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Montag, 2. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (12) - Hinter den Karten (3) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly



Hinter den Karten

3

»Das einzige« – fuhr der Erzähler fort –, »was Leben, Begierden, starke Wallungen in die stille Stadt brachte, war das Glücksspiel, die letzte Leidenschaft verbrauchter Seelen. Das ›Jeu‹ war die große Sache unter diesen altmodischen Edelleuten, die sich einbildeten, als Grandseigneurs zu leben, während sie wie blinde alte Weiber dahinsiechten. Sie waren vom Spielteufel besessen wie die alten Normannen, die Eroberer Englands.
Ihr Lieblingsspiel war das Whist, wohl darum, weil sein Wesen schweigsam und gemessen ist wie die Diplomatie der alten Zeit. Auch kam ihre Engländerei dabei zum Ausdruck. Dies Spiel mußte die bodenlose Leere ihrer faden Tage ausfüllen. Sie spielten alle Abend nach der Hauptmahlzeit bis zwölf oder ein Uhr. In den Augen der biederen Bürger waren so lange Sitzungen etwas Wüstes.
Am berühmtesten waren die Spielabende beim Marquis von Saint-Alban. Dieser Edelmann war gewissermaßen das Oberhaupt aller Adeligen. Man zollte ihm die höchste Achtung und Rücksicht. Er war ein Meister im Whist. Mit wem hatte er in seinem langen Leben nicht gespielt? Er war neunundsiebzig Jahre alt. Maurepas, der Graf von Artois, der Fürst von Polignac, der Kardinal Ludwig von Rohan. Cagliostro, Fox, Dundas, Sheridan, der Prinz von Wales, Talleyrand, vielleicht der Teufel selber hatten mit ihm am Spieltisch gesessen. Er war jedem Partner gewachsen. Jetzt fand er unter den Engländern ebenbürtige Gegner.
Eines Abends spielte man im Hause der Frau von Beaumont. Man erwartete einen Mister Hartford, der sich am berühmten Tisch des Marquis betätigen sollte. Dieser Gast besaß eine Baumwollspinnerei in Pont-aux-Arches, beiläufig gesagt, eine der ersten in der Normandie, diesem Lande, das allen neuen Dingen unzugänglich ist, weniger wegen der Dummheit und Schwerfälligkeit der Bevölkerung, vielmehr zufolge ihrer Vorsicht, des Grundzuges der normannischen Rasse. Die Menschen der Normandie gleichen den Füchsen, die, wenn sie übers Eis laufen, ihre Pfoten nur dorthin setzen, wo es fest ist.
Besagter Hartford – wie ihn die Jugend kurzweg nannte –, ein Fünfziger mit silberschimmerndem kurzgeschorenem Haar, das wie eine seidene Mütze aussah, ward vom Marquis sehr geschätzt. Kein Wunder, denn er war ein großartiger Spieler, der eigentlich nur lebte, wenn er die Karten in der Hand hielt. Er behauptete, das größte Glück sei, im Spiel zu gewinnen, das zweitgrößte, im Spiel zu verlieren. Ein prächtiger Ausspruch, den er von Sheridan hatte; aber diese Entlehnung verzieh man ihm, weil er das Wort so glänzend zur Tat machte. Übrigens besaß er, abgesehen von dem Laster des Spiels – in Hochschätzung dessen ihm der Marquis die hervorragendsten Tugenden nachgesehen hätte –, alle die Pharisäereigenschaften, die man in England mit dem handlichen Sammelnamen Honorability bezeichnet. Er galt als Gentleman ohne Tadel. Der Marquis nahm ihn öfters auf Wochen mit nach seinem Schloß, dem ›Vanillenhof‹, und in der Stadt kam er alle Abende mit ihm zusammen.
An diesem Abend verspätete sich der sonst peinlich pünktliche Hartford zur Verwunderung der ganzen Gesellschaft, vor allem des Marquis. Es war im August. Durch die offenen Fenster blickte man hinaus nach einem herrlichen Garten, wie ihn nur eine Landstadt haben kann. Die jungen Damen saßen beisammen in den Fensternischen und plauderten über ihren Stickereien. Der Marquis hatte sich bereits am Spieltisch niedergelassen, die dichten weißen Brauen gerunzelt, die Ellbogen aufgestützt. Sein herrisches Antlitz, das in seiner Würde dem Ludwigs des Vierzehnten glich, zumal im Unmut darüber, daß man ihn warten ließ, ruhte auf seinen greisenhaft schönen Händen.
Endlich meldete der Diener Herrn Hartford. Er erschien, tadellos wie immer gekleidet, in blendend weißer Wäsche, Ringe an allen Fingern (was damals nicht als unvornehm galt), ein Taschentuch aus indischer Seide in der Hand, ein duftendes Kügelchen im Mund, um den Nachhaucht der Anschovenpaste, der Harveytunke und des Portweins zu tilgen.
Er kam aber nicht allein. Er begrüßte den Marquis und stellte ihm – wie zur Abwehr jedweden Vorwurfs – einen seiner Freunde vor, einen Schotten, Herrn Marmor von Karkoël, der ihm (so berichtete er) wie eine Bombe gerade bei Tisch ins Haus geflogen wäre. Nebenbei bemerkt, sei er der beste Whistspieler der drei Königreiche.
Diese Empfehlung entlockte den fahlen Lippen des Marquis ein liebenswürdiges Lächeln. Alsbald war die Partie im Gange. In seinem Eifer vergaß Karkoël seine Handschuhe auszuziehen, die in ihrer Vollkommenheit an die berühmten Handschuhe Brummells erinnerten, die bekanntlich von drei besonderen Handwerkern hergestellt wurden, zweien für die Finger und einem für die Daumen. Der Schotte war der Partner des Marquis. Die verwitwete Gräfin von Hautcardon hatte ihm diesen Platz überlassen, der sonst der ihre war.
Dieser Herr von Karkoël, meine Damen, war nach seiner Erscheinung ein Mann von etwa achtundzwanzig Jahren. Aber die Tropensonne, mir unbekannte Überanstrengungen, vielleicht auch Leidenschaften, hatten seinem Gesicht das Gepräge eines Fünfunddreißigjährigen aufgedrückt. Es war nicht schön, aber ausdrucksvoll. Sein schwarzes starkes Haar war aufrecht gebürstet und ziemlich kurz geschnitten. Merkwürdig oft fuhr er mit der Hand über die Schläfen und strich es zurück. Diese Bewegung war ungemein, aber auch unheimlich beredt. Man hatte die Empfindung, als wolle er einen reuevollen Gedanken verscheuchen. Dies fiel einem im ersten Augenblick auf, und wie alles Geheimnisvolle immer wieder. Ich bin mehrere Jahre lang viel mit diesem Karkoël zusammengekommen, und ich muß sagen: diese düstere Geste, die er wohl zehnmal in der Stunde wiederholte, erweckte bei jedermann stets den nämlichen Gedanken. Seine regelmäßig geformte, aber niedrige Stirn verriet Verwegenheit, und die Unbeweglichkeit seiner Oberlippe hätte Lavater in Verzweiflung gebracht, der bekanntlich behauptet, in den beweglichen Linien des Mundes eines Menschen ständen seine verborgenen Gedanken besser zu lesen als im Ausdruck seiner Augen. Er trug keinerlei Bart. Wenn er lächelte, tat er es, ohne daß seine Blicke daran teilnahmen, und es zeigte sich der Perlenglanz seiner Zähne. Sein Gesicht war länglich, in den Wangen eingefallen, von der matten Farbe der Olive, aber durchglüht von der Sonne, und zwar von einer feurigeren als der des Nebellandes. Seine lange gerade Nase trat zwischen zwei schwarzen Macbethaugen hervor, die überaus finster und unverhältnismäßig eng aneinandergerückt waren, was ein Zeichen von seelischer Ungeheuerlichkeit oder Geisteskrankheit sein soll. Er war erlesen gekleidet. Wie er in seiner nachlässigen Haltung am Spieltisch saß, erschien er nicht so klein wie vordem stehend, was daher kam, daß sein Oberkörper im Vergleich zu seiner ganzen Gestalt zu lang war. Abgesehen von diesem Fehler war er gut gebaut und, ich möchte sagen, tigerhaft-geschmeidig in seinen samtnen Bewegungen. Was schließlich sein Französisch anbelangt, überhaupt seine Sprechweise, so weiß ich heute nicht mehr, ob seine Stimme (der goldene Griffel, mit dem wir unsern Willen in die Herzen unserer Zuhörer eingraben, um sie zu verführen) im Einklang stand mit der schon geschilderten häufigen Gebärde der Hand nach dem Kopf. Eines ist mir nur noch erinnerlich. An jenem Abend klangen seine Worte kein bißchen schauerlich. Was er sagte, hatte keine besondere Betonung. Er sprach nichts als die beim Whist nötigen Worte, die in gleichmäßigen Abständen in die weihevolle Stille des Spiels fielen.
Außer seinen Spielgenossen schenkte keiner der zahlreichen im geräumigen Salon Anwesenden dem hereingeschneiten Whistspieler Beachtung. Die Gegenwart eines Engländers war ja nichts Auffälliges. Die jungen Mädchen wandten nicht einmal den Kopf nach ihm. Sie waren der immer wieder auftauchenden Ausländer längst überdrüssig, da sie doch allesamt nichts als die Karten im Kopf hatten. Selbst die Spieler an den anderen Tischen hatten ihm nur bei seiner Ankunft einen flüchtigen Blick gegönnt und sich alsbald, kopfüber wie Schwäne auf dem Teich, von neuem in ihren Whist versenkt.
Zwischen dem Marquis von Saint-Alban und Herrn Hartford, dem neuen Spieler gegenüber, hatte die verwitwete Gräfin von Tremblay-Stasseville ihren Platz, während ihre Tochter Hermine, die holdeste Blume im Kranz der jungen Mädchen in den Fensternischen, mit Fräulein Ernestine von Beaumont plauderte. Nach der Mutter schauend, fiel ihr Blick auch auf den Schotten.
»Sieh einmal, Ernestine«, sagte sie leise zu ihrer Freundin, »wie dieser Mensch die Karten gibt!«
Karkoël hatte inzwischen seine Handschuhe abgestreift und verteilte mit seinen aus ihrer parfümierten Gemslederhülle befreiten weißen wohlgeformten Händen (mit denen eine Mondäne, wenn sie sie besessen hätte, sich selbst vergöttert hätte) die Karten, jede einzeln, wie dies beim Whist Vorschrift ist, und zwar mit wirklich unheimlicher Gewandtheit, die man bewundern mußte wie die Finger Liszts. Einer, der mit solcher Fingergeschwindigkeit die Karten gibt, ist unbedingt ihr Meister. Ein so vielsagendes Geschick erwirbt man sich nur, wenn man zehn Jahre lang in Spielhöllen verkehrt hat.
›Ein Handwerk‹, meinte Ernestine in verächtlichem Ton, ›das ich nicht comme il faut finde.‹
Comme il faut sein war der hochmütigen jungen Dame das höchste. Es galt ihr mehr als noch so geistreich sein. Sie hatte ihren Beruf verfehlt, diese Ernestine von Beaumont; und ich glaube, sie ist vor Herzeleid gestorben, weil sie nicht die Camerera major der Königin von Spanien geworden ist.
Fabelhaft wie sein Kartengeben war Karkoëls Spiel. Er zeigte darin eine derartige Meisterschaft, daß der alte Marquis vor Vergnügen berauscht war. Mit einem solchen Partner hatte er sich seit langem nicht gemessen. Jede Art Überlegenheit ist Verführung. Wer sie besitzt und wirken läßt, zieht sein Opfer unwiderstehlich in seinen Bann. Mehr noch! Ein solcher Verführer macht auch andere fruchtbar. Man denke an die großen Plauderkünstler! Sie reden und säen zugleich die Gegenrede aus. Wenn sie zu sprechen aufhören, fallen die Dummköpfe, beraubt des Schimmers, der sie vergoldete, matt in den flachen Strom der Unterhaltung zurück, wo sie wie tote Fische schwimmen, den schuppenlosen Bauch nach oben. Karkoël aber regte diesen Mann, dem das Leben keine Reize mehr bot, nicht nur an. Er steigerte die Hochschätzung, die sein Gegenspieler von sich selber hegte, indem er dem feinlinigen Obelisken, den sich dieser ›König des Whistes‹ schon längst in der verschwiegenen Einsamkeit seines Dünkels erbaut hatte, noch eine Krone aufsetzte.
Trotz der Erregung, die ihn verjüngte, beobachtete der Marquis den Fremden während des Spiels aus den Winkeln seiner Krähenfüße – so nennen wir unverschämterweise das Brandmal, das uns die freche Klaue der Zeit in die Gesichter schlägt! –, die seine geistfunkelnden Augen zügelten. Der Schotte konnte nur von einem ganz hervorragenden Spieler gewürdigt, geschätzt und genossen werden. Er besaß jene tiefe nachdenkliche Aufmerksamkeit, die während der Wechselfälle des Spiels über Berechnungen grübelt, sie aber mit prächtiger Unerschütterlichkeit verschleiert. Neben ihm hätten sich im Flugsand der Wüste kauernde Sphinxe wie Sinnbilder der Redseligkeit ausgenommen. Er spielte, als habe er drei Paar Hände zur Verfügung, die ihm wie von selbst die Karten hielten.
Die letzten Lüftchen des Augustabends trugen leisen Duft zu den bloßen Köpfen der dreißig jungen Mädchen, um beladen mit neuem Wohlgeruch und dem Balsam der Jungfräulichkeit von den leuchtenden Scheiteln zurückzuwallen und schließlich an jener bronzenen breiten niedrigen Stirn, dieser Klippe aus lebendigem Marmor, hängenzubleiben. Karkoël spürte es nicht. Seine Nerven waren stumm. In diesem Augenblick mußte man ihm zugestehen, daß er den Namen Marmor mit vollem Recht trug. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, daß er der Gewinner war.
Der Marquis zog sich stets gegen Mitternacht zurück. ›Er ist wirklich der König der Karten, dieser Karkoël!‹ sagte er voll Begeisterung, noch immer überrascht, zu Hartford, der ihn ehrerbietigst an seinen Wagen geleitete, nachdem er ihm den Arm geboten hatte. ›Sorgen Sie dafür, daß er uns nicht sobald wieder verläßt.‹
Der Engländer versprach es, und der alte Edelmann nahm sich, seinen Jahren und seinem Geschlecht zum Trotz vor, dem schottischen Odysseus gegenüber die Rolle der gastfreundlichen Sirene zu spielen.

