sie verstehen nicht!"
„Ich gestehe, nicht ganz! Ich bin
leicht verwirrt, ja, konsterniert."
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(c) Anner Griem, Cannobio