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Samstag, 30. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (11) - Hinter den Karten (2) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly



Hinter den Karten


2

»Ich bin in der Provinz im elterlichen Hause aufgewachsen. Mein Vater wohnte in einem Marktflecken, der sich behaglich am Meer hinzieht, zu Füßen der Berge. Ich möchte die Gegend nicht näher bezeichnen. Unweit davon liegt eine kleine Stadt. (Valognes.) Welche ich meine, wird Ihnen sofort klar sein, wenn ich Ihnen sage, daß sie, wenigstens dazumal, ein richtiges altes Adelsnest war. Ich kenne keinen ähnlichen so durch und durch aristokratischen Ort in ganz Frankreich. Vor 1789 rollten fünfzig wappengeschmückte Wagen stolz über das Pflaster des Städtchens, das keine sechstausend Einwohner hatte. Es kam einem vor, als habe sich der Adel aus dem ganzen übrigen Lande, in dem sich von Tag zu Tag das dreiste Bürgertum breiter machte, dorthin zurückgezogen und versammelt, um zu strahlen wie ein Rubin, der noch im Schmelztiegel seinen wunderbaren Glanz behält, bis er mit ihm zugleich verlischt.
Der Adel in jenem Städtchen, seitdem gestorben und verdorben in seinen Vorurteilen, die ich als hohe Kultur bewundere, war unzugänglich wie der Herrgott. Die Schmach jedweder Aristokratie, die Mesalliance, war alldort etwas, was nicht vorkam. Die durch den Umsturz arm gewordenen Töchter dieser Adelsgeschlechter starben stoisch als alte Jungfern. Die Wappen ihrer Ahnen waren ihnen Schutz und Trost für alles. Mein junges Herz entbrannte vor jenen entzückenden und so ernsten Geschöpfen, die wohl wußten, daß ihre Schönheit unnütz war und daß ihnen das Blut umsonst im Busen pochte und die Wangen glühte. Meine dreizehnjährigen Sinne erträumten sich Wunderdinge von dem entsagenden Heldentum der jungen Edeldamen, deren einziges Besitztum ihre Wappenkronen waren, für die sie sich vom ersten Tage ihres Daseins an opferten, würdevoll und schwermütig, wie es Menschen geziemt, die vom Schicksal verdammt sind.
Dieser Adel verkehrte unter sich, indem man sich sagte: ›Wie können wir Bürgerliche bei uns sehen, deren Väter unsere Eltern bei Tisch bedient haben?‹ Sie hatten recht. In solch einer kleinen Stadt war es nicht anders möglich.
Nur etlichen Engländern öffneten sie ihren engen Kreis. Es lebte nämlich im Ort eine Anzahl britischer Familien, angezogen von der Ruhe, den steifen Sitten und dem kühlen Wesen ihrer Bewohner. Es erinnerte sie dies alles an das Spießbürgertum der Kleinstädte ihrer Heimat. Auch die Nähe des Meeres und das für englische Verhältnisse spottbillige Leben verlockte sie. Ihre in England kaum ausreichenden Mittel verdoppelten sich hier gleichsam. Schließlich betrachteten sie die Normandie für ein Vorland Englands, wo man sich sehr wohl für einige Zeit niederlassen konnte.
Die kleinen Misses lernten daselbst ein bißchen Französisch, während sie sich unter den dürftigen Linden des Marktplatzes beim Reifenspiel tummelten. Wenn sie dann achtzehn Jahre alt waren, wanderten sie wieder nach England hinüber, denn die verarmten französischen Edelleute durften nicht daran denken, diese Engländerinnen mit ihrer geringen Mitgift zu heiraten. Das war der Grund, warum die englischen Familien nach sechs bis sieben Jahren wieder fortzogen. Aber es kamen immer wieder neue in die verlassenen Häuser, die ebensolange blieben. So sah man in den Straßen jederzeit die nämliche Zahl Spaziergängerinnen in großkarierten Kleidern, grünen Schleiern und schottischen Umhängen. Diese fremdländischen Gäste waren das einzige Wandelbare in der fürchterlichen Eintönigkeit der kleinen Stadt.
Man spricht häufig und alles mögliche über die Enge des kleinstädtischen Lebens, aber hier war dieses ereignislose Dasein noch armseliger als sonstwo, weil es nicht Klassenkämpfe und Rangstreite gab wie an so vielen kleinen Orten, wo Eifersucht, Haß und gekränkte Eigenliebe einen stummen Haß nähren, der in allerlei Ränken und in jenen kleinen Schurkereien zum Ausbruch zu kommen pflegt, die kein Gesetz bestraft. Hier war der Abstand zwischen Adel und Nichtadel so groß, daß es zu Zwist gar nicht kommen konnte. Zu einem Kampf bedarf es eines gemeinsamen Bodens und gegenseitiger Beziehungen. Beides fehlte hier. Der Adel nahm vom Bürgertum gar keine Kenntnis. Was man auch über ihn reden mochte, er kümmerte sich nicht darum. Er hörte es nicht. Die jungen Leute, die sich hätten beleidigen und aneinandergeraten können, trafen sich nicht an öffentlichen Orten, die durch die Gegenwart von Frauenaugen so leicht zu heißen Kampfgefilden werden. Es gab auch kein Theater; infolgedessen kamen keine Wandertruppen. Und was die Kaffeehäuser anbelangt, so waren das Budiken, in denen nur kleine Leute und Tagediebe verkehrten, allenfalls etliche abgedankte Offiziere, unnütze Trümmer der napoleonischen Zeit. Übrigens waren die Spießbürger bei aller Wut über die mißachtete Formel der Gleichheit ganz wie dereinst unwillkürlich voller Hochachtung vor der adeligen Welt. Es ist mit der vornehmen Geburt wie mit allen Dingen, die Neid und Haß erzeugen: sie übt auf den sie Nichtbesitzenden und Beschimpfenden eine geradezu körperliche Wirkung aus, was vielleicht der beste Beweis ihrer Berechtigung ist. Während des Umschwunges bestreitet der Volksmann diese Wirkung, die er damit also doch empfindet, aber in ruhigen Zeiten unterwirft er sich ihr.
Im Jahre 182* lebte man in solch einer ruhigen Zeit. Der Freigeist war nicht imstande gewesen, dem Königsgedanken den Garaus zu geben. Das monarchische Frankreich, dem das Fallbeil die Brüste abgeschnitten hatte, wiegte sich in der Hoffnung, trotzdem weiterleben zu können und wieder zu genesen. Es merkte nicht, daß es aber doch dem sicheren Tode verfallen war.
In der Ihnen geschilderten Kleinstadt herrschte in den Jahren des wiederauferstandenen Königtums tiefe Grabesruhe. Eine Frömmlergesellschaft hatte sich in den vornehmen Adelskreis eingeschlichen und die letzten Regungen der Lebenslust getilgt. Selbst die Jugend tanzte nicht mehr. Bälle waren als Gelegenheiten der Verderbnis verpönt. Die jungen Mädchen trugen Missionskreuze an den Halskrausen und bildeten einen Betschwesternklub. Der Ernst, mit dem dieser Blödsinn ausgeübt ward, war zum Lachen. Nur wagte kein Mensch, sich darüber lustig zu machen. Sobald bei den geselligen Zusammenkünften die vier Whisttische für die alten Damen und Herren und die beiden Ecartétische für die jungen Leute aufgestellt waren, zogen sich die jungen Damen zurück und setzten sich in einer Ecke zu einer schweigsamen Gruppe {schweigsam, soweit weibliche Wesen schweigen können!)zusammen, um sich im Flüsterton zu unterhalten, das heißt, sich unsäglich zu langweilen. Steif und förmlich hockten sie beieinander, in Widerspruch zu ihren anmutigen Gestalten, dem leuchtenden Rosa und Lila ihrer Kleider und dem Flattern der Spitzen und Bände um Busen und Hals.«


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Donnerstag, 28. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (10) - Hinter den Karten (1) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Hinter den Karten

1
Im vorigen Sommer war ich eines Abends Gast der Baronin von Mascranny, einer jener Pariserinnen, die den altfranzösischen Feingeist über alles schätzen und dem geringen Überrest, der davon in unseren Tagen noch zu finden ist, die beiden Flügeltüren (eine genügt leider) ihrer Salons weit öffnen. Bekanntlich hat sich diese rare Sache vor nun schon beträchtlicher Zeit in ein grobes Ungeheuer verwandelt, das man »Intelligenz« benennt.
Die Familie Mascranny ist uralt und hochvornehm. Ihr Wappen ist von dem und jenem europäischen Herrscher mit Ehrenstücken bereichert worden, in Anerkennung von Diensten, die sie ihnen in den früheren Zeitläuften der Geschichte geleistet haben. Wenn die heutigen Fürsten nicht von ganz anderen Geschäften so arg in Anspruch genommen wären, hätten sie Anlaß, dieses schon so vielfach ausgezeichnete Wappen mit einer weiteren Zier zu schmücken, zum Lohn für die wirklich heldenhafte Art, mit der sich die Baronin um die Erhaltung der Plauderkunst im alten Sinne bemüht, dieses verlorenen Erbes nichtstuender Edelmenschen aus der Kultur der absoluten Monarchie. Wahrhaft geistreich und von echt adeligem Wesen, ist es Frau von Mascranny geglückt, ihr Heim zu einer Zufluchtsstätte der köstlichen Plauderei von ehedem zu machen, die vor dem Krämergeschwätz und dem Nützlichkeitsgerede unserer Zeit wer weiß wohin auswandern mußte. Bei ihr kann man den Geist des Ancien régime allabendlich noch finden, bis er eines Tages auch hier verstummen wird. Hier singt er sozusagen sein Schwanenlied. Treu der Überlieferung aus großen Tagen macht sich diese Plauderkunst nicht in leeren Redensarten breit, und Alleinreden ist geradezu etwas Unbekanntes. Nichts gemahnt an die Tageszeitung oder an das Parlament, diese beiden gemeinen Hauptstätten des neuzeitlichen Gedankenergusses. Hier perlt Witz und Geist in entzückenden, zuweilen tiefsinnigen, immer aber knappen Bemerkungen, oft nur in der besonderen Betonung eines einzigen Wortes oder gar nur in einer leichten alles sagenden Gebärde. In diesem begnadeten Salon habe ich zum ersten Male eine Macht kennengelernt, die man anderswo kaum ahnt, die Macht der Einsilbigkeit. Hier versteht man es, seine Antwort oder einen Zwischenruf mit einem einzigen Wörtchen zu geben, und zwar mit noch höherem Geschick als die Königin des kurzen Worts auf der Bühne, Mademoiselle Mars. Wenn sie in der Vorstadt Saint-Germain erscheinen könnte, wäre sie rasch entthront, denn die Damen der großen Gesellschaft verfügen über unendlich feinere Künste als eine Schauspielerin, die klassische Komödiengestalten verkörpert.
An jenem Abend machte man eine Ausnahme. Die Stimmung gab Einsilbern das Feld nicht frei. Als ich kam, sah ich eine Menge Leute bei der Baronin, ihre sogenannten Getreuen, und die Unterhaltung war wie stets voll Schwung und Leben. Wie fremdländische Blumen in Jaspisvasen auf hohen Sockeln, so nahmen sich die Gäste dieses Hauses aus. Engländer, Polen, Russen waren darunter, aber allesamt doch Franzosen, in ihrer Sprache, Lebensart und Weltanschauung. Auf einer gewissen Höhe der Gesittung ähneln sich die Menschen der ganzen Erde.
Es war gerade die Rede von Romanen. Ich weiß nicht, wie man just darauf gekommen war; denn über Romane sprechen, bedeutet, daß jeder von seinem eigenen Leben redet. Es braucht wohl nicht betont zu werden, daß man in solch einem Kreise von Weltkindern keine literarischen Schulmeistereien erwog. Das Wesen der Dinge, nicht ihre Form, galt hier als Reiz. Diese überlegenen Sittenrichter, diese vielseitigen Kenner der Leidenschaft und des Lebens, deren tiefe Erfahrungen sich hinter lässigen Worten und zerstreuten Mienen verbargen, sahen im Romane nichts als einen Spiegel des Tuns und Treibens der Menschen. Aber was ist ein Roman im Grunde auch anderes?
Übrigens mußte man schon eine Weile über diesen Gegenstand gesprochen haben, denn in ihren Gesichtern leuchteten bereits die Seelen. Die angeregten Geister moussierten. Nur drei oder vier der Anwesenden verhielten sich schweigend, die Stirn gesenkt, den Blick versonnen auf den beringten Händen, die über den Knien ruhten, vielleicht in Versuche verloren, einer Träumerei Gestalt zu geben, was ebenso schwer ist, wie ein Gefühl zu vergeistigen.
Die Aufmerksamkeit war dermaßen auf einen Punkt gerichtet, daß ich mich unbemerkt einschlicht und hinter dem glattschimmernden Nacken der schönen Gräfin von Damnaglia Platz fand, die, ihre Lippen an den Saum ihres zusammengeklappten Fächers gedrückt, aufmerksam lauschte wie alle die anderen. Hier wußte man, daß Zuhören Genuß ist. Es begann zu dunkeln. In das Rot des Tages rieselte Abenddämmerung wie in ein glückliches Leben. Man saß im Kreise, und die Herren und Damen in ihrer verschiedenen losen, aber achtsamen Haltung formten im Halblicht des Raumes gleichsam die Glieder eines Kranzes, einer lebendigen Armkette; und die Herrin des Hauses mit ihrem Ägypterinnenprofil, auf ihrem Liegesitz hingestreckt wie Kleopatra, bildete das Schlußstück. In einer offenen Glastür leuchtete ein Stück Himmel über dem Balkon, auf dem ein paar Menschen standen. Die Luft war so rein und klar und unten der Quay d'Orsay so still, daß man draußen jedes drinnen gesprochene Wort ganz deutlich vernahm, trotz der venezianischen Vorhänge, die den schwingenden Metallklang der redenden Stimme einfingen und dämpften. Sowie ich den Sprecher erkannte, dünkte mich die allgemeine Spannung nicht mehr erstaunlich. Sie war keine bloße Höflichkeit. Und auch das Wagnis, gegen den erlesenen Geschmack des Hauses einmal länger das Wort zu behalten, war mir jetzt nicht weiter wunderbar.
Es redete nämlich der blendendste Plauderer im Reiche dieser Kunst, übrigens ein Meister in noch anderen Dingen. Wenigstens raunten die Klatschbasen oder die Verleumder – wer vermag dieses schlimme Paar auseinanderzuhalten? – einander zu, er sei der Held so mancher seltsamen Geschichte, die er hier wohlweislich nicht zum besten gäbe.
»Die schönsten Romane des Lebens«, sagte er gerade, als ich mich hinter der Gräfin auf meiner Sofaecke niederließ, »sind wirkliche Geschehnisse, die man im Vorübergehen mit dem Ellbogen oder gar mit dem Fuß streift. Wir alle haben deren miterlebt. Romane ereignen sich allerorts, während an der Weltgeschichte teilzunehmen nicht jedem widerfährt. Ich meine nun nicht jene gewaltsamen Schicksalsschläge, jene Tragödien, die kühne übergroße Leidenschaft vor der Nase der ehrbaren öffentlichen Meinung aufführt. Nein, ganz abgesehen von solchen seltenen sensationellen Fällen, die unsere ehedem nur heuchlerische, heutzutage auch noch feige Gesellschaft hin und wieder aufregen, gibt es wohl niemanden unter uns, der nicht einmal Zeuge gewesen wäre des heimlichen und rätselhaften Waltens der Gefühle und Leidenschaften, die dort ein Herz brechen und da ein ganzes Menschenleben vernichten, ohne daß man mehr vernommen hätte als einen dumpfen Laut, den die Welt überhört oder überschreit. Wo man deren Vorgänge am wenigsten vermutet, da geschehen sie. Als ich noch ein kleiner Junge war, habe ich gesehen, nein, besser gesagt, geahnt und erraten, wie sich solch ein grausiges furchtbares Drama im geheimen abspielte, obgleich die Mitspieler tagtäglich vor aller Augen standen. Es war eine blutige Komödie – um mich Pascals Ausdrucks zu bedienen – hinter einem dichten Vorhang, dem Vorhang des häuslichen Lebens. Das wenige, das sich von solchen Vorgängen der Außenwelt offenbart, ist düsterer und macht tieferen Eindruck auf uns, im Augenblick wie in der Erinnerung, als ein ganzes Trauerspiel, das sich offen vor unseren Augen abrollt. Das, was wir nicht wissen, verhundertfacht ja die Wirkung dessen, was wir wissen. Ist es nicht so? Ich bilde mir ein: Die Hölle, mit einem Male überschaut, kann lange nicht so gräßlich sein wie ein Einblick in sie, getan durch ein Kellerloch.«
Hier machte der Erzähler eine kleine Pause. Vielleicht erwartete er Widerspruch, aber er fand auf aller Gesichter nichts denn die größte Spannung. Die junge Sibylle von Mascranny, die ihrer Mutter zu Füßen kauerte, schmiegte sich näher an sie, zusammenschauernd, als sei ihr eine Natter zwischen den kleinen Mädchenbrüsten und dem Mieder durchgeschlüpft.
»Mutter«, flüsterte sie mit der Unbekümmertheit eines verwöhnten Kindes, das zur Tyrannin erzogen wurde. »Sag ihm, er soll uns keine so gruselige Geschichte erzählen!«
»Wenn Sie es wünschen, gnädiges Fräulein, so höre ich auf!« erklärte der noch Schweigende, der die Worte vernommen hatte, die bei allem Freimut doch zart und kindlich klangen. In der Nähe dieser jungen Seele lebend, kannte er ihre Neugier und ihre Furcht. Sie empfand vor allem, was ihr entgegentrat, eine eigentümliche seelische Erregung, ähnlich der, die man körperlich hat, wenn man den Fuß in ein kaltes Bad setzt und man mehr und mehr den Atem verliert, je tiefer man taucht.
Die Baronin strich mit der Hand liebkosend über den Scheitel ihrer so frühreif-nachdenklichen Tochter und sagte:
»Sibylle erkühnt sich wohl nicht, meinen Gästen das Wort zu entziehen. Wenn sie sich fürchtet, so steht ihr das Mittel der Ängstlichen zu Gebote: davonzulaufen!«
Aber das launische kleine Mädchen, ebenso begierig auf die Geschichte wie ihre Mutter, entfloh nicht, sondern richtete sich auf. Ihr magerer Körper bebte vor banger Erwartung, und ihre grundlosen schwarzen Augen hefteten sich auf den Erzähler wie auf einen schrecklichen Abgrund.
»Jetzt wird aber erzählt!« rief Fräulein Sophie von Revistal mit einem strahlenden Blick ihrer braunen Augen, die trotz ihres feuchten Schimmers verteufelt flammten, auf den Zögernden. »Fangen Sie an! Wir sind alle Ohr!«
Und er begann. Ich will mir Mühe geben, die Geschichte nachzuerzählen, wenngleich ich natürlich die Schatten und Lichter der Stimme und die Gebärden des Erzählers nicht wiedergeben kann, ebensowenig wie die starke Wirkung, die er auf alle Anwesenden ausübte.


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Freitag, 22. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (9) - Verbrecherisches Glück (2) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly

Verbrecherisches Glück (2)
Wahre Geschichten kann nur der Teufel erzählen!



Die Gräfin hatte ausgetrunken. ›Danke‹, flüsterte sie. ›Nehmen Sie dies wieder fort!‹
Haute-Claire wandte sich um, mit jener Bewegung, an der ich sie aus Hunderttausenden herausgefunden hätte, und ging mit der Schale aus dem Zimmer. Bis jetzt hatte ich den Grafen mit keinem Blick angesehen. Um so mehr fühlte ich, was mein Blick jetzt für ihn bedeutete. Endlich tat ich es. Ich fand seine Augen starr auf mich gerichtet, aber alsbald lebte ihr Ausdruck von Qual und Pein zur Freiheit auf. Er erkannte, daß ich gesehen hatte, aber nichts gesehen haben wollte. Er atmete auf. Er war meiner tiefsten Verschwiegenheit sicher. Offenbar erklärte er sich mein Benehmen – was mir gleichgültig war – aus dem Bestreben des Arztes, ein vornehmes Haus nicht verlieren zu wollen. Mich bewog vielmehr die Neugier des Beobachters zu meinem Verhalten. Ich wollte nach Haus und gelobte mir Schweigen. Durch mich sollte niemand etwas erfahren. Von jeher ist es mir das höchste Vergnügen, zu beobachten. Jetzt durfte ich dies heimliche Glück in vollen Zügen genießen, in diesem Erdenwinkel, diesem einsamen Schloß, wo ich als Arzt jederzeit Zutritt hatte.
Froh, seiner Besorgnis ledig zu sein, sagte Savigny zu mir: ›Ich bitte Sie, bis auf weiteres jeden Tag zu kommen.‹ Somit konnte ich das Geheimnis des Schlosses ungestört wie eine Krankheit ergründen. Ich fragte mich zunächst, um Licht in das Dunkel zu bringen, wie lange das Verhältnis wohl bestehen mochte. Seit Haute-Claires Verschwinden? War sie schon über ein Jahr Jungfer bei der Gräfin? Wie kam es, daß bisher kein Mensch erkannt hatte, was meine Augen sofort gemerkt?
Alle diese Fragen durchstürmten mich, als ich nach V*** zurückritt. Immer neue Gedanken gesellten sich hinzu. Graf und Gräfin Savigny, die einander anbeteten, wie es hieß, lebten ziemlich zurückgezogen. Schließlich aber kamen dann und wann Gäste. Waren es Herren, so brauchte sich Haute-Claire nicht sehen zu lassen. Und bei Damenbesuch? Die meisten Frauen der Stadt hatten sie, die jahrelang kaum aus ihrem Fechtsaal herausgekommen war, ja nur flüchtig gesehen, von weitem zu Pferd oder in der Messe. Und da hatte sie beständig ihren dichten blauen Schleier getragen. Mit Absicht? Sie gehört zu den ganz stolzen Menschen. Neugier verletzt sie. Sie werden immer undurchdringlicher, je mehr sie sich im Mittelpunkt der allgemeinen Betrachtung fühlen. Und die Dienerschaft, mit der sie wohl oder übel leben mußte, war wahrscheinlich nicht aus V***, sondern von anderswoher.
So beantwortete ich mir alle Fragen, die in mir aufstiegen. Und als ich zu Haus anlangte, da hatte ich einen Turm von mehr oder minder möglichen Vermutungen aufgerichtet. Ich wollte mir den Verhalt aufklären, der jedem Nichtgrübler unentwirrbar scheinen mußte. Eines freilich begriff ich gar nicht, nämlich, daß der Plan Haute-Claires, in der Gräfin Dienst zu treten, nicht an ihrer auffälligen Schönheit gescheitert war. Die Gräfin liebte ihren Mann, mußte also eifersüchtig sein. Indes waren die Aristokratinnen von V*** mindestens ungeheuer hochmütig. Figaros Hochzeit kannten sie nicht. Sie bildeten sich ein, ein hübsches Kammerkätzchen sei ihren Männern nicht mehr als ihnen der schönste Lakai. Zudem, sagte ich mir, als ich absaß, muß die Gräfin doch ihre Gründe haben, sich geliebt zu wähnen. Dieser Savigny ist ganz der Mann, sie in ihrem Wahn zu bestärken, wenn ihr je ein Zweifel käme.«
Ich konnte mich nicht enthalten, den Doktor bedenklich zu unterbrechen: »Das ist alles ganz gut und schön, nimmt aber der Sachlage nicht die Gefahr!«
»Allerdings nicht! Vielleicht hat aber gerade die Gefahr die ganze Lage erst geschaffen.« – Torty war ein großer Kenner der Menschenherzen. »Es gibt Leidenschaften, die erst durch die Gefahr erstehen und gedeihen, ohne sie nicht beständen oder verkümmerten. Im 16. Jahrhundert, im Zeitalter der starken Gefühle, war die Gefahr, die einer Liebe drohte, just die Mutter der großen Leidenschaften. Wenn man aus den Armen der Geliebten kam, lauerte hinter der Tür der Dolch. Oder es holte sich einer den Tod, indem er der Angebeteten verliebt den Muff küßte, den der Ehemann vergiftet hatte. Alles das schreckte aber nicht von der Liebe ab. Im Gegenteil, die beständige Gefahr stachelte sie an. Sie lohte und ward unwiderstehlich! In unserer nüchternen Zeit hat das Gesetz die Leidenschaft unterdrückt. Es bestraft den Ehebruch. Diese Gefahr ist unedel. Darum ist sie für höhere Menschen um so größer. Indem sich Savigny ihr aussetzte, empfand er vielleicht die Wollust der Gefahr, die starke Seelen berauscht.
Wie Sie sich denken können, begab ich mich am anderen Tage zeitig in das Schloß, aber ich bemerkte nicht das geringste. Es ging im Hause her wie in jedem anderen geordneten Hause. Die verkappte Haute- Ciaire erfüllte ihre Obliegenheiten als Dienerin so natürlich, als sei sie für diesen Beruf ausgebildet. Und auch das gräfliche Ehepaar gab mir keinen weiteren Aufschluß über das Geheimnis, das ich aufgespürt hatte.
So viel stand fest, daß Savigny und Haute-Claire eine freche Komödie spielten, mit einer Natürlichkeit und Vollendung, um die Berufsschauspieler sie hätten beneiden können. Und dieses Spiel war auf vorherige Verabredung begonnen worden. Eines anderen Umstandes war ich aber weniger gewiß, und das wollte ich zunächst erkunden. Ahnte die Gräfin wirklich nichts? Und, wenn dem so war, wie lange noch? Aus diesem Grunde wandte ich meine ganze Aufmerksamkeit ihr zu. Da sie krank war, wurde mir das nicht schwer. Ihre Krankheit machte sie sowieso zum Gegenstand meiner Beobachtungen.
Die Gräfin von Savigny war ein echtes Kind der Stadt V***. Es gab für sie nur eines, den Adel. Die übrige Welt war ihr keines Blickes wert. Dieser Standesdünkel war die einzige Leidenschaft der Damen von V***. Fräulein Delphine von Cantor war bei den Benediktinerinnen erzogen worden. Da sie nicht die Spur von wahrer Frömmigkeit in sich hatte, langweilte sie sich dort halb zu Tode. Dann langweilte sie sich zu Hause weiter, bis zu ihrer Verheiratung mit dem Grafen Savigny. Sie liebte ihn. Zum mindesten bildete sie sich das ein. Ein junges Mädchen, das sich langweilt, verliebt sich leicht in den ersten besten, der um sie wirbt. Die Gräfin war eine blasse Frau mit schlappem Fleisch, aber festen Knochen. Ihre milchweiße Haut war mit vielen winzigen Sommersprossen bedeckt, die dunkler als ihr rotblondes Haar waren. Wenn sie mir ihren wie bläuliche Perlmutter geäderten blassen Arm mit dem feinen rassigen Gelenk und dem trägen Pulsschlag reichte, machte sie mir jedesmal den Eindruck einer Dulderin, vom Schicksal bestimmt, als Opfer unter den Füßen einer anderen zertreten zu werden, der stolzen Haute-Claire, die sich vor ihr so weit erniedrigte, daß sie die Rolle ihrer Dienerin spielte. Nur widersprach diesem Eindruck, der sich mir beim ersten Anblick aufdrängte, ihr kräftig vorgeschobenes Kinn und ihre eigensinnige eckige Stirn unter dem glanzlosen Haar. Dieses Kinn in dem schmalen Gesichtchen erinnerte an das der Fulvia auf den römischen Münzen. Ich kam zu keinem Endurteil. Hier konnte der Fuß Haute-Claire sehr wohl straucheln.
Alles in allem schien es mir unmöglich, daß bei diesem Stand der Dinge dem Schloß seine jetzige Ruhe auf immerdar verblieb. Eines Tages mußte ein furchtbarer Sturm kommen. In Erwartung dieses Ereignisses verdoppelte ich meine Aufmerksamkeit bei der jungen Frau. Sie konnte ihrem Arzt nicht ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Wem man sein leibliches Wohl anvertraut, dem öffnet man auch bald sein Herz. Die Gräfin mochte sich also noch so sehr winden und ihre Empfindungen und Gedanken in sich verschließen, eines Tages mußte ich den tiefsten Grund ihres Leidens von ihr selbst erfahren.
So dachte ich bei mir. Aber meine Voraussicht erfüllte sich nicht. Nach ein paar Tagen war ich überzeugt, daß sie nicht im geringsten ahnte, wie ihr Mann und Haute-Claire sie in der Stille und Verschwiegenheit des Hauses hintergingen. War sie blind? Kannte sie keine Eifersucht? Wie verhielt sich das? Im allgemeinen war sie hochmütig zurückhaltend gegen ihre Umwelt. Nur zu ihrem Mann nicht. Ihrer angeblichen Jungfer gegenüber benahm sie sich als gütige Herrin. Sie gab ihre Befehle in der knappsten Form, wie eben eine Dame, die an Gehorsam gewöhnt und dessen sicher ist. Nie erhob sie dabei ihre Stimme lauter denn nötig. Eulalia war eine treffliche Dienerin. Sie, die sich, ich weiß nicht wie, bei ihr eingeschlichen und eingeschmeichelt hatte, umhegte die Gräfin mit jener Sorglichkeit, die niemals die Grenze überschreitet, wo sie lästig wird. Bis in ihre kleinsten Dienstleistungen hinein offenbarte sie eine solche Geschmeidigkeit und ein so feines Verständnis für das Wesen ihrer Herrin, daß man ihre Klugheit und ihren Eifer genial nennen mußte.
Schließlich sprach ich einmal mit der Gräfin über ihre Jungfer. Wenn ich sie bei meinen Krankenbesuchen auf so unbefangene Weise um die Gräfin beschäftigt sah, rieselte mir jedesmal ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Mir war es, als sähe ich eine Schlange, die sich aufrollt und sich streckt und lautlos an das Lager eines schlummernden Weibes heranschleicht. Eines Abends bat die Gräfin ihre Zofe, ihr irgend etwas zu holen. Während sich Eulalia behenden Schritts entfernte, nahm ich diese Gelegenheit wahr, um ein Wort zu wagen, das mir vielleicht Aufklärung verschaffte.
›Die reinen Samtpfoten! Ihre Jungfer ist das Musterbild einer guten Dienerin. Erlauben Sie mir die Frage: woher haben Sie sie? Wohl aus V***.‹
›Ach ja, sie ist nicht übel‹, meinte die Gräfin nachlässig, während sie sich in einem kleinen Handspiegel besah, der einen Rahmen von grünem Samt mit einem Kranz von Pfauenfedern hatte. Sie sah gelangweilt hinein, ganz wie jemand, dessen Gedanken nicht bei seinen Worten sind. ›Ich bin recht zufrieden mit ihr. Aus V*** ist sie nicht. Woher sie aber ist–da fragen Sie mich zu viel, mein lieber Doktor. Wenden Sie sich an den Grafen, wenn Ihnen daran liegt, es zu wissen! Er hat sie mir kurze Zeit nach unserer Heirat besorgt. Als er sie mir vorstellte, hat er mir nur berichtet, daß sie vordem bei einer alten Verwandten von ihm gedient habe. Die Dame war gestorben und Eulalia stellenlos. Auf des Grafen Fürsprache hin habe ich sie angenommen.
Und ich bereue es nicht. Sie ist tadellos. Ich glaube, sie hat nicht einen Fehlern.‹
›Doch, Frau Gräfin!‹ fiel ich heuchlerisch-ernst ein. ›Ich kenne einen an ihr.‹
›So? Und der wäre?‹ kam es gedehnt-teilnahmslos von ihr, wobei sie ihre blassen Lippen weiter andächtig im Spiegel musterte.
›Sie ist zu schön! Viel zu schön für eine Kammerzofe! Eines Tages wird sie Ihnen entführt werden.‹
›Meinen Sie?‹ sagte sie, ebenso gedankenlos und abwesend wie vorher. ›Gewiß, Frau Gräfin. Vielleicht verliebt sich sogar ein hoher Herr in sie! Sie ist so schön, daß sie sogar einem Herzog den Kopf verdrehen könnte!‹
Ich maß meine Worte genau ab, während ich so meine Sonde ansetzte. Wenn ich jetzt nicht auf etwas Greifbares stieß, dann war nichts da.
›In V*** gibt es keinen Herzog‹, erwiderte die Gräfin. Ihre Stirn blieb so glatt wie das Spiegelglas in ihrer Hand. ›Im übrigen, lieber Doktor, lassen sich diese Mädchen nicht halten, wenn sie fort wollen, und wenn man sie noch so gut behandelt.‹ Sie glättete ihre Augenbrauen und fuhr fort: ›Eulalia hat eine angenehme Art, mich zu bedienen. Gleichwohl hüte ich mich, vertraulich mit ihr zu sein; denn, wenn es irgendwie darauf ankäme, fragt sie ebenso wenig wie jede andere darnach, ob ich sie gern habe.‹
Damit war das Kapitel Eulalia für jenen Tag abgetan. Die Gräfin war also vollständig ahnungslos! Wer wäre das nicht auch gewesen? Ich selbst, der ich sie im ersten Augenblick als die Haute-Claire vom Fechtboden erkannt hatte, ich selbst geriet zuweilen in die Versuchung, an die Eulalia zu glauben.
Savigny fand sich mit seiner Rolle bei weitem nicht so leicht, gefällig und ungezwungen ab wie Haute-Claire, obgleich für ihn das Spiel viel einfacher war. Sie aber bewegte sich in ihrem Lügennetz wie der munterste Fisch im Wasser. Ganz gewiß hatte sie ihn lieb und über alles lieb, denn sonst hätte sie wohl ihre einzigartige Stellung nicht aufgegeben, die ihre Eitelkeit befriedigen mußte, weil sie Augen einer ganzen Stadt – für sie die Welt – auf sie richtete. Einmal hätte sie sicherlich unter ihren zahlreichen Bewunderern und Verehrern den Mann finden können, der sie aus Liebe heiratete und ihr die Kreise öffnete, aus denen sie bis dahin nur die Herren kannte. Alles in allem war Savignys Einsatz bei dem Spiel geringer denn der ihre. Sie brachte das größere Opfer. Sein Mannesstolz mußte darunter leiden, daß er seiner Geliebten nicht die Demütigung einer ihrer unwürdigen Stellung zu ersparen vermochte. Darin lag übrigens eine Unstimmigkeit mit der Heißblütigkeit, die man ihm nachsagte. Wenn er Haute-Claire wirklich so leidenschaftlich liebte, daß er ihr seine junge Gattin opferte, dann hätte er sie entführen und in Italien mit ihr leben können. Dergleichen kam schon damals nicht selten vor. Er hätte damit das würdelose Versteckspiel des Doppellebens umgangen. Sollte er gar der weniger liebende Teil sein? Ließ er sich etwa von Haute-Claire lieben, viel mehr als er sie liebte? Oder hatte sie sich auf eigene Faust in seine unmittelbare Nähe gedrängt? Und er fand die Sache keck und reizvoll und ließ es zu? Was ich zwischen Savigny und Haute-Claire wahrnahm, gab mir nur wenig Aufschluß. Daß sie gemeinsame Sünder waren, das stand bei mir fest. Welcher Art aber ihre gegenseitigen Gefühle waren, ihr genaues Verhältnis zueinander, das blieb in diesem Seelenrätsel der dunkle Punkt, den ich zu beleuchten trachtete. Savigny benahm sich gegen seine Frau durchaus einwandfrei. Wenn Haute- Claire anwesend war, beobachtete ich ihn auf das schärfste und entdeckte eine gewisse Unsicherheit in seinem Verhalten, die mir nicht gerade Seelenruhe verriet. Wenn er – zum Beispiel – Haute-Claire, wie es das Einerlei des Alltags mit sich bringt, um ein Buch, eine Zeitung oder sonst etwas bat, so hatte er beim Empfang dieser Dinge eine so merkwürdige Art, daß sie jeder anderen Frau als dem harmlosen ehemaligen Klosterfräulein alles verraten hätte. Ich gewahrte, wie er es beinahe vermied, der Hand Haute-Claires zu begegnen, gleichsam als wäre es ihm bei einer zufälligen Berührung unmöglich, sie nicht festzuhalten.
Haute-Claire ihrerseits war völlig frei von jedweder Verwirrung und überängstlichen Vorsicht. Sie war eine Verführerin wie alle Frauen. Vor ihnen wäre der liebe Gott im Himmel nicht sicher, wenn es einen gäbe, und ebensowenig der Teufel in seiner Hölle! Bisweilen spielte sie sichtlich mit dem Mannessinn und der Gefahr. Einmal, als mein Besuch in die Mittagsstunde fiel, bediente sie während der Mahlzeit, die Savigny getreulich am Bett seiner Frau einnahm. Die anderen Dienstboten betraten das Gemach der Gräfin nicht. Um die Schüsseln auf den Tisch zu setzen, mußte sie sich über Savignys Schulter neigen. Ich ertappte sie, wie sie dabei des Grafen Ohr mit ihrer Brust streichelte. Er ward ganz blaß und sah auf seine Frau, ob sie es bemerkte. Zum Kuckuck! Ich war damals noch in den Jahren, wo man in der Befriedigung der Sinne den ganzen Sinn des Lebens sucht. Ich malte mir in meiner Vorstellung den köstlichen Reiz aus, der in dieser heimlichen und gefährlichen Liebschaft vor den Augen einer betrogenen Frau liegen mußte.
Ich wartete auf den Wendepunkt, auf den Umschwung, der meiner Ansicht nach unvermeidlich war. Bis dahin hatte ich von dem Roman der beiden nur Savignys Erblassen und seine ängstliche Unruhe gesehen. Wie das Rätsel der Sphinx ging mir das nicht aus dem Kopf. Es beherrschte mich so stark, daß ich zu spionieren anfing. Das ist der Auswuchs des Beobachtens. Starke Leidenschaften verderben einen. Um zu ergründen, was ich wissen wollte, erlaubte ich mir allerlei kleine Gemeinheiten, die meiner selbst unwürdig waren, das wußte ich, aber trotz alledem beging ich sie. Ja, ja, Verehrtester, Liebhabereien sind Schwächen! Ich war der meinen verfallen.
Bei meinen Krankenbesuchen auf dem Schloß fragte ich, wenn ich den Gaul am Stall abgab, die Dienerschaft so geschickt über ihre Herrschaft aus, daß sie es gar nicht merkten. Ich spionierte also; anders kann man das nicht nennen. Die Leute hatten indessen ebensowenig eine Ahnung von der Geschichte wie die Gräfin. Sie hielten Haute-Claire allesamt für ihresgleichen. Es sah also aus, als sollte meine schöne Hoffnung auf Befriedigung völlig zuschanden werden. Da kam ein Ereignis, das alle meine Vermutungen weit übertraf und mir einen größeren Einblick in das Geheimnis gewährte als meine ganze bisherige Herumschnüffelei.
Seit acht Wochen besuchte ich die Gräfin, ohne daß sich ihr Zustand besserte. Mehr und mehr machten sich die Anzeichen der Bleichsucht erkennbar. Savigny und Haute-Claire spielten ihre schwierigen Rollen in gleicher Meisterlichkeit weiter, ohne sich durch meine Gegenwart darin stören zu lassen. Nur schien es mir, als seien die beiden Spieler ein wenig matt geworden. Serion war abgemagert. Ich hörte, wie man in V*** sagte: ›Was für ein guter Ehemann der Savigny doch ist! Er sieht schon ganz mitgenommen aus durch die Krankheit seiner Frau! Wundervoll, wenn zwei sich so lieben !‹
Haute-Claire, diese marmorne Schönheit, hatte Schatten unter den Augen. Nicht so, wie man sie vom Weinen bekommt. Denn ihre Augen haben sicherlich ihr Lebtag nicht geweint. Sie hatten Ränder, die von durchwachten Nächten reden. Um so glühender blitzten die Augen aus dem dunklen Rahmen. Übrigens konnten Savignys Magerkeit und Haute-Claires umschattete Augen tausenderlei Ursachen haben. Die beiden lebten doch auf einem Vulkan. Ich beobachtete alle verräterischen Zeichen auf ihren Gesichtern, suchte sie zu deuten und war meist um die Antwort verlegen.
Einmal kam ich von meinem Besuchsgang erst am späten Abend nach Savigny. Eine Wöchnerin in der Stadt hatte mich allzulange aufgehalten. Wie ich am Schlosse eintraf, war es längst zu spät für einen Besuch. Welche Zeit es war, wußte ich nicht; meine Uhr war stehengeblieben. Nach dem Stand des Mondes mußte Mitternacht vorüber sein. Die Sichel herührte mit ihrem unteren Rand beinahe die hohen Tannen von Savigny, hinter denen sie bald versinken mußte ...
Waren Sie öfters in Savigny?« unterbrach sich der Doktor selber, indem er sich plötzlich zu mir hinwandte.
»Jawohl.«
»So! Dann wissen Sie also auch, daß man durch das Tannengehölz und die Schloßmauer entlanggehen muß, wenn man auf dem kürzesten Weg nach V*** will. Wie ich im Dunkel des Gehölzes bin – kein Licht, kein Laut! –, da trifft mit einem Male doch ein sonderbarer Klang mein Ohr, den ich mir zunächst gar nicht erklären konnte. Erst wie ich dem Schloß näher kam, ward mir der Ursprung des Geräusches erkennbar. Es war das Klirren sich kreuzender, kämpfender, einander streifender Waffen. Sie wissen, wie deutlich man in der Stille der dünnen Nachtluft jeden Klang vernimmt. Die leisesten Laute verstärken sich merkwürdig. Mein Ohr hatte mich nicht betrogen. Ein lebhaftes Florettfechten war hörbar. Als ich nun an den Waldrand hinauskam, lag das Schloß im bleichen Mondlicht vor mir. Ein Fenster stand offen. In den waagerechten Lücken der Läden der Balkontür daneben schimmerten Lichtstreifen. Es war ein warmer Juliabend. Aha! dachte ich. Also immer noch die alte Liebe! Ich war mir nicht im Zweifel, daß Serion und Haute-Claire die beiden waren, die nächtlicherweile miteinander fochten. Man hörte klar und deutlich die Klingen, als sähe man sie, und das Aufstampfen der ausfallenden Fechter. Es war in dem Eckturm, der von allen vieren am weitesten von den Gemächern der Gräfin entfernt lag. Das schlafende Schloß, das so still und weiß im Mondenschimmer stand, war wie ausgestorben. Überall Schweigen und Dunkel. Nur in dem entlegenen Turm war Licht und Leben.
Ich parierte meinen Gaul am Rande des Gehölzes zum Halten und lauschte dem lebhaften Waffengang. Dieser seltsame Kampf eines Liebespaares fesselte mich stark. So hatten sie sich ehedem geliebt, und so liebten sie sich noch immer. Auf einmal ward es still. Ein Stoß gegen die Läden, und die Balkontür stand offen. Ich hatte gerade so viel Zeit, mein Pferd in den dunkeln Tann zurückzureißen. Sonst wäre ich in der lichten Nacht bemerkt worden. Serion und Haute-Claire kamen auf den Balkon heraus und traten an das Geländer. Ich sah sie haarscharf. Der Mond war hinter dem Gehölz versunken, aber die Umrisse der beiden hoben sich klar ab gegen das Licht eines Armleuchters, der seinen Schein aus dem Zimmer in das Dunkel warf. Haute-Claire trug die Tracht, in der ich sie in ihrem Fechtsaal so viele Male gesehen hatte: ein knappsitzendes Wams aus Gemsleder, das sie wie ein Panzer umschloß, und ein seidenes Trikot, das ihre schönen Formen liebkoste. Savigny war ganz ähnlich angezogen. Schlank und kraftvoll wie die Verkörperung der Jugend und Gesundheit stand das Paar vor dem erleuchteten Hintergrund in ihren enganliegenden Kleidern, wie nackt. Sie redeten miteinander, über das Geländer gebeugt, aber leise, so daß ich ihre Worte nicht verstand. Ihre Haltung verriet mir aber, was sie sagten. Auf einmal schlang Savigny in leidenschaftlicher Wallung den Arm um den Amazonenleib zu seiner Seite, der für allen Widerstand geschaffen schien und der nicht widerstrebte. Im Gegenteil, beinahe im selben Augenblick warf die stolze Haute-Claire ihre Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn. So bildeten sie eine Wiederholung der berühmten Liebesgruppe von Canova, die jedermann kennt. Mund auf Mund gepreßt küßten sie sich. Endlich gingen die beiden in das Zimmer zurück, noch immer umschlungen. Schwer wallten dunkle Vorhänge hinter ihnen nieder. Ich wagte mich aus dem Gehölz heraus.
Bald wird der Tag kommen, sagte ich mir, an dem die beiden mehr zu verbergen haben als bloß sich selber. Einmal nach solch einer Nacht werden sie mir beichten. Als Arzt zog ich diese Folgerung, nachdem sich mir ihre Verliebtheit, ihre Liebkosungen, soviel verraten hatten. Meine Voraussage ist allerdings am Feuer dieser leidenschaftlichen Menschen zuschanden geworden. Solche Leute bekommen keine Kinder. Anderntags ritt ich nach dem Schloß. Haute-Claire war wieder Eulalia. Sie saß in dem langen Gang vor dem Zimmer der Gräfin in einer Fensternische. Auf einem Stuhl hatte sie einen Haufen Wäsche neben sich zum Nähen und Ausbessern. Die nächtliche Fechterin bei solcher Tagesbeschäftigung! Meinen Schritt kannte sie so genau, daß sie nicht einmal den Kopf hob, um aufzusehen, wer kam. Sie hielt ihn auf ihre Arbeit gesenkt unter der steifen Batisthaube, dem Kopfputz der Normandie, den sie zuweilen trug. Meinen Augen bot sich nur der weiche Nacken, auf dem sich Löckchen kräuselten und lose Begierden weckten. Alles Animalische an dieser Frau ist prachtvoll. Wenige nur besitzen diese Art Schönheit in höherem Maß.
So saß sie meist, wenn ich an ihr vorüberkam. An jenem Tage mußte sie sich aber dazu verstehen, mir ihr Gesicht zu zeigen. Die Gräfin klingelte ihr nämlich, weil ich Tinte und Papier für ein Rezept brauchte. Sie kam. An ihrem Finger saß noch der stählerne Fingerhut. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, ihn abzustreifen. Die eingefädelte Nadel hatte sie an ihren verlockenden Busen gesteckt.
Während ich schrieb, blieb sie vor mir stehen und hielt mir das Schreibzeug mit einer lässigen Bewegung der Unterarme, die mit ihrer Fechtkunst verwandt war. Als ich fertig war, schaute ich ihr in die Augen. Ihr Gesichtsausdruck war müd. In diesem Augenblick kam Savigny in das Zimmer. Er sah noch viel schlaffer aus. Er redete mich an und sprach über den Zustand der Gräfin, die nicht genesen wollte, wie einer, dem die Genesung zu langsam geht. Es sprach ein bitterer heftiger Ton der Ungeduld aus ihm. Während er redete, ging er auf und ab. Ich sah ihn gelassen an. Dieses Benehmen ärgerte mich. Ich dachte bei mir: Wenn ich dir deine Frau kuriere, ist es aus mit eurer nächtlichen Fechterei! Offenbar hatte er allen Sinn für die Wirklichkeit verloren. Ich war nahe daran, ihm ordentlich Bescheid zu geben, begnügte mich aber doch lieber damit, ihn mir nur anzusehen. Das war denn doch der Gipfel der Schauspielerei!«
Wiederum hielt der Erzähler inne und genehmigte umständlich eine Prise. Dann fuhr er fort:
»Er war also höllisch ungeduldig. Aber nicht etwa, weil seine betrogene Frau nicht wieder gesund wurde. Das regte ihn gewiß nicht auf. Er hatte ja seine Liebste im Hause. Die Genesung konnte ihm seine Liaison dangereuse nur erschweren. Gleichwohl ging ihm die Endlosigkeit der Krankheit offenbar auf die Nerven. Er hatte mit einem Ende gerechnet. Der Zeitpunkt, wo ihm oder seiner Geliebten oder vielleicht allen beiden zugleich der Gedanke kam, einzugreifen, weil die Krankheit oder der Arzt versagten, der war wohl zu dieser Stunde.«
»Torty, wollen Sie damit sagen...?« Ich ließ meine Frage unausgesprochen. Die Andeutung hatte mich ergriffen. Er nickte mit dem Kopf und sah mich schicksalsschwer an, wie der steinerne Marschall, indem er Don Juans Einladung zum Nachtmahl annimmt.
»Ja!« gab er langsam und leise zur Antwort. »Wenigstens lief ein paar Tage später die Schreckenskunde durch das Land, die Gräfin wäre an Gift gestorben.«
»An Gift!«
»Ihre Kammerjungfer Eulalia hatte sich in der Flasche versehen und ihrer Herrin anstatt der verschriebenen Arznei Doppeltinte gegeben. Solch ein Irrtum ist nicht unmöglich. Nur wußte ich, daß Eulalia und Haute-Claire eins war. Und ich hatte das Paar als Canova-Gruppe gesehen, damals auf dem Balkon am Turmzimmer. Die Welt wußte davon nichts. Man hatte allgemein zunächst nur den Eindruck eines gräßlichen Unglücks. Zwei Jahre später allerdings, als man erfuhr, daß der Graf von Savigny ›die Stassin‹ geheiratet hatte – es war natürlich längst herausgekommen, wer die falsche Eulalia gewesen war! –, da begannen wie dumpfes Donnergrollen die Verdächtigungen, im Flüsterton, als fürchte man sich, das auszusprechen, was man argwöhnte. Im Grunde wußte nämlich keiner etwas Bestimmtes. Schließlich genügte die Tatsache der unglaublichen Mißheirat, daß man den Grafen von Savigny mied. Und das ist so geblieben bis auf den heutigen Tag. Das Geflüster über den Verdacht schlief schließlich ein. Einen Wisser gab es aber, der seiner Sache sicher war ...«
»Das waren Sie natürlich, Doktor!«
»Allerdings. Aber es hatte noch einen zweiten gegeben, ohne den mein Wissen nur vag geblieben wäre, schlimmer mithin als Garnichtswissen. Ich hätte niemals Sicherheit gewonnen, und die habe ich. Hören Sie nun, wie ich dazu kam!
Selbstverständlich erfuhr ich als erster von der Vergiftung der Gräfin. Mich, den Arzt, mußten die beiden Schuldigen oder Nichtschuldigen wohl oder übel sofort holen lassen. Man ließ dem Stallknecht nicht einmal die Zeit, sein Pferd zu satteln. Ohne Sattel, in rasendem Galopp kam er in V*** an. Im Galopp ging es zurück nach Schloß Savigny. Trotzdem kam ich zu spät.
Savigny empfing mich verstört am Tor. Während ich absaß, erzählte er mir mit einer Stimme, die sich merklich vor den eigenen Worten fürchtete: ›Die Jungfer hat sich versehen ...‹ Er vermied den Namen Eulalia, den am nächsten Tag schon alle Welt im Munde haben sollte. ›Aber sagen Sie, lieber Doktor, Doppeltinte ist doch kein Gift?‹
›Je nachdem !‹ erwiderte ich. ›Es kommt auf ihre Bestandteile an.‹
Er führte mich zur Gräfin. Sie war erschöpft vor Schmerzen. Ihr verzerrtes Gesicht sah aus wie ein weißer Garnknäuel, der in grüne Farbe gefallen war. Schrecklich. Ihr Lächeln mit den schwarzen Lippen war gräßlich anzusehen. Es schien mir, als wollte sie mir sagen: Ich weiß, was du denkst.
Mit halbem Blick spähte ich nach Eulalia. Ich hätte in diesem Augenblick ihr Gesicht zu gern gesehen. Sie war nicht da. Hatte sie bei all ihrem Mut doch Angst vor mir? Zuvörderst hegte ich nur eine unsichere Vermutung. Als ich eintrat, richtete sich die Gräfin mit vieler Anstrengung ein wenig auf.
›Da sind Sie ja, verehrter Doktor! Es ist zu spät. Ich gehöre zu den Toten ...‹ Und zum Grafen gewandt fuhr sie fort: ›Du hättest lieber nach dem Pfarrer schicken sollen, Serion, nicht zum Arzt! Ich bitte dich, laß ihn rasch noch holen und gib Befehl, daß uns jetzt niemand stört. Ich will ein wenig mit dem Herrn Doktor allein sein.‹
Noch nie hatte ich solch ein ›Ich will‹ von ihr gehört. Ihr Kinn und ihre Stirn hatten also Berechtigung.
»Soll ich auch draußen bleiben ?‹ fragte Savigny matt.
›Auch du, mein Lieber!‹ erwiderte sie, und fast zärtlich setzte sie hinzu: ›Du weißt, wie sehr sich Frauen gerade vor denen schämen, die sie lieb haben.‹ Kaum war er fort, da ging eine gräßliche Veränderung mit der Gräfin vor. Die sanfte Zärtlichkeit schlug um in wilde Wut.
›Doktor‹, keuchte sie mit haßerfüllter Stimme, ›mein Tod ist kein Zufall. Ein Verbrechen tilgt mich aus dieser Welt. Serlon liebt Eulalia, und sie hat mich vergiftet. Damals glaubte ich Ihnen nicht, als Sie meinten, sie sei zu schön für eine Jungfer. Das war töricht von mir. Er liebt die Elende, diese Verbrecherin, die mich mordet. Er ist der Schuldigere von beiden, weil er sie liebt und mich mit ihr betrogen hat. Seit ein paar Tagen habe ich alles durchschaut, an den Blicken, die sie über meinem Bett miteinander tauschen. Und dann kam dieses abscheuliche Gift! Ich schmeckte es sofort. Aber ich habe es trotzdem ausgetrunken, bis auf den letzten Tropfen. Denn ich mag nicht mehr leben. Reden Sie nicht von Gegengift! Ich will keins. Ich will sterben.‹
›Dann hätte man mich nicht erst holen lassen sollen, Frau Gräfin‹, erklärte ich.
›Doch‹, hauchte sie. ›Ich wollte Ihnen sagen, daß sie mich vergiftet haben. Und Sie sollen mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie nie einen Verdacht aussprechen. Es gäbe ein fürchterliches Gerede. Das will ich nicht. Sie sind mein Arzt. Man wird Ihnen glauben, wenn auch Sie von einem Versehen reden, mit dem die beiden die Tat bemänteln. Und fügen Sie noch hinzu, daß ich vielleicht zu retten gewesen wäre ohne die lange Krankheit, die meine Widerstandskraft zuvor gebrochen hat. Das müssen Sie mir schwören, lieber Doktor!‹
Ich sagte nichts. Sie erriet meine Gedanken. Ich war nämlich des Glaubens, sie wolle den Grafen schonen. Das erschien mir natürlich; es gibt solche Frauen, deren Liebe und Selbstlosigkeit so tief sind, daß sie selbst den Tod ohne den leisesten Wunsch nach Vergeltung hinnehmen. Allerdings hatte mir die Gräfin von Savigny bisher nicht den Eindruck gemacht, als gehöre sie zu diesen Frauen.
›Was Sie vermuten, das ist es nicht, was mich veranlaßt, Sie um Ihre Verschwiegenheit zu bitten. Ich hasse Savigny, und ich liebe ihn noch. Aber so schlapp bin ich nicht, daß ich dem Verräter vergebe. Unversöhnlich werde ich von ihm scheiden. Aber das ist eine rein persönliche Sache. Ich habe noch andere Rücksichten zu nehmen...‹ Die Kraft ihrer Worte enthüllte mir eine Seite ihres Wesens, die ich wohl geahnt, aber nicht recht ermessen hatte.
›Ich will nicht, daß ein Graf von Savigny nach dem Tode seiner Frau für ihren Mörder gilt. Ich will nicht, daß ein Savigny vor Gericht geschleppt wird als Spießgeselle einer schamlosen Giftmischerin. Ich will nicht, daß ein solcher Schandfleck den guten alten Namen Savigny besudelt, der auch mein Name war. Darum handelt es sich! Nicht um ihn. Er hat den Galgen verdient. Es steht Höheres auf dem Spiel. Eins bedauere ich. Daß die schönen Zeiten vorüber sind, in denen man diese Eulalia in ein Kellerloch geworfen hätte, ohne weiter ein Wort zu verlieren. Aber der Adel hat seine alte Macht nicht mehr. Da ich diese Rache nicht nehmen kann, verzichte ich auf jede andere ...‹
Sie redete klar und bestimmt, trotz des Krampfes ihrer Kiefer.
Ich hatte eine echte Aristokratin der alten Art vor mir.
Tiefer ergriffen, als es einem Arzt geziemt, versprach ich ihr mit einem Schwur, ihren Wunsch zu erfüllen, wenn es mir nicht gelänge, sie noch zu retten.
Ich hielt mein Wort. Gerettet habe ich sie nicht. Ich konnte es nicht; sie verweigerte jedes Gegenmittel.
Als sie tot war, erfüllte ich ihren Letzten Willen und beruhigte die erregten Gemüter. Seitdem sind an die fünfundzwanzig Jahre verflossen. Längst liegt Ruhe, Schweigen, Vergessenheit über der grauenhaften Begebenheit.
Sie sind der erste, dem ich ein Wort von dieser dunklen Geschichte erzähle. Schuld an meiner heutigen Redseligkeit ist allein die Begegnung vorhin. Eine seltsame Fügung des Schicksals, daß die beiden immer noch schönen, glücklichen, leidenschaftlichen, unzertrennlichen Geschöpfe an uns vorübergingen. Die Zeit und das Verbrechen haben ihnen nichts anzutun vermocht. Herrlich wie durch diesen Garten schreiten sie durch das Leben, gleich Wesen, die über dem Irdischen schweben.«
Ich war entsetzt. »Wenn sie wirklich so glücklich sind«, wandte ich ein, »wie Sie mir sagen, so wäre dies ein gräßlicher Widerspruch der Schöpfung.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht!« entgegnete mir der freigeistige Arzt voller Seelenruhe. »Tatsache ist, daß dieses Glück besteht. Die beiden sind die glücklichsten Menschen. Ich bin alt. Mir ist viel fremdes Glück begegnet. Keins war von Dauer. Nur dieses währt bis heute.
Sie dürfen es mir glauben, daß ich gesucht, geprüft und geforscht habe, um die Kehrseite dieses Wunders zu entdecken. Ich habe das Dasein der beiden weiterhin im Auge behalten, in der Meinung, dies empörende Glück müsse in einem geheimen Winkel einen Riß haben, sei er noch so winzig. Ich habe ihn nicht gefunden. Wir stehen vor einem wundervollen Hohn des Teufels gegen Gott. Das heißt, wenn es die beiden gäbe.
Nach dem Tode der Gräfin verblieb ich auf gutem Fuß mit dem Grafen. Da ich die Fabel, die den Giftmord bemäntelte, bestätigt hatte, so hatten sie keinen Grund, mich fernzuhalten. Mir wiederum lag alles daran, die Fortsetzung der Geschichte aus der Nähe zu erleben. Mir schauderte vor den beiden; aber ich überwand mein Grauen.
Zunächst kam nach der Sitte des Landes eine Trauerzeit von zwei Jahren. Savigny benahm sich in dieser Zeit seinem früheren Ruf gemäß, demzufolge er das Muster eines Ehrenmannes gewesen sein sollte. Er verkehrte mit keinem Menschen, sondern verbrachte die Zeit in klösterlicher Einsamkeit auf seinem Schloß. Damals kümmerte sich noch niemand darum, daß Eulalia, die ›unschuldige‹ Ursache des Todes der Gräfin, weiterhin im Schloß blieb. Es hätte sich wohl gehört, daß der Graf gerade sie sofort entlassen hätte, selbst wenn sie schuldlos war. Daß er die Unklugheit beging, sie im Hause zu behalten, war mir ein Beweis für seine mir bekannte unsinnige Leidenschaft. So war ich im Grunde nicht sonderlich erstaunt, als ich von einem Diener des Schlosses gelegentlich erfuhr, daß die Eulalia noch immer da sei. Er berichtete dies so gleichgültig, daß ich daraus ersah: unter den Leuten im Schloß ahnte keiner, daß sie des Grafen Geliebte war. Also spielten sie noch immer ihre Komödie! Warum gingen sie nicht in das Ausland? Er war reich. Er konnte überall im großen Stil leben. Warum machte er sich mit dieser Hexe nicht aus dem Staub?
Die Gründe, daß sie dies nicht getan haben, sind mir noch heute unerschlossen.
Daß die beiden, die ihre Wahlverwandtschaft vom ersten Augenblick des Sich-Sehens triebmäßig erkannt hatten, ihre Verbindung fortsetzen würden, daran hätte ich nicht einen Augenblick gezweifelt, war ich doch Zeuge gewesen, wie sie die Gräfin betrogen hatten. An eine Ehe aber zwischen den beiden dachte ich keineswegs.
Um so größer war meine Überraschung, als ich nach zwei Jahren die vollendete Tatsache erfuhr. Es ging mir nicht allein so. Alle Welt war aufgebracht. Die gute Gesellschaft kläffte vor Wut wie eine Meute ausgesperrter Hunde.
Übrigens war ich während der beiden Trauerjahre, die Serion so streng hielt – was man ihm, wie alles an den Tag kam, als Heuchelei und Gemeinheit anrechnete –, nur selten in Savigny. Was hatte ich dort zu schaffen? Man befand sich wohl und bedurfte meiner Dienste nicht. Dennoch machte ich dem Grafen hin und wieder einen Besuch, aus Höflichkeit und mehr noch aus Neugier. Serion empfing mich, wie es sich fügte, bald hier, bald da, wo er gerade verweilte. Ich merkte ihm keine Verlegenheit an. Er war der liebenswürdige Weltmann, ganz wie einst. Nur ernst war er. Das hatte ich schon oft im Leben beobachtet: glückliche Menschen sind ernst. Behutsam tragen sie ihr Herz vor sich *her wie ein volles Glas, das bei der leisesten Erschütterung überfließen oder entzweigehen kann. Trotz dieses Ernstes und seiner dunklen Kleidung wohnte in seinen Augen grenzenlose Glückseligkeit. Es war nicht mehr jener Ausdruck der Erleichterung und Befreiung, der damals drinnen aufging, als ich am Lager seiner kranken Frau Haute- Claire erkannte und ihm stumm meine Verschwiegenheit gelobte. Nein. Jetzt war es echtes hohes Glück. Zwar plauderten wir bei diesen förmlichen kurzen Besuchen nur von nebensächlichen Dingen. Aber des Grafen Stimme klang nicht mehr wie zu Lebzeiten seiner Frau. Sie war voll und warm geworden. Sie verriet ein starkes Innenleben.
Ehe ich auch Haute-Claire begegnete, verging geraume Zeit. Sie saß nicht mehr mit ihrer Arbeit in der Fensternische, wenn ich den Gang entlang kam. Wohl lagen manchmal ein Bündel Wäsche an ihrem alten Platz, und Schere, Fingerhut und Nähkistchen auf dem Fensterbrett. Verriet das nicht, daß sie noch immer hier arbeitete und ihren Sitz nur verlassen hatte, weil sie mich kommen gehört? Schon vermeinte ich, sie fürchte sich vor meinem forschenden Blick. Den brauchte sie nicht mehr zu scheuen! Wußte sie doch nichts von der gräßlichen Enthüllung, die mir die Gräfin vor ihrem Tode gemacht hatte. Unerschrocken und stolz wie Haute-Claire war, mußte sie eine gewisse Befriedigung darin finden, meinem Forscherblick die Stirn zu bieten. So war es tatsächlich. Schließlich traf ich sie und fand in ihrem Antlitz ein so strahlendes Glück, daß eine ganze Flasche Doppeltinte es nicht ausgelöscht hätte.
Es war auf der großen Schloßtreppe, wo ich ihr zum ersten Male wieder begegnete. Sie kam herunter, ich stieg hinauf. Als sie mich gewahrte, verlangsamte sie ihren ziemlich raschen Schritt. Offenbar wollte sie mir Gelegenheit geben, ihr in das Gesicht zu schauen, in ihre Augen, vor denen sich wohl Pantheraugen schließen, nicht aber die meinen. Wie sie so die Stufen herunterschritt, wehten ihre Röcke um sie und hinter ihr drein, und es war, als schwebe sie vom Himmel hernieder. Überirdisches Glück umfloß sie, zehntausendmal erhabener als das Glück in Serlons Angesicht. Trotzdem ging ich ohne Gruß an ihr vorüber. Mag Ludwig der Vierzehnte jede Kammerzofe auf den Treppen gegrüßt haben! Das waren ja keine Giftmischerinnen! Übrigens war sie an jenem Tage noch als Kammerjungfer gekleidet, mit weißer Schürze. Aber das Unpersönliche der Dienerin war glückhaftem Herrinnenstolz gewichen. Jener Ausdruck ist ihr verblieben. Ich habe ihn vorhin wiedergesehen. Er wird Ihnen auch aufgefallen sein. Er tritt mehr hervor an ihr als selbst die Schönheit ihres Gesichts. So sind sie beide höhere Wesen im Glanz ihrer frohlockenden Überlegenheit. Serlon hatte diesen sonnigen Ausdruck früher nicht. Er hat ihn von ihr. Nach zwanzig Jahren ist er noch da. Er verblaßt oder umwölkt sich keinen Augenblick in den Zügen dieser beiden seltenen Lieblinge des Lebens. Diesen Ausdruck haben sie allem Ungemach siegreich entgegenleuchten lassen: der gesellschaftlichen Acht, dem bösen Gerede, der allgemeinen Anklage. Wer ihnen begegnet und sie anschaut, hält das Verbrechen, dessen man sie beschuldigt hat, für abscheuliche Verleumdung.«
»Doch Ihnen, Doktor«, unterbrach ich ihn, »der Sie alles wissen, Ihnen kann der Schein nichts vormachen. Aber Sie sind den beiden nicht überallhin gefolgt. Sie haben sie nicht zu jeder Stunde gesehen.«
Spöttisch, aber tiefsinnig antwortete mir Torty: »Ich bin überzeugt, auch in ihrem Schlafzimmer zur Nacht geht ihnen die Sonne ihres Glückes nicht verloren. Dahin bin ich ihnen nicht gefolgt. Sonst habe ich sie überall und jederzeit beobachtet, seit ihrer Hochzeit, die sie, ich weiß nicht wo, gefeiert haben, um dem Hallo der Leute von V*** zu entgehen, wo Volk und Adel, jedes in seiner Weise empört war. Nach ihrer Rückkehr als Vermählte war sie die rechtmäßige Gräfin von Savigny, er aber verfemt, weil er eine Dienerin geheiratet hatte. Man tat das Schloß Savigny in Acht und Bann und schnitt das Paar. Man überließ sie sich selber. Mochten sie einander auffressen, bis sie sich sattkriegten! Aber sie haben sich nicht satt bekommen, wie jedermann immer von neuem sehen kann. Mich, als Arzt und Liebhaber menschlicher Merkwürdigkeiten, mich fesseln natürlich diese beiden – Ungeheuer. Das ist der Grund, warum ich nicht zu denen gehöre, die von den Savignys nichts wissen wollen. Als ich der zur Gräfin verwandelten Zofe meinen Besuch machte, war sie in der Tat vom Scheitel bis zur Sohle die Gräfin, als sei sie niemals etwas anderes gewesen. So empfing sie mich. Sie scherte sich den Teufel darum, daß ich sie in weißer Schürze, den Besuchskartenteller in der Hand, im Gedächtnis haben mochte. ›Jetzt bin ich nicht mehr die Eulalia‹, sagte sie mir in ihrer stolzen Haltung, ›sondern Haute-Claire. Und Haute-Claire ist glücklich, daß sie ihm zuliebe die Eulalia gewesen ist.‹
Ich dachte daran, daß sie noch ganz was anderes war. Übrigens war ich der einzige, der so wenig Ehrgefühl besaß, das Paar nach seiner Heimkehr im Schloß aufzusuchen. Mit der Zeit ging ich sogar sehr oft hin. Sie dürfen es mir glauben, daß ich voller Eifer fortfuhr, das Zusammenleben der beiden zu belauern und zu erforschen, die in ihrem Bund so voll des Glückes waren. Ja, Sie mögen mir nun glauben oder nicht, ich habe dieses lichte Glück, das, wie ich so genau weiß, auf ein dunkles Verbrechen begründet war, nicht einen einzigen Augenblick getrübt oder auch bloß beschattet gesehen.
Ist das nicht eine Ohrfeige für alle Sittenprediger, die das schöne Gesetz vom bestraften Laster und der belohnten Tugend erfunden haben? Jene beiden waren geächtet und lebten einsam. Nur von mir wurden sie besucht. Und vor mir, dem zum Hausfreund gewordenen Arzt, legten sie sich keinerlei Zwang auf. Sie vergaßen meine Gegenwart und lebten dabei im Rausch ihrer Leidenschaft, der ich nichts Ähnliches von allem, was ich erlebt und erfahren, an die Seite stellen kann. Sie haben soeben eine kleine Probe davon selbst gesehen; sie streiften uns beinahe im Vorübergehen und doch haben sie mich nicht einmal bemerkt. Es ist nicht das erstemal gewesen, daß sie mich übersehen haben.
Das Glück der beiden hat ihr Gewissen erstickt. Wir stehen hier vor einer Tatsache, die mich ebenso verblüfft hat wie Sie. Es handelt sich um die seltsame Erscheinung eines dauernden Glückes, das gleich einer Seifenblase immer größer und bunter wird, aber nicht wie jene platzt. Glück, das bestehenbleibt, ist an und für sich schon ein Wunder. Glück im Verbrechen ist aber geradezu ungeheuerlich. Zwanzig Jahre laufe ich nun schon darüber den Kopf schüttelnd herum. Der alte Arzt, der alte Beobachter und der alte Moralist und Amoralist – ganz wie Sie wollen! (er hatte mein Lächeln bemerkt) – alle drei stehen sie ratlos vor diesem Schauspiel. Es gibt ein bekanntes Wort, das man allenthalben hören kann: Glück läßt sich nicht sagen. Es läßt sich auch nicht beschreiben. Man kann dieses Einfließen eines höheren Lebens in unser Dasein ebensowenig bildlich darstellen wie das Blut, das durch die Adern strömt. Am Pulsschlag erkennt man, daß es fließt. So ungefähr fühle ich dem unbegreiflichen Glück der beiden den Puls und weiß, daß es da ist. Das Paar erlebt jeden Tag, ohne sich dessen bewußt zu sein, das wundervolle Kapitel von der ehelichen Liebe der Frau von Staël oder auch jene prächtigen Verse aus Miltons ›Verlorenem Paradies‹.
Das Schicksal, ein guter Stern, der Zufall – oder was weiß ich? – hat es so gefügt, daß sie füreinander leben dürfen. Sie sind reich, haben also die Beschaulichkeit, ohne die es einsames Glück nicht gibt, an der es auch oft zugrunde geht. Doch ihrem Glück hat sie nichts angetan. Sie hat nur alles Überflüssige darin getilgt und dem Dasein der beiden eine wundervolle Einfachheit verliehen. Große Ereignisse gibt es für sie nicht. Sie leben so recht als Schloßinsassen, in einem Reich für sich, fern der Welt, mit der sie nichts zu tun haben und deren Hochachtung wie Geringschätzung sie gleich kühl läßt. Sie trennen sie niemals. Wohin der eine geht, dahin folgt der andere. Wie zu Lebzeiten des alten Fechtmeisters sieht man Haute-Claire wieder zu Pferd in der Umgegend von V***. Ihr zur Seite den Grafen. Wenn die Frauen der Stadt sie so sehen, recken sie ihre Hälse noch mehr denn ehedem nach dem geheimnisvollen jungen Mädchen im undurchdringlichen dunkelblauen Schleier. Jetzt zeigt sie den Leuten kühn das Antlitz der ›Dienerin, die es verstanden hat, den Grafen einzufangen‹. Entrüstet und nachdenklich gehen die Frauen ihrer Wege.
Das gräfliche Paar macht keine Reisen. Zuweilen kommen sie nach Paris. Aber sie bleiben stets nur ein paar Tage. Ihr Leben spielt sich gänzlich im Schloß Savigny, dem Schauplatz jenes Verbrechens ab, das ihre abgrundtiefen Herzen wohl vergessen haben.«
»Sie haben keine Kinder, nicht wahr?« fragte ich.
»Ach so«, erwiderte Torty. »Sie meinen, das sei der wunde Punkt, die Vergeltung, die Rache oder das Gottesgericht, wie man das so nennt. Allerdings, sie haben keine. Einmal wagte ich Haute-Claire zu fragen: ›Betrübt es Sie nicht, Gräfin, daß Sie keine Kinder haben?‹ – ›Ich will keine‹, gab sie mir entschieden zur Antwort. ›Dann könnte ich Serlon nicht mehr mit meinem ganzen Herzen lieben.‹ Und beinahe verächtlich fügte sie hinzu: ›Kinder sind gut für unglückliche Frauen.‹«
Mit diesem tiefsinnigen Spruch brach Torty seine Erzählung ab. Die Geschichte hatte mich ergriffen. Und ich sagte zu ihm:
»Haute-Claire ist eine Verbrecherin, gleichwohl eine verführerische Frau. Ohne ihre Schandtat könnte ich Serlons Liebe verstehen.«
»Besser noch mit ihrer Schandtat!« brummte der unerschrockene Biedermann. »Ich begreife den Grafen!«


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Donnerstag, 21. November 2013

Literaturgeschichte: Prosa aus der Zeit des Ersten Weltkrieges



Krieg – von allen Seiten
Prosa aus der Zeit des Ersten Weltkrieges

Herausgegeben von Wilhelm Krull

222 S., geb., Schutzumschlag,
ISBN: 978-3-8353-1346-0 (2013)



Von Paul Zech bis Ernst Jünger – der Erste Weltkrieg in der Literatur von 1912 bis 1922.

Von wenigen als drohendes Unheil vorausgesehen, von vielen als willkommenes Abenteuer herbeigesehnt, wurde der Erste Weltkrieg zu einer tiefen Zäsur menschlicher Ohnmachtserfahrung. Überall war Krieg – zu Wasser, am Boden und erstmals auch in den Lüften. Die maschinell geprägte Kriegsführung und das Massensterben auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben ließen auch die Überlebenden existenziell erschüttert und orientierungslos zurück.
Der Band enthält Erzählungen und Tagebucheintragungen von Autoren wie Walter Flex, Leonhard Frank, Ernst Jünger, Egon Erwin Kisch, Wilhelm Lamszus, Andreas Latzko und Paul Zech. Er vermittelt dem Leser einen Einblick in das breite Spektrum höchst unterschiedlicher Positionen und Reaktionen aus der Zeit von 1912 bis 1922.

Prosa: TEUFELSKINDER (9) - Verbrecherisches Glück (1) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Verbrecherisches Glück (1)
Wahre Geschichten kann nur der Teufel erzählen!

Im vergangenen Jahr an einem Herbstmorgen schlenderte ich mit dem Doktor Torty, einem meiner ältesten Bekannten, durch den Zoologischen Garten. Er war in meiner Kindheit Arzt in V*** gewesen und hatte seinen angenehmen Beruf an die dreißig Jahre ausgeübt. Und als er seine »Veteranen« – wie er sie nannte – nach und nach allesamt in das Jenseits befördert hatte, nahm er keine neuen Patienten mehr an. Er war ergraut und liebte die Freiheit über alles, wie ein Gaul, der immer am Zügel gegangen ist und sich schließlich einmal davon losmacht. So war er nach Paris gekommen und hatte sich dicht beim Zoologischen Garten, wenn ich nicht irre, in der Cuvierstraße, niedergelassen. Er übte seine Kunst nur noch zu seinem Vergnügen aus. Dies war groß, denn er war Arzt mit Leib und Seele, hervorragend in seinem Fach, zudem ein feiner Beobachter, und das nicht bloß in physiologischen und pathologischen Fällen.

Sind Sie ihm nicht zuweilen begegnet? Er war eine kühne Kraftnatur und griff niemanden mit Glacéhandschuhen an, aus dem sehr einfachen Grund, weil man besonders als Arzt die Dinge beim rechten Namen nennen muß. Er gefiel mir außerordentlich, und wohl gerade wegen der Seiten, die den anderen am wenigsten behagten. Es stand in der Tat so, daß die Leute, solange sie gesund waren, diesen derben Sonderling von Arzt nicht ausstehen konnten. Wurden sie aber krank, so hatten sie höllische Hochachtung vor ihm, ungefähr wie die Wilden vor dem Schießgewehr des Robinson, aus Angst vor dem Tod. Man wußte ganz genau: nur er konnte helfen. Ohne diese bedeutsame Erkenntnis hätte Torty nie und nimmer seine zwanzigtausend Franken Zinsen im Jahr, denn in jenem altmodischen Frömmlernest hätte man ihm einfach den Stuhl vor die Tür gesetzt, wenn man ihn nicht eben gebraucht hätte. Darüber war er sich völlig klar. Es hatte ihn nie berührt. Er spottete sogar darüber. »Sie mußten sich wohl oder übel«, pflegte er zu sagen, »für mich oder die letzte Ölung entscheiden. Und bei aller Frömmigkeit zogen sie mich doch schließlich den heiligen Sakramenten vor.« Das ist übrigens ein Beispiel, wie wenig sich der Doktor ein Blatt vor den Mund nahm. Sein Witz verstieg sich zuweilen ins Lästerliche. Wissenschaftlich war er ein treuer Anhänger von Cabanis, und wie sein alter Freund Chaussier gehörte er zu jener Klasse von Heilkünstlern, die als pure Materialisten verschrien sind. Dazu war er ein Zyniker, dem nichts heilig war, und der mit einer Herzogin genauso natürlich und gemütlich plauderte wie mit dem geringsten Marktweib. Hier eine kleine Probe von Tortys Art. In einer glänzenden Abendgesellschaft meinte er einmal, nachdem er die Prunktafel mit ihren hundertundzwanzig Gästen mit seinem Herrscherblick überschaut hatte: »Die leben alle von meiner Gnade!« Es fehlte dem Doktor an jedwedem Respekt. Das gab er selber zu, indem er sagte: »Wo der Respekt bei andern Leuten im Schädel sitzt, da ist bei mir ein Loch!« Er war alt, über die Siebzig, stark und vierschrötig. Unter der hellbraunen Perücke mit dem glänzenden kurzgeschorenen Haar blitzten aus seinem Spöttergesicht ein Paar durchdringende gläserlose Augen. Er kleidete sich zumeist grau oder braun. Dadurch ähnelte er weder in der Haltung noch im Wesen den geschniegelten Pariser Ärzten in ihren schwarzen Röcken und weißen Binden. Er war aus anderem Holz. Mit seinen hirschledernen Handschuhen und den doppelsohligen Stiefeln, in denen er wuchtigen Schritts einherging, hatte er etwas von einem alten Ritter. Der war er auch. In den dreißig Jahren seiner Landpraxis hatte er manche Stunde im Sattel verbracht. Kein Weg war ihm zu schlecht gewesen. Das verriet sich noch immer in der Art, wie er seinen mächtigen Oberkörper aufreckte, der unerschütterlich auf den Schenkeln saß und sich auf kräftigen Beinen wiegte, die kein Zipperlein kannten. Er war wie der alte Lederstrumpf, Coopers Held in den Wäldern Amerikas, ein Naturmensch, unberührt von den Vorschriften der Herkömmlichkeit. Als unerbittlicher Beobachter war er schlecht und recht zum Menschenfeind geworden. Das war Schicksalstücke. Indes hatte er auf seinen langen Ritten durch Schmutz und Schlamm genug Muße gefunden, erhaben über den Dreck des Lebens zu werden. Er ereiferte sich über kein Laster. Er verachtete die menschliche Natur ganz einfach ebenso gleichmütig, wie er seinen Tabak schnupfte. Ja, beides tat er mit dem nämlichen Behagen.
Das war der Doktor Torty, mit dem ich durch den Zoologischen Garten bummelte.
Es war ein Herbsttag, so hell und klar, daß selbst den Schwalben die Reiselust verging. Die Notre-Dame verkündete den Mittag, und die ernsten Glockentöne zitterten in lichten Schwingungen den grünen brückenreichen Strom entlang über unsere Häupter hinweg. Das schon braune Laub hatte den bläulichen Hauch veratmet, in den der leichte Morgennebel es getaucht. Die gütige Oktobersonne wärmte uns beiden angenehm den Rücken, während wir vor dem Käfig der berühmten schwarzen Pantherin verweilten, die im Jahre darauf an der Lungenschwindsucht gestorben ist wie ein junges Mädchen. Um uns herum stand das Publikum, wie man es gewöhnlich in einem Zoologischen Garten findet, Leute aus dem Volk, Soldaten und Kindermädchen, die sich mit Vorliebe vor den Käfigen herumtreiben und sich daran ergötzen, den trägen, hinter ihren Eisengittern blinzelnden Tieren Nuß- und Kastanienschalen vorzuwerfen. Die Pantherin, vor der wir bei unserem Gang gelandet, stammte von der Insel Java, also dem Erdenwinkel, wo die Natur am kraftvollsten ist. Java gleicht selber einem mächtigen Raubtier, das der Mensch nicht zu zähmen vermag, das ihn aber immer wieder an sich lockt trotz aller Gefahren, die sein grausigüppiger Boden birgt. Auf Java sind die Blumen in den Farben glühender, im Duft berauschender denn irgendwo sonst auf Erden, die Früchte aromareicher, die Tiere schöner und stärker. Aber von dieser Lebensfülle hat nur die rechte Vorstellung, wer den tödlichen Dunst dieses traumschönen Landes mit der eigenen Lunge eingeatmet hat. Die Pantherin war eine prächtige Vertreterin der Schrecknisse Javas. Nachlässig auf ihre feingeformten Tatzen hingestreckt, lag sie da, mit erhobenem Kopf und smaragdgrünen unbewegten Augen. Nicht ein helles Fleckchen hob sich an ihrem schwarzsamtnen Fell ab. Es war so dunkel und dicht, daß sich darin nicht einmal die darüber hingleitenden Sonnenlichter fingen, sondern dies stumpfe Schwarz trank das Licht wie ein Schwamm das Wasser. Das war geschmeidige Schönheit, volle Kraft, noch im Ruhen furchtbar, erhabene Überlegenheit, ein Gipfel der Schöpfung. Wandte man seinen Blick von diesem Tier auf die armselige gaffende Menschheit davor, so war's wahrlich nicht der Mensch, der den Sieg davontrug. Die Bestie war es. Eine demütigende Erkenntnis!
Ich gestand dem Doktor gerade leise meine Beobachtung, als auf einmal zwei Menschen den Schwarm der Leute vor dem Käfig durchschritten und sich dicht vor die Pantherin stellten.
»Gewiß«, erwiderte mir Torty. »Aber sehen Sie jetzt einmal hin. Das Gleichgewicht zwischen den beiden Gattungen ist wiederhergestellt!«
Ein Herr und eine Dame. Beide hochgewachsen und, wie ich auf den ersten Blick erkannte, aus der ersten Pariser Gesellschaft. Beide nicht mehr jung, gleichwohl beide erlesen schön. Er mochte siebenundvierzig, sie etwa vierzig sein. Beide hatten also die »Linie« überschritten – wie die Seeleute sagen, wenn sie über den Äquator fahren –, jene Linie, die verhängnisvoller ist als der Gleicher der Erde und die man auf dem Meere des Lebens nur einmal überschreitet und nie wieder. Um derlei hatten sich die beiden sichtlich keine Sorge gemacht. Auf ihrer Stirn brütete kein bißchen Trübsal. Auch nirgends sonst. Der schlanke Mann sah in seinem sorgfältig zugeknöpften schwarzen Gehrock aus wie ein vornehmer Offizier, wie ein Patrizier aus einem Gemälde Tizians. Er hatte frauenhafte hochmütige Züge. Sein Schnurrbart war an den Spitzen ergraut. Das Haar trug er ganz kurzgeschoren. Seine Ähnlichkeit mit einem Kavalier vom Hofe Heinrichs des Dritten erhöhten zwei tiefblaue Saphire, die er als Ohrschmuck trug. Bis auf diese kleine Lächerlichkeit – wie die Welt sagen würde –, die nur ein Zeichen war, daß ihr Träger die Mode des Tages und die öffentliche Meinung geringschätzte, war er völlig Dandy, wie Stendhal ihn auffaßt, also einfach und unauffällig. Und doch fiel er auf, allein durch seine Vornehmheit. Und meine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte er auch auf sich gezogen, wenn ihm zur Seite nicht die Dame gestanden hätte, die noch bemerkenswerter war als ihr Begleiter und mich viel stärker und ganz fesselte. Sie war beinahe so lang wie er und ebenfalls völlig in Schwarz gekleidet. Unwillkürlich fiel mir die große schwarze Isis im Ägyptischen Museum im Louvre ein, angesichts ihrer Üppigkeit, ihrer Kraft und ihres geheimnisvollen Stolzes. Seltsam! Bei diesem schönen Paar hatte sie die Muskeln und er die Nerven. Ich sah sie zunächst nur im Profil. Und das gilt ja als der Probierstein der Schönheit. Es kam mir vor, als hätte ich nie zuvor einen reineren und edleren Schnitt gesehen. Ihre Augen vermochte ich nicht zu beurteilen, da sie auf die Pantherin gerichtet waren. Ihr Blick wirkte hypnotisch auf das Tier und war ihm unangenehm. Je länger die Frau es anblickte, desto schläfriger wurde es. Wie eine Katze im blendenden Sonnenlicht blinzelte die Bestie, ohne den Kopf auch nur leise zu bewegen, ein paar Mal mit den Augen, als vermöchte sie dem Blick der Frau nicht mehr standzuhalten, und ließ schließlich die Lider über ihre beiden grünen Augensterne niederfallen. Sie verschanzte sich.
»Aha! Panther gegen Panther!« raunte mir der Doktor zu. »Aber die Seide ist stärker als der Samt.«
Die Frau trug ein schimmerndes Seidenkleid. Der Doktor hatte recht! Die schwarze geschmeidige königlich schöne Fremde teilte alle diese Eigenschaften mit der Pantherin. Nur sprach aus ihr etwas noch viel Verführerischeres. Wie eine Menschenpantherin stand sie vor der Tierpantherin, ihr überlegen. Diese Überlegenheit hatte das Raubtier sichtlich verspürt, als es die Augen schloß. Aber die Frau begnügte sich nicht mit ihrem Sieg, wenn man es so nennen darf. Frauen sind nicht so edelmütig. Sie wollte, daß ihre Nebenbuhlerin sehen sollte, wer sie demütigte. Sie knöpfte den langen violetten Handschuh auf, der ihren herrlichen Unterarm umschloß, streifte ihn ab, und wagehalsig versetzte sie damit zwischen zwei Gitterstäben hindurch dem Tier einen Schlag über den Rachen. Die Pantherin machte nur eine einzige rasche Bewegung. Ihre Zähne blitzten auf. Ein Schrei! Jedermann glaubte, die verwegene Hand sei verloren. Das mißhandelte Tier hatte nur den Handschuh gepackt und verschlungen. Es lauerte mit weitaufgerissenen Augen und zitternden Nasenflügeln. »Törin!« sagte der Herr und erfaßte das Handgelenk, das dem gräßlichen Biß entronnen war. Sie wissen, in welchem Ton man zuweilen »Törin!« sagt. So sagte er es. Und dann küßte er die Hand zärtlich.
Da er nach uns zu stand und sie ihm bei seiner Huldigung zusah, so machte sie eine dreiviertel Wendung. Jetzt sah ich ihre Augen, diese Augen, die wilde Tiere bändigten und die im Augenblick durch einen Mann gebannt wurden: zwei große schwarze Diamanten, die allen Stolz der Welt ausstrahlten und die doch nur Liebe und Anbetung verkündeten, indem sie auf ihm ruhten. Sie waren wie ein Märchen, diese Augen. Der Herr behielt den Arm, der der Wut des Tieres entgangen war. Innig drückte er ihn an sein Herz und führte die Dame in die Hauptallee, gleichgültig gegen das Gemurmel und die Ausrufe der Zuschauer, deren Aufregung über den Vorfall sich nicht legen wollte. Die beiden gingen dicht an uns vorüber, hatten aber nur Teilnahme füreinander. Als ob sie die Erde unter ihren Füßen nicht bemerkten, so schritten sie dahin, wie höhere Wesen, gleichsam in einer Wolke, wie die Götter Homers.
Dergleichen sieht man selten in Paris. Darum schauten wir dem seltsamen Paar nach. Ein herrliches Bild, wie die beiden ineinander versunkenen Gestalten im Sonnenlicht dahinwandelten. Am Eingangstor harrte ihrer ihr rappenbespannter Wagen.
»Weltvergessende Menschen!« sagte ich zu Torty.
»Du lieber Gott«, erwiderte er mir mit seiner scharfen Stimme. »Die Welt ist den beiden gleichgültig. Sie hören und sehen nichts, nicht einmal ihren alten Hausarzt. Toll!«
»Hausarzt! Das sind Sie? Dann müssen Sie mir schleunigst sagen, wer die beiden sind.«
Torty antwortete indes nicht sofort. Der Schlaumeier wartete eine Weile, um dann mit um so mehr Wirkung zu sagen:
»Philemon und Baucis!«
»Unsinn! Ein bißchen zu vornehm und zu wenig antik, dieser Philemon und diese Baucis! Nein, Doktor, sagen Sie doch, wer sind die beiden?«
»Haben Sie nie in Ihrer Gesellschaft, in der ich nicht verkehre, vom Grafen und der Gräfin von Savigny gehört, als dem Muster fabelhafter ehelicher Treue?«
»Niemals! Von ehelicher Treue spricht man unter meinen Bekannten nicht viel.«
»Freilich«, meinte Torty, mehr als Antwort auf seine Gedanken, denn auf meine Wißbegier. »In Ihrer Welt, die auch die der beiden ist, schweigt man so mancherlei tot. Die beiden gehören in die Gesellschaft, und sie gehören auch nicht hin. Sie verleben beinahe das ganze Jahr in ihrem alten Schloß Savigny. Dereinst lief ein Gerücht über sie um, und seitdem ist der Name Savigny im Faubourg Saint-Germain vergessen.«
»Ein Gerücht? Welcher Art? Doktor, Sie müssen mir erzählen!«
»Was das Gerede anbelangt«, sagte Torty und nahm nachdenklich eine Prise. »Dieses Gerede hat man schließlich in das Reich der Fabel verwiesen. Es ist längst Gras darüber gewachsen. Und was die Liebesheirat betrifft, so wird, vermute ich, man den jungen Damen in V*** nicht allzuviel davon erzählen, obgleich solch Glück den hochehrsamen Müttern in der Provinz der Traum aller Träume für ihre Töchter ist.«
»Nannten Sie das Paar nicht Philemon und Baucis?«
»Ganz recht! Aber vielleicht nennen wir diese Baucis doch besser Lady Macbeth!« Dabei fuhr er sich mit dem gekrümmten Zeigefinger über seine Habichtsnase.
Nochmals bat ich so einschmeichelnd, wie ich es nur konnte: »Doktor, nun erzählen Sie mir aber endlich die Geschichte!«
»Der Arzt ist auch der Beichtvater der Neuzeit«, begann Torty feierlich. »Er ist an die Stelle des Priesters getreten. Und so muß er die Geheimnisse seiner Beichtkinder wahren wie ein Priester.« Dabei sah er mich verschmitzt an, denn er kannte meine Vorliebe für den Katholizismus, dessen Feind er war. Er lachte. Er hielt mich für überwunden. »Na, ich will es also wahren wie – ein Priester! Kommen Sie!« Wir gingen ein Stück die große Allee hin. Nachdem wir uns dort auf eine Bank mit grüner Lehne gesetzt hatten, begann Torty: »Ich muß weit zurückgreifen. Es war in den ersten Jahren nach der Restauration des Königtums. Da kam ein Garderegiment durch V***, das aus irgendeinem militärischen Grund zwei Tage in der Stadt verblieb. Die Offiziere hatten den Einfall, der Stadt zu Ehren ein Fechterfest zu veranstalten. Die Stadt war dieser Ehre würdig. ›Königstreuer als der König‹, hieß es damals von ihr. Unter ihren fünf- bis sechstausend Einwohnern wimmelte es von Adligen. Ein paar Dutzend junger Leute aus den ersten Familien dienten in der Garde. Man kannte die einquartierten Offiziere allesamt. Und noch etwas anderes hatte das kriegerische Fest angeregt. Das war der alte Ruf der Stadt, die ehedem La bretteuse (die Raufboldin) benamst war und auf diesen Namen auch zurzeit noch einen gewissen Anspruch hatte. Wohl hatte der Umsturz von 1789 den Adel seines Rechts beraubt, den Degen zu tragen. In V*** bewies man, daß man ihn sehr gut zu führen verstand, wenn man ihn auch nicht tragen durfte. Das Fechterfest fiel glänzend aus. Die guten Klingen der ganzen Gegend scharten sich. Dazu eine Menge Liebhaber, insbesondere das jüngere Geschlecht, das diese schwierige Kunst nicht so pflegte, wie man es ehedem getan. Die jungen Leute begeisterten sich derartig für die Waffe, die ihren Vätern so viel Ruhm eingetragen hatte, daß es dem alten Fechtmeister des Regiments, der die drei- bis vierfache Dienstzeit hinter sich hatte und mit Schrammen bedeckt war, in den Sinn kam, in V*** eine Fechtschule aufzutun. Das dünkte ihn eine gute Zuflucht auf seine alten Tage zu sein. Er meldete seinen Plan dem Obersten. Der war damit einverstanden und verschaffte ihm den Abschied. Der Gedanke des Fechtmeisters – er hieß Stassin und mit dem Spitznahmen ›Der Aufspießer‹ – erwies sich als einfach großartig. Es gab seit langem in V*** keinen rechten Paukboden mehr, zum Leidwesen des Adels. Entweder mußten die alten Herren ihren Söhnen selber das Fechten beibringen oder sie durch irgendwelchen fahrenden Gesellen unterrichten lassen, der meist sein Handwerk schlecht oder gar nicht verstand.
Sie wollten keine Stümpfer sein, die guten Leute von V***. Sie hegten das Heilige Feuer. Es genügte ihnen durchaus nicht, einen Gegner einfach ins Jenseits zu befördern. Dies mußte auch nach wissenschaftlichen, kunstgerechten Regeln geschehen. Es kam ihnen vor allem darauf an, daß man ein eleganter Fechter war. Grobe Draufgänger, so gefährlich sie einem als Gegner sein können, standen bei ihnen in tiefster Verachtung. Stassin führte eine feine Klinge. Dazu gehört nicht bloß Schule, sondern Anlage. Stassin war in seiner Jugend ein schöner Mann gewesen und war es noch. Er hatte alle Fechtmeister seiner Zeit geschlagen und manchen Preis davongetragen. Begreiflicherweise war ganz V*** voller Bewunderung für ihn. Mehr noch. Nichts gleicht Standesunterschiede mehr aus als der Degen. Ehedem adelte der König den Mann, der ihn gelehrt hatte, ihn zu führen. War es nicht Ludwig der Fünfzehnte, der seinem Fechtmeister Danet – er hat uns ein Buch über die Fechtkunst hinterlassen – ein Wappen mit vier Lilien zwischen zwei gekreuzten Degen verliehen hat? Angesichts eines so königlichen Beispieles ließen die braven Provinzedelleute von V*** sich nicht lumpen. Es dauerte nicht lange, so behandelten sie den alten Fechtmeister ganz als ihresgleichen.
So weit ging alles vorzüglich. Stassin war wirklich ein Glückspilz. Aber das Unglück kam nachgehinkt. Es zeigte sich, daß unter dem rotledernen Brustpanzer, den der alte Meister in den Fechtstunden trug, noch ein sehr junges Herz schlug. Und dieses Herz spielte ihm einen Streich, ausgerechnet in V***, wohin er sich wie in einen Hafen zurückgezogen hatte.
Als napoleonischer Soldat war er in aller Herren Ländern herumgekommen. Überall hatte er die hübschen Mädels, die ihm der Teufel über den Weg geführt, ohne Ausnahme abgeküßt, in die Arme genommen und wieder laufen lassen. Und das Ende vom Liede war, daß er, über die Fünfzig hinaus, in aller Form, standesamtlich und mit dem Segen der Kirche, eine der Jungfrauen der guten Stadt V*** ehelichte. Neun Monate später – alles richtig auf Tag und Stunde – schenkte sie ihm ein Kind, ein Mädchen. Das ist das Götterweib geworden, das uns vorhin beim Vorübergehen so großartig übersehen hat. Das war die Tochter des alten Fechtmeisters.«
»Die Gräfin von Savigny!« rief ich erstaunt.
»Jawohl, die Gräfin von Savigny höchstselbst! Wer wird nach dem ›Woher?‹ fragen! Das darf man weder bei Frauen noch bei Völkern. Niemals nach der Wiege forschen! In Stockholm habe ich mir die von Karl dem Zwölften einmal angesehen. Sie sieht aus wie eine rot angestrichene Pferdekrippe und wackelte auf allen vier Beinen. Und was für ein Haudegen ist da herausgekrochen! Ich meine, alle Wiegen sind kleine Ställe, die gar nichts Romantisches an sich haben, wenigstens nicht, solange das Kind noch drinnen liegt.«
Der Doktor bekräftigte seine kernige Rede, indem er sich mit seinem Lederhandschuh auf seinen festen Schenkel schlug. Dann machte er eine Pause. Da ich seiner Weltanschauung nichts entgegenzusetzen hatte, fuhr er nach einer kleinen Weile fort:
»Alte Soldaten sind immer in Kinder vernarrt, und wenn es fremde sind. Stassin war es in das seine. Das ist nichts Verwunderliches.
Stassins erste Sorge war, seinem Kinde einen Paten unter den Adligen auszusuchen, die bei ihm aus- und eingingen. Er wählte den Grafen von Avice, den ältesten aller der vornehmen Kenner der Waffen und der Welt, der während der Emigration in London selber Fechtunterricht erteilt hatte, die Stunde zu ein paar Talern: Dieser Graf von Avice, Ritter des Ludwigsordens und Rittmeister a. D., war jetzt mindestens ein Siebziger. Gleichwohl übertrumpfte er noch immer alle jungen Fechter. Er schätzte Stassin ungemein und duzte sich sogar mit ihm. ›Die Tochter eines Mannes wie du‹, sagt er, ›muß unbedingt den Namen eines Heldenschwertes tragen. Wir werden sie Haute-Claire (Alte- Klare) taufen lassen.‹ Und so geschah es auch, trotz der Widerrede des Pfarrers, der einen so ungewöhnlichen Namen noch nie an seinem Taufbecken ausgesprochen hatte. Da aber der Graf von Avice Taufpate war und trotz aller Stänkereien der Liberalen unzerstörbare Bande zwischen dem Adel und der Geistlichkeit ewiglich bestehen, und da überdies im katholischen Kalender eine heilige Claire verzeichnet ist, so ging der Name von Oliviers berühmtem Schwert auf das Kind über, ohne daß sich die Stadt darob besonders aufregte.
Ein solcher Name birgt in sich ein besonderes Schicksal. Der Fechtmeister, der seine Kunst beinahe ebenso lieb hatte wie seine Tochter, beschloß, sie im Fechten zu unterweisen und ihr seine Künste als Mitgift zu hinterlassen. Eine magere Mitgift in unserer anspruchsvollen Zeit! Sobald die Kleine stehen konnte, fing er die Übungen mit ihr an. Und da sie Gliedmaßen wie aus Stahl hatte, entwickelte sich ihr Körper so rasch und so wundervoll, daß sie mit zehn Jahren für fünfzehn gehalten wurde. Bald nahm sie es im Fechten mit ihrem Vater und mit den besten Fechtern von V*** auf. Überall redete man von der kleinen Haute-Claire Stassin und später von dem Fräulein Haute-Claire Stassin. Am neugierigsten waren natürlich die jungen Damen der Stadt, die selbstverständlich mit der Tochter eines Fechtmeisters nicht verkehrten, wenn er auch noch so nett von ihren Vätern behandelt wurde. In ihre Neugier mischte sich ein gut Teil Neid und Gehässigkeit, denn ihre Väter und Brüder redeten voller Bewunderung und Entzücken von diesem heiligen Georg in Weibesgestalt als dem Inbegriff von Schönheit und Fechterkunst zugleich. Diese Neugierigen hätten sich Haute- Claire gern einmal recht in der Nähe angesehen, aber sie bekamen sie nur aus der Ferne zu Gesicht.
Ich kam damals gerade nach V*** und war nicht selten Zeuge dieser Neugier. Stassin verdiente mit seiner Fechtschule ein Heidengeld. Jetzt leistete er sich ein Reitpferd und gab seiner Tochter Reitstunden. Übrigens ritt er auch für seine adeligen Schüler junge Pferde zu. So begegnete man ihm in der Umgegend der Stadt oft, hoch zu Roß, seine Tochter an der Seite. Ich bin den beiden oft in den Weg gekommen, wenn ich von meinen Krankenbesuchen heimkehrte.
Haute-Claire war für das Reitkostüm wie geschaffen. Dabei bekam man ihren Wuchs zu sehen, niemals aber ihr Gesicht, das immer ein dichter dunkelblauer Schleier verbarg. Tatsächlich kannten kaum die Männer der Stadt das junge Mädchen von Angesicht. Den ganzen Tag über hatte sie im Fechtsaal zu tun, das Florett in der Hand und die Fechtmaske vor dem Gesicht, die sie selten abnahm. Ihr Vater war mit der Zeit ein wenig steif geworden, und so vertrat sie ihn oft in den Stunden! Zum Ausgehen hatte sie selten Zeit. Aber wenn sie auf die Straße ging oder auch sonntags in die Messe, trug sie einen undurchdringlichen Schleier, einen aus schwarzer Spitze, der ihr Antlitz vollständig verhüllte. War dies ein selbstgefälliges Versteckspiel, um neugierige Seelen zu ärgern? Möglicherweise. Wer konnte das sagen? Schließlich war ihr Wesen – wie Sie noch sehen werden – bei weitem unergründlicher als ihr Gesicht hinter der Maske.
Ich überspringe tausend Einzelheiten, um zu der Zeit zu gelangen, wo meine eigentliche Geschichte beginnt.
Haute-Claire war ungefähr siebzehn Jahre. Der ehedem so unverwüstliche Fechtmeister war stark gealtert, seine Frau gestorben. Die Julirevolution hatte sein Geschäft schwer geschädigt. Sein Fechtsaal war vereinsamt, denn der Adel hatte sich trauernd auf seine Schlösser zurückgezogen. Den Alten plagte die Gicht, wenn er es sich auch nicht anmerken lassen wollte. Für mich, den Arzt, war es klar, daß Stassins Tage gezählt waren. Da führten ihm eines Tages zwei seiner Schüler einen jungen Standesgenossen zu, der im Ausland erzogen und erst neuerdings heimgekehrt war, um nach dem Ableben seines Vaters den väterlichen Besitz zu verwalten. Es war der Graf Serlon von Savigny, der ›Zukünftige‹ – wie man in V*** sagt – einer jungen Dame der Gegend, der Delphine von Cantor. Der Graf gehörte unbedingt zu den glänzendsten und schneidigsten jungen Männern von damals, die allesamt Mumm in den Knochen hatten. Ja damals, da gab es noch eine wirkliche Jugend, damals in der guten alten Zeit.
Man hatte dem Grafen viel von der berühmten Haute-Claire Stassin vorgeschwatzt. Sie sei das Wunder eines jungen Mädchens, rassig, verwegen und verteufelt verlockend in ihrem Seidentrikot und ihrem engen schwarzen Ledermieder, eine Gestalt wie die Pallas von Velletri, nur sehr ernst. Savigny sah ihr zu, wie sie ihre Stunde gab. Dann bat er sie, die Klinge mit ihm zu kreuzen. Das Waffenglück lächelte ihm nicht. Haute-Claire bog ihre Waffe ein paarmal auf der Brust des schönen Serlon, während kein einziger Stoß sie berührte.
›Sie sind unnahbar!‹ meinte er galant. War das doppelsinnig? War die Sinnlichkeit stärker in ihm als seine Eigenliebe? Tatsache aber war es, daß Savigny fortan Tag um Tag eine Fechtstunde auf Stassins Paukboden nahm. Kein Mensch fand das auffällig. Er kam regelmäßig von seinem nur ein paar Wegestunden entfernten Schloß, zu Pferd oder im leichten Wagen, ohne daß sich in dem alten Klatschnest auch nur eine Zunge gerührt hätte. Die Liebhaberei für die Fechtkunst erklärte alles. Savigny war verschlossen. Übrigens wußte er es so einzurichten, daß er stets allein Unterricht hatte. Er war ein gerissener Junge. Was zwischen ihm und Haute-Claire vorging, wenn überhaupt etwas vorging, das wußte oder ahnte keiner. Seine Heirat mit Delphine von Cantor war seit Jahren eine abgemachte Sache zwischen den beiden Familien. Sie sollte in einem Vierteljahr stattfinden. Die letzten vier Wochen verbrachte Savigny gänzlich in V***. Er widmete sich tagsüber seiner Braut; abends ging er regelmäßig in seine Fechtstunde. Das Brautpaar ward in der Kirche aufgeboten. Haute-Claire hörte, wie die Namen verlesen wurden, aber weder Gesicht noch Haltung von ihr verrieten irgendwelche Teilnahme an diesem Aufgebot. Allerdings dachte keiner daran, sie zu beobachten. Noch fiel es niemandem im Traum ein, eine Liebschaft zwischen Savigny und der schönen Haute- Claire zu wittern. Nach der Trauung zog sich das gräfliche Paar nach Schloß Savigny zurück. Die Gräfin richtete sich in aller Ruhe ein, und Savigny erschien nach wie vor in der Stadt und auf dem Fechtboden. Übrigens machten es seine Standesgenossen im Umkreis alle so.
Die Zeit floß dahin. Stassin starb. Die Fechtschule war eine Zeitlang geschlossen. Dann öffnete sich ihre Pforte wieder. Fräulein Haute- Claire Stassin machte bekannt, daß sie die Schule ihres Vaters weiterführte. Bald hatte sie mehr Schüler denn je. Die Männer sind immer und überall die gleichen. Am eigenen Geschlecht mißfällt ihnen das Außergewöhnliche; das verletzt sie. Steckt es indes in einem Weiberrock, so sind sie toll dahinterher. In Frankreich besonders. Wenn dort eine Frau einen männlichen Beruf ausübt, und wäre er noch so elendlich, so wird sie ohne weiteres dem Mann vorgezogen. Bei Haute-Claire kam dazu, daß sie ihre Sache zehnmal besser verstand als ein Mann. Sie war eine unvergleichliche Lehrmeisterin. In ihrer Kunst war ihr nicht beizukommen. Aber auch ohne ihre besonders an einer Frau wunderbare Befähigung, die ihr ein vornehmes Leben ermöglichte, war sie ein fesselndes Geschöpf. Ihr Beruf erheischte es, daß sie täglich mit den reichsten jungen Leuten verkehrte, unter denen sich mancher Schwerenöter und Tunichtgut befand. Trotzdem blieb ihr Ruf ohne Tadel. Man konnte ihr nichts nachsagen. ›Sie ist eine anständige Person‹, sagten die Damen von ihr. Auch ich war in der Hinsicht auf Haute-Claires Tugend derselben Meinung wie die ganze Stadt. Und ich bilde mir doch etwas auf meine Beobachtungsgabe ein. Ich kam hin und wieder in ihren Fechtsaal, und immer fand ich da ein junges Mädchen, das in ernster und natürlicher Art seine Stunden gab. Sie verstand aufzutreten. Jedermann hatte Respekt vor ihr. Sie war zu keinem vertraulich oder nachlässig. Ihr Gesichtsausdruck war sehr stolz, aber noch ohne jene Glückseligkeit, die Sie vorhin so ergriffen hat. In ihren Zügen lag nichts von Kummer oder Zerstreutheit oder sonstwas, woraus man auch nur im geringsten auf das unerwartete Ereignis hätte schließen können, das wie ein Blitzstrahl die kleine Stadt in Brand setzte. Eines Tages war Fräulein Haute-Claire Stassin spurlos verschwunden.
Wohin war sie? Warum war sie weg? Keiner wußte es. Fort war sie. Das war sicher. Erst ein Schrei des Entsetzens. Dann ein Stillschweigen. Und dann brach es los. Die Zungen, die lange zurückgehaltenen, kamen nicht wieder zur Ruhe, wie das Wasser, das wütend über ein Mühlrad schäumt, sobald die Schützen geöffnet sind. War das ein Tuscheln und Schwatzen! Denn Haute-Claire war verschwunden, ohne ein Wort der Andeutung vorher oder der Erklärung hinterher. Spurlos. Wie man sich eben entfernt, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes verschwinden will. Wer etwas, und sei es das geringfügigste Nichts, hinterläßt, woran die lieben Nächsten sich Aufschluß suchend klammern können, der verschwindet nicht richtig. Haute-Claire aber war es völlig. Sie hatte sich nicht etwa sozusagen heimlich aus dem Staube gemacht; denn sie hinterließ ebensowenig Schulden wie sonstwas. Aber sie wirbelte Staub auf mit ihrer unfaßlichen, ungeahnten Tat. Die Zungen rasteten nicht. Man hatte keinen Anhalt. Man suchte und ward immer gehässiger. Haute-Claires Ruf ward arg zerzaust. Sie, die Unnahbare und Tadellose, mit wem war sie durchgegangen? Wer hatte sie entführt? Denn das war klar, daß sie jemandem zuliebe auf- und davongegangen war. Niemand gab Antwort. Die Kleinstädter verloren vor Wut den Verstand, und gründlich. Die guten Leute hatten auch allen Grund, aufgebracht zu sein. Man hatte geglaubt, Haute- Claire zu kennen. Nun stellte es sich heraus, daß man keine Ahnung von ihr gehabt hatte; denn das hatte ihr doch niemand zugetraut, so zu verschwinden. Man hatte gemeint, sie werde eines Tages heiraten oder eine alte Jungfer werden, wie andere auch. Und schließlich verlor man mit ›dieser Stassin‹, wie man sich nur noch ausdrückte, einen weit und breit berühmten Fechtsaal, eine Zierde und Ehre der Stadt. Solch ein Verlust war schwer zu verschmerzen. Man hatte somit genug Grund, das Andenken dieser untadeligen Haute-Claire mit den gemeinsten Verdächtigungen zu besudeln. Man tat sich dabei keinerlei Zwang an. Außer ein paar alten hochvornehmen Herren, darunter ihr gräflicher Pate, die Haute-Claire hatten heranwachsen sehen und die sich grundsätzlich nicht aufregten, verteidigte niemand die Entschwundene, fand es niemand ganz natürlich, daß sie gewiß eine bessere Versorgung vorgezogen hatte. Mit ihrem Streich hatte sie die ganze Stadt in ihrer Eitelkeit gekränkt. Am meisten grollten ihr die jungen Leute. Sie erbosten sich vor allem gegen sie, sintemal sie mit keinem von ihnen durchgegangen war. Lange war dies ihr größtes Leid, ihr größter Kummer. Wer war der Glückliche, dem sie gefolgt war? Viele verbrachten regelmäßig den Winter in Paris. Der und jener wollte sie dort gesehen haben, im Theater, in den Champs-Elysees, zu Pferde, in Gesellschaft oder allein. Sie waren indes ihrer Sache nicht ganz sicher; beschwören konnte es keiner. Vielleicht war sie es gewesen, vielleicht aber auch nicht. Man beschäftigte sich unausgesetzt mit ihr. Sie war unvergeßlich.Wie hatte man sie einst bewundert! Wer das Florett liebte, der trauerte. Die große Meisterin, die Sonne, war entschwunden. Nach ihrem Verlöschen versank V*** in den Stumpfsinn und die Eintönigkeit aller Kleinstädte, die keinen lebendigen Mittelpunkt haben, wo Liebhabereien und Neigungen zusammenlaufen.
Die Waffenliebe schlief ein. Die bisher durch ihre kriegerische Jugend so lebhafte Stadt wurde öde. Die jungen Leute griffen zum Gewehr. Sie wurden Jäger und blieben auf ihrem Grund und Boden. Savigny genauso wie die anderen. Er kam immer seltener in die Stadt, höchstens in die Familie seiner Frau, deren Arzt ich war. Ich argwöhnte damals nicht im geringsten, daß irgendein Zusammenhang zwischen ihm und Haute-Claires plötzlichem Verschwinden bestehen könnte. Allmählich schwieg man über den Fall. Ich hatte also keine Veranlassung, die Sache vor Savigny zu erwähnen. Er sagte auch nie ein Wort, weder über Haute-Claire noch über jene Zeit, wo wir einander im Fechtsaal begegnet waren.«
»Aha!« unterbrach ich den Doktor. »Da liegt der Hase im Pfeffer! Savigny hatte sie entführt!«
»Bewahre! So einfach war die Sache denn doch nicht! Aber Sie können nicht darauf kommen. Erstens ist in der Provinz eine geheime Entführung äußerst schwierig. Und dann war der Graf seit einer Verheiratung aus seinem Bau gar nicht herausgekommen.
Alle Welt wußte, daß das gräfliche Paar in vertrautem Beieinander in endlosen Flitterwochen lebte. In einer kleinen Stadt weiß und kennt man bekanntlich alles. Savigny galt als das Muster eines Ehemannes. Ich hätte die fromme Sage vielleicht selber bis an mein Lebensende geglaubt, wenn ich nicht – es war ungefähr ein Jahr nach Haute-Claires Verschwinden – dringlichst nach dem Schloß gerufen worden wäre, weil die Gräfin krank sei. Ich ritt spornstreichs hin und ward sofort zu ihr geführt. Ich fand sie tatsächlich sehr leidend, in einem schwer bestimmbaren, vieldeutigen Zustand, der tausendmal schlimmer ist als eine ausgesprochene Krankheit. Sie gehörte zu jenen kraftlosen, eleganten, vornehmen, hochmütigen Frauen aus altem Geschlecht, die in ihrer Blässe und Magerkeit einem gleichsam sagen: ›Die Zeit hat mich überwunden wie alle meinesgleichen. Ich sterbe, aber ich verachte euch alle miteinander!‹
Ich bin gewiß bis in die Knochen ein Kind des Volkes, und es widersprach meiner Weltanschauung, aber der Teufel soll mich holen, ich fand das erhaben! Die Gräfin lag auf einem Ruhebett. Es stand in einem Empfangszimmer mit schwarzem Balkenwerk und weißen Wänden. Der Raum war weit und hoch, und man blickte auf allerhand Antiken, die dem Kunstsinn derer von Savigny zu hoher Ehre gereichen. Eine einzige Lampe erleuchtete das große Gemach. Ein grüner Schirm machte ihren Schein doppelt geheimnisvoll. Er fiel in das Gesicht der Gräfin und auf dessen fieberrote Flecken. Ihr war bereits seit einigen Tagen nicht wohl; und Savigny hatte neben dem Lager seiner geliebten Gattin ein Bett für sich aufschlagen lassen. Als indes das Fieber aller Sorgfalt zum Trotz beharrlich stieg, da hatte er schließlich nach mir geschickt. Er stand da, mit dem Rücken an den Kamin gelehnt, bekümmert und unruhig, so daß ich annehmen mußte, er liebe seine Frau zärtlich und glaube sie in Gefahr. Indes galt die Besorgnis, die seine Stirn umdüsterte, nicht seiner Frau, sondern einer, die ich unmöglich im Schloß Savigny vermutete, deren Anblick mich deshalb beinahe zur Bildsäule erstarren ließ, der Haute-Claire Stassin.«
»Donnerwetter, das ist toll!«
»So toll, daß ich glaubte, ich sei im Traum. Die Gräfin hatte vor meiner Ankunft ihre Kammerfrau beordert, ihr eine Arznei zu bringen. Jetzt bat sie ihren Mann, der Dienerin zu klingeln. Die Tür ging auf.
›Eulalia, meine Arznei?‹ fragte die Gräfin kurz und ungeduldig.
›Hier, Frau Gräfin‹, sagte eine mir bekannte Stimme. Und im nämlichen Augenblick trat aus dem Dunkel des Gemaches in den Lichtkreis der Lampe Haute-Claire Stassin, wirklich und leibhaftig. Sie hielt in ihren schönen Händen ein silbernes Brettchen mit einer Schale voll dampfender Arznei. Der Anblick benahm mir beinahe den Atem. Eulalia! Zum Glück sagte mir dieser gelassen ausgesprochene Name alles. Ich hatte sofort meine Kaltblütigkeit wieder und meine Zurückhaltung als Arzt und Beobachter. Aus Haute-Claire war also Eulalia geworden, die Zofe der Gräfin von Savigny! Ihre Verkleidung, soweit ein solches Wesen sich verkleiden kann, war tadellos. Sie ging in der Tracht, wie sie die Hausmädchen in V*** tragen; sie trug eine turbanartige Haube und an den Wangen herunterhängende Korkzieherlocken. Die Pfaffen von dazumal nannten diese Art Locken ›Schlangen‹, um dem jungen Volk Abscheu davor einzuflößen, was ihnen indes durchaus mißlang. Haute- Claires Schönheit war hinter so viel Demut gebannt, und ihre Überlegenheit verbarg sich derart in ihrem niedergeschlagenen Blick, daß ich mir sagte: Was bringen die Weiber mit ihren Schlangenleibern nicht alles fertig, wenn sie der Teufel dazu treibt! Im übrigen war ich sofort wieder Herr meiner selbst. Nur wollte ich dem kühnen Geschöpf zu verstehen geben, daß ich sie erkannt hatte. Während die Kranke langsam ihre Arznei aus der Schale schlürfte, richtete ich meine Augen fest auf Haute-Claire, als wollte ich die ihren durchbohren, die an diesem Abend sanft wie Rehaugen blickten. Sie hielt besser stand als vorhin die Pantherin. Sie zuckten nicht. Nur an ihren Händen bemerkte ich ein kaum merkliches Beben.



